Staatsbesuch in Chile – ein Reisetagebuch, Teil 3

Am Donnerstag und Freitag erlebte unsere Chile-Delegation auf dem letzten Drittel der Reise zwei Tage, die widersprüchlicher nicht sein könnten.

Zunächst hatten wir viele Gespräche in Santiago de Chile über die großen Fragen der Zukunft zu führen, die Deutschland und Chile gleichermaßen betreffen. In diesen Tagen – ich erwähnte es bereits an anderer Stelle meines Reiseberichtes – ist hier freilich auch die Frage nach einer nachhaltigen, bezahlbaren und vor allem gerechten Verteilung und Produktion von Energie vorrangig. Zusammen mit Chiles Energieminister Diego Gonzalo Pardow Lorenzo betrachteten wir diese Themen aus geteilt deutsch-chilenischer Perspektive.

Insbesondere mit Blick auf die Gewinnung bestimmter Ressourcen, aber auch die verantwortungsvolle Nutzung des besonders in Chile knappen Gutes Trinkwasser ist hier viel Kooperationspotenzial vorhanden.

Wer sich intensiver mit lateinamerikanischen Ländern befasst, wird schnell feststellen, dass die Art und Weise der Ressourcenentnahme – beispielsweise im Bergbau – zum Teil erheblich negative Konsequenzen für die Bewohner bestimmter Regionen zeitigt, in denen Lithium etc. abgebaut wird. Deshalb erörterten wir verschiedene Varianten eines schonenden Umgangs mit diesen Zukunftsfragen, die ja in letzter Instanz nicht nur Folgen vor Ort, sondern für den gesamten Globus haben. Gleichzeitig zeigten uns die chilenischen Partner eindrucksvoll noch einmal auf, welche immensen Potenziale im Bereich der Gewinnung von grünem Wasserstoff durch Wind und Sonne in Chile schlummern oder bereits genutzt werden. Hier müssen wir gemeinsam ansetzen, denn die dringend notwendige Dekarbonisierung unserer Industrie und unserer Energieproduktion kennt keine Grenze, sondern erfordert im Gegenteil globale Zusammenarbeit, wo immer es möglich ist.

Eine zweite besonders spannende Konversation ergab sich eher zufällig. Eigentlich war ein Zusammentreffen mit Chiles Wirtschaftsminister, Herrn Grau, aus Termingründen nicht möglich. Nachdem wir uns allerdings kurz zuvor dank der Vermittlung des Senators Kuschel im Senat in Valparaiso kurz sprechen konnten (ich berichtete in Teil 2 meines Reisetagebuches), änderte er kurzerhand seinen Terminkalender, sodass wir am Donnerstag ein längeres Gespräch – zuerst mit ihm und dann mit der Arbeitsebene seines Ministeriums – führen konnten. Unter anderem diskutierten wir die Potenziale und Kooperationsmöglichkeiten im Kontext des dualen Ausbildungssystems, mit dem wir in Deutschland ein Alleinstellungsmerkmal vorweisen können, das von anderen Ländern – so auch von Chile – gern implementiert werden würde.

Der Tag endete schließlich mit einem gemeinsamen Abendessen der gesamten Delegation.

Am frühen Freitagmorgen starteten wir schließlich zum schwierigsten Teil unserer Reise – dem Besuch in der ehemaligen „Colonia Dignidad“, dem heutigen „Villa Baviera“. Auf diesem riesigen Territorium in Zentralchile lebten seit Beginn der 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts deutsche Siedler unter ihrem Anführer Paul Schäfer. Schäfer, der bereits im Deutschland wegen pädophil motivierter Straftaten gesucht wurde, baute hier ein einzigartiges Terrorsystem auf, das mit dem Wissen und der stillschweigenden Hinnahme der Bundesrepublik Deutschland, eng mit dem Pinochet-Regime kooperierte. Auf dem Gelände der Colonia wurden politische Gegner der Diktatur eingesperrt, gefoltert und viel zu oft auch ermordet. Der privilegierte Status, den die „Colonia“ als angeblich mildtätige Organisation genoss, ermöglichte unter anderem auch die Umgehung von Waffenembargos und den Rauschgiftschmuggel über Schäfers Kanäle.

Ich selbst erinnere mich noch, wie ich bereits in den frühen 1980er-Jahren von der Sekte rund um Schäfer hörte und schon damals existierte der Verdacht, dass Schäfer in der Abgeschiedenheit seiner „Colonia“ sexuellen Missbrauch in unaussprechlichem Maß praktizierte und das Pinochet-Regime stützte. Es kann nur wütend machen, wenn man bedenkt, wieviel Zeit seitdem vergangen ist und wie lange es dauerte, bis das System Schäfer endlich beendet wurde.

Auf dem Weg trafen wir auf chilenische Opfer sowie Opfervertreter, aber auch auf Menschen, deren Angehörige in der „Colonia“ verschwunden sind. Sie begleiteten uns den ganzen Tag.

Als wir auf das Areal einbogen, bot sich uns eine unfassbar widersprüchliche Szenerie. Die gesamte Gestaltung der Siedlung erweckt den Eindruck, als sei man hier – viele Tausend Kilometer von Deutschland entfernt – gerade in einem Dorf im Allgäu angekommen. Dass Folter, Mord und ein Schrecken, der ungezählte Menschenleben zerstört hat, hier zuhause gewesen sein sollen, erscheint so unglaublich, dass sich die eigene Wahrnehmung diesen Gedanken erst einmal anverwandeln muss. Und doch ist es so.

Stellvertretend für diesen Schrecken steht der sogenannte „Kartoffelkeller“, ein Kellerverlies, in dem verschleppte Menschen mit dicken Stromkabeln verprügelt und gefoltert wurden – oft so massiv, dass sie schließlich starben. Sie wurden auf dem Gelände der „Colonia“ verscharrt, später jedoch auf Pinochets Befehl hin exhumiert, mit Petroleum übergossen und angezündet. Man wollte die Spuren des Grauens beseitigen.

Auf dem Rundgang durch die Siedlung trafen wir nicht nur Menschen, die bis heute hier leben, sondern auch viele, die flüchteten, die so nachhaltig von dem Erlebten traumatisiert sind, dass sie den Geruch dieses Ortes kaum ertragen können. Unter anderem waren an diesem Tag auch chilenische Betroffene vor Ort, die ihren Eltern geraubt und in die „Colonia“ verschleppt wurden. Viele von ihnen wurden Opfer von sexuellem Missbrauch durch Schäfer. Sie berichteten, dass sie all die Verbrechen, die in der „Colonia“ geschahen – der Missbrauch, das Aufwachsen ohne Eltern, die Unterdrückung jeder Individualität – für das ganz „normale“ Leben hielten. Sie hatten keinen Vergleichsmaßstab. Sie kannten nur das, was in der „Colonia“ mit ihnen geschah.

Schließlich saßen wir mit all diesen unterschiedlichen Opfergruppen an einem „Runden Tisch“ zusammen. Diese Gespräche zeigten noch einmal eindrücklich die Komplexität vor Ort. Neben den Gefolterten, Ermordeten und Missbrauchten gab es auch diejenigen, die zunächst Opfer waren, später aber Täter wurden und so das System Schäfer am Laufen hielten. Eines vereinte diese Menschen aber alle – das Leid, das sie alle erlebten, wird sie ihr ganzes Leben nicht mehr loslassen.

Umso wichtiger und notwendiger ist es deshalb, hier sowohl seitens der Bundesrepublik als auch Chiles alle Kraft aufzuwenden, um einen angemessenen Gedenk- und Erinnerungsort zu schaffen. Die Verantwortung vor dieser geteilten Geschichte, aber vor allem der Respekt vor der Würde der Opfer gebieten das.

Auf deutscher Seite sind zum Mindesten bereits einige Pflöcke eingeschlagen worden. Eine Initiative des Bundestages sowie das deutsche Schuldeingeständnis des damaligen Außenministers Frank-Walter Steinmeier sind wichtige, aber eben nur erste Schritte.

In den Gesprächen vor Ort ging es unter anderem auch um sehr konkrete Probleme. So erbitten diejenigen, die bis heute im „Villa Baviera“ leben, beispielsweise, die chilenische Regierung möge den Denkmalschutz, der aktuell für das gesamte Gelände gilt, auf die historischen Gebäude beschränken, sodass die Bewohner die Möglichkeit hätten, aus historischen Gebäuden auszuziehen und sich neue Häuser zu bauen. Diese und viele Fragen mehr harren weiterhin der Antworten.

Mit dem Besuch in der ehemaligen „Colonia Dignidad“ geht die Chile-Reise nunmehr auch ihrem Ende entgegen. Wir werden am Sonntag wieder nach Deutschland zurückkehren.