USA oder Russland? Der Traum vom großen Frieden

Zurzeit werde ich immer wieder gefragt: „Bist du eigentlich für die USA oder für Russland?“ Meine Antwort auf diese Frage erschöpft sich aber nicht in schwarz oder weiß, da ich sowohl für Russland als auch für die Ukraine bin. Ich bin auch genauso für ein ungeteiltes Georgien und einen ungeteilten Staat Moldau. All dies gilt auch für Armenien, das nicht dauernd um seine Existenz bangen darf. Die USA waren für mich schon immer ein wunderbares Reiseland und für Deutschland sind sie seit jeher ein wichtiger Handelspartner. Auch in Thüringen gibt es viele Firmen mit US-amerikanischen Wurzeln oder solche, die auch aktiv in den USA engagiert sind.

Daher: die alten Gretchenfragen wie: „Bist du für Ost oder für West?“, „Bist du für Kommunismus oder Freiheit?“, „Bist du für die NATO oder den Warschauer Pakt?“ gibt es heute nicht mehr.

Nach dem Zerfall der alten Weltordnung und dem Ende des „Kalten Krieges“ erleben wir die Rückkehr der heißen Kriege in einer Dimension, wie ich sie nach 1989 kaum für möglich hielt. Der alte Slogan der Friedensbewegung (West), den wir im Bonner Hofgarten 1982/1983 riefen gilt: „Nachrüstung – Nach Rüstung kommt Krieg!“

So erleben wir heute Kriege, bei denen offensichtlich das gesamte Material, das sich zwischenzeitlich angesammelt hat, in einer Dimension verbraucht wird, dass davon vor allem die Rüstungsschmieden massiv profitieren, die mit der Waffenproduktion kaum noch hinterherkommen. Obwohl unser Globus eigentlich die gesamte Kapazität menschlichen Denkens und wirtschaftlicher Kraft bräuchte, um sich gegen die Klimakatastrophe zu wappnen, sind wir zunehmend verstrickt in lokale Konflikte, in denen überall der Keim eines Flächenbrandes ruht. Das wunderschöne Land Jemen, von dem ich in den 1970er-Jahren durch einen Freund unglaublich spannende Diavorträge über die Schönheit des Landes habe sehen können, ist mittlerweile in einen dreckigen Krieg verwickelt, über den offensichtlich in den westlichen Ländern in letzter Zeit keiner mehr reden mag. Erst seitdem die Huthi-Rebellen kürzlich begannen, westliche Schiffe anzugreifen, nehmen wir wieder zur Kenntnis, wie nah der Jemen an den sensiblen Ölquellen, den internationalen Handelsrouten und den Transportwegen der fossilen Energie liegt.

Dass der Jemen einmal in Nord und Süd geteilt war und bereits kurz vor der Deutschen Einheit eine Vereinigung ohne Konflikte, dafür aber in Vielfalt zustande brachte, ist heute weithin vergessen. Aus der heutigen Perspektive fast eine undenkbare Erkenntnis, dass in dem gleichen Jemen heute zwei Regionalmächte sich austoben und die lokalen Kräfte des Jemens nur noch Teile eines globalen Schachspiels sind. Darüber schwebt der angeblich religiöse Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten, der sich aber letztlich um die kapitale Vorherrschaft mit Blick auf die Verfügbarkeit von fossiler Energie dreht. Iran, Irak und auch Saudi-Arabien sind hier Player, aber im größeren Kontext auch Russland und die USA.

Bei den vergessenen Kriegen müssen auch der Sudan und Äthiopien genannt werden – überall nichts als Krieg. Bei uns sichtbar ist der Konflikt, der durch den russischen Überfall auf die Ukraine in den alltäglichen militärischen Albtraum geführt hat. Jetzt kommt tatsächlich nach der Rüstungskrieg und der alltägliche Verbrauch zieht immer neue Produktionswettläufe um Rüstungsgüter nach sich. Haben die Russen vor dem Überfall noch von Rheinmetall Material beziehen können und musste man erst im letzten Jahr einräumen, dass bis zum Juni 2022 kriegswichtige  Motorenteile noch nach Russland geliefert wurden, spürt man den moralisch-ethischen Abgrund, an dem hier viele operieren. Im Jahr 2011 bezeichnete Rheinmetall die Lieferung eines Gefechtsübungszentrums zum Ausbilden von Panzerfahrern noch als strategisch wichtiges Projekt, von dem offensichtlich ein Großteil auch tatsächlich geliefert wurde. Hat man also zuerst russlandstrategisch ausgerüstet, so ist man jetzt umso geschäftstüchtiger, um die entsprechenden Rheinmetall-Produkte nun der ukrainischen Seite zu liefern. Der Aktie von Rheinmetall dient es in jedem Fall, eine Friedensdividende ist es  aber ganz bestimmt nicht.

Vortrefflich kann man über das Verhältnis NATO – Russland debattieren und noch vortrefflicher kann man sich wünschen, dass es einen anderen Pfad des Miteinanders gegeben hätte. Fakt bleibt allerdings, dass die Krim, Donezk und Luhansk völkerrechtswidrig annektiert wurden und dass der Überfall Russlands auf die Ukraine der Ausgangspunkt des aktuellen brutalen Krieges in der Ukraine ist. Wer diesen Punkt der NATO-Annäherung an Russland noch einmal näher betrachten möchte und wie es zur strategischen Partnerschaft NATO – Russland kam, kann hier nachlesen: https://de.wikipedia.org/wiki/NATO-Osterweiterung.

Die russische Seite wird sehr gut ausgestattet mit iranischem Material und selbst China und Nordkorea scheinen kräftig mitzumischen, die ukrainische Seite hingegen mit unserem westlichen Know-how und – wie sollte es anders sein – ganz stark natürlich auch mit US-amerikanischer Technologie.

Debattieren wir in Deutschland über die Frage: „Wie hältst du es mit der Lieferung von Waffen?“ wird gerne übersehen, dass es keinerlei Verbot von Waffenlieferungen in Deutschland gibt, sondern lediglich einschränkende Maßnahmen, die an Parlamentsentscheidungen gebunden sind. Nach allem, was ich höre, hat man letztlich zu den jeweiligen Zeiten den jeweiligen Lieferungen (zuletzt nach Saudi-Arabien) die Zusage nie verweigert. Hier bleibt mein Traum, dass wir in der deutschen Verfassung festlegen sollten, dass aus unserem Land aus guten Gründen niemals Waffen irgendwo hin geliefert werden dürften. Dieser strategische Verzicht auf Waffenlieferungen, der an eine Verfassungsregelung gekoppelt sein muss, würde keine Regierung verleiten, über irgendwelche Begründungszusammenhänge nachzudenken, Restriktionen zu überwinden. Letztlich findet sich immer eine Erklärung, warum man dieses oder jenes tun sollte und warum der Sachzwang entsprechend pressierend veranschlagt wird. Eine solche Festlegung in der Verfassung setzt eine Entscheidung des Staatsvolks voraus. Hierüber würde ich mir eine Volksabstimmung wünschen, die dann auch deutschlandweit stattfindet – eine Volksabstimmung, mit der wir die Fundamente unserer Politik festlegen. Das wäre ist kein Akt gegen das Parlament oder die Regierung, sondern ein wichtiger Gradmesser für das, was in unserer Gesellschaft als verbindlich gelten kann. Aber wie gesagt: so sieht mein Traum für unsere Zukunft aus. In der Realität bleibt es bei dem Fakt, dass Russland die Ukraine überfallen hat und ein angegriffener Staat sich auch verteidigen können muss.

Schauen wir auf die Gemengelage unserer derzeitigen Diskussionen in Deutschland habe ich das Gefühl, man würde regelrecht gezwungen, sich zu entscheiden, ob man für die USA oder für Russland sei. Meine Grundüberzeugung ist hingegen, dass Russland genauso zu Europa gehört wie die Ukraine. Europa muss von Portugal bis zum Ural gedacht werden. Ich möchte mich nicht entscheiden für oder gegen Russland oder die USA, ich möchte mich entscheiden für ein Europa freier Nationen, die durch ein friedliches Netz verbunden sind und in denen regionale Identität nicht verwechselt wird mit Nationalismus und Chauvinismus. Gegen Militarismus hilft eine Politik der Abrüstung und einer wirksamen Vertragsgemeinschaft. So entstünde ein freies und selbstbewusstes Europa, das gleichzeitig ein großes Friedensprojekt wäre.

Ich weiß nicht: warum hätte man das Kosovo mit seiner eigenständigen Sprache und seiner eigenen Religion nicht trotzdem in einem Föderalstaat mit Serbien denken können. Gleiches gilt auch für andere Regionen wie beispielsweise Katalonien.

Ich lese gerade, wie viel russisches Geld für Propaganda zum Separatismus Kataloniens offensichtlich eingesetzt wurde und lese, dass sogar 10.000 Soldaten oder militärische Kräfte angeboten worden seien, um Katalonien zur Sezession zu bewegen. Die gleichen Fragen betreffen Irland, Belgien, aber auch die Ukraine. Warum sollen Siedlungsgebiete, in denen autochthone-  mehrheitlich russische – Menschen seit Ewigkeiten leben nicht genauso Teil eines ukrainischen Föderalstