Staatsbesuch in Chile – ein Reisetagebuch, Teil 4

Nach einer kurzen Nacht, in der – so denke ich jedenfalls – nicht nur mich die Erlebnisse in der ehemaligen „Colonia Dignidad“ nicht losließen, begann auch unser letzter Reisetag mit einem sehr schweren Termin. Wir besuchten gemeinsam das Museo de la Memoria y los Derechos Humanos (zu Deutsch: Museum der Erinnerung und der Menschenrechte) in Santiago de Chile. Dieses Museum ist ganz all jenen Menschen gewidmet, die Opfer der Pinochet-Diktatur wurden. Besonders die Erinnerung an diejenigen, die während der Jahre der Gewaltherrschaft spurlos verschwanden – wie in der „Colonia Dignidad“ verscharrt oder einfach totgeprügelt ins Meer geworfen – zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Ausstellung.

Die Museumskuratorin, selbst während der Pinochet-Zeit Opfer politischer Verfolgung und Folter, berichtete mir, das Konzept des Museums orientiere sich sehr stark an deutschen Gedenkstätten-Modellen, indem es nicht etwa die Täter allein in den Mittelpunkt des Geschehens rücke, sondern ganz gezielt die Opfer, ihr individuelles Leid und ihre Qualen.

Das Museum selbst liegt im Herzen der Hauptstadt, architektonisch auffällig und weithin sichtbar, wirkt es wie ein Sperrriegel der Erinnerung, an dem das schnelle und laute Leben der Hauptstadt Chiles nicht einfach vorbeikommt, sondern auf sich selbst zurückgeworfen, zum Anhalten gebracht, wird.

Die Kuratorin lud uns ein, eine lange Treppe ins Zentrum des Gebäudes hinabzusteigen. Sie symbolisiert eindrücklich den Weg der Opfer hinab in die Folterkeller, die es in allen Städten und Dörfern Chiles gegeben hat.

Zunächst gelangten wir in einen großen fensterlosen Raum. Hinter uns schloss sich die Tür und mittels einer verspiegelten Installation sahen wir vor uns plötzlich unendliche Reihen von Köpfen auftauchen – alles Gesichter von Menschen, die während der Diktatur spurlos verschwanden. Mit einem Mal erlosch das Licht und wir hörten in der Dunkelheit nur das leise Rauschen des Meeres. Auch dieses – so wurde uns erklärt – sei als Symbolbild für das Erleben der Opfer zu verstehen, die zum Teil wochenlang in dunklen Kellern eingesperrt wurden, nur das Rauschen des Meeres hörend und immer wieder den Gedanken aufsteigen spürend, möglicherweise ermordet und im Meer „beseitigt“ zu werden.

Nachdem sich die Türen wieder öffneten, gelangten wir schließlich über den Ausstellungsabschnitt an den zentralen Gedenkort des Museums. Aus hunderten und tausenden Köpfen Verschwundener wird dort eine Landkarte des riesigen Chile nachgebildet. An manchen Stellen klaffen weiße Lücken – Stellen, an denen zwar der Name der Opfer, nicht aber ihr Gesicht bekannt ist.

Im Anschluss an den Rundgang hatte ich die Chance, mit Vertretern aller Opferverbände intensiver ins Gespräch zu kommen. Ich empfand es als große Ehre, von ihnen allen empfangen zu werden. Gleichzeitig zeigte mir dieser Austausch, wie wichtig ein weiterer ehrlicher und intensivierter Dialog zwischen Deutschland, Chile und den Opferverbänden ist. So berichteten mir beispielsweise mehrere Opfer von ihrem Unverständnis darüber, dass der deutsche Arzt der „Colonia“, Hartmut Hopp, als deutscher Staatsbürger nicht ausgeliefert werde, obwohl er in Chile bereits rechtskräftig wegen schwerer Gewalt- und Straftaten verurteilt wurde. Dieser Umstand müsse schon sehr erstaunen und nähre bei nicht wenigen den Eindruck, Deutschland wolle die Täter schützen.

Für mich ist klar, dass sowohl die deutsche als auch die chilenische Seite gemeinsam mit der deutsch-chilenischen Historikerkommission ihre Anstrengungen noch einmal intensivieren müssen, um die Gedenkstätte jetzt auf einen guten Weg zu bringen. Das ist die berechtigte Erwartung nicht nur der Opferverbände.

Bereits in der Ausstellung wurde auf unterschiedlichen Ebenen die Rolle der Kirchen in der chilenischen Gesellschaft während der Pinochet-Diktatur thematisiert. Inspiriert durch befreiungstheologische Einflüsse versuchten viele Geistliche katholischen und protestantischen Glaubens den Chilenen beizuspringen.

Wie tief diese Wurzeln des Glaubens bis heute reichen, konnten wir im Anschluss bei einer Nonne, Schwester Karoline, erleben. Diese 79jährige Frau, die man nur als einen Taifun an Fleiß und Fröhlichkeit beschreiben kann, hat über Jahrzehnte im Armenviertel Santiagos ein ganzes Ensemble an Hilfs-, Gesundheits- und Bildungseinrichtungen aufgebaut, um den Armen zu helfen. Neben einem Krankenhaus existieren in ihrem Aufgabenbereich mittlerweile auch Kindergärten und andere Orte, an denen Menschen geholfen wird. Ihr aktuelles Projekt: 1.200 Jugendlichen und jungen Erwachsenen eine Berufsausbildung auf Grundlage deutscher Konzepte angedeihen zu lassen. Als wir mit ihr durch die Straßen gingen, konnte man live miterleben, mit welcher Hochachtung sie von nahezu jedem Menschen, dem wir begegneten, begrüßt wurde. Schwester Karoline ist in meinen Augen ein eindrucksvoller Beleg dafür, wie Glaube Berge versetzen kann. Als kleines Andenken an unsere wunderbare Begegnung überreichte ich ihr eine Figur der Heiligen Elisabeth, die sie freudestrahlend annahm.

Von Schwester Karoline aus machten wir uns anschließend auf  den Weg zum Zentralfriedhof, um am Grab Salvador Allendes seiner zu gedenken. Allende als frei gewählter, sozialistischer Präsident wollte Chiles Demokratie neue Impulse hin zu einer offeneren und vor allem sozioökonomisch gerechteren Gesellschaft geben. Seine Ermordung und die sich anschließende Pinochet-Diktatur ließen alle diese Pläne Makulatur werden. Auch hier muss sich die Bundesrepublik kritische Fragen zu ihrer eigenen Geschichte stellen. Ähnlich wie im Falle der „Colonia Dignidad“ führte der massive Antikommunismus seitens der Bundesregierung auch hier mindestens zu systematischem Wegschauen, wenn nicht in manchen Fällen auch zu enger Kooperation mit der Pinochet-Diktatur.

Die letzten Termine unserer Delegationsreise führten uns zu diversen NGO’s, die sich insbesondere mit dem für Chile drängenden Problem der Wassernutzung im Bergbau auseinandersetzen. In Chile existiert – für Deutschland undenkbar – bislang keine gemeinwirtschaftliche Struktur – bspw. über Zweckverbände – um allen Menschen gerechten Zugang zum Lebensmittel Wasser zu verschaffen. Viel eher wird die Wasserverteilung privatwirtschaftlich abgewickelt, Wasser also zur reinen Handelsware degradiert – mit zum Teil fatalen Folgen für diejenigen meist indigenen Communities, deren Lebens- und Versorgungsmittelpunkt durch den Bau immer neuer Mega-Bergwerke sukzessive zerstört wird und somit auch Wasserquellen, die zum Bergbau benötigt werden, versiegen ohne dass es Alternativen gäbe. Hier haben alle Akteure sicher noch einen weiten Weg zu gehen. Ich bin allerdings froh, dass auch unsere Wirtschaftsvertreter mich bei diesem Termin begleitet und genau zugehört haben. Denn alle diese Probleme muss man als potenzieller Investor mit einkalkulieren, um nicht bestehende Ungerechtigkeiten durch eigenes Handeln noch zu perpetuieren.

Als wir schließlich am Samstagabend in unserem Flugzeug nach Deutschland Platz genommen hatten, resümierten wir gemeinsam die Reise und ich kann schon jetzt verraten, dass sich für alle Beteiligten – in Chile wie in Thüringen und Deutschland – neue Anknüpfungspunkte für zukünftige Kooperationen ergeben haben, die wir nunmehr politisch, aber auch seitens der Wirtschaft weiterverfolgen werden.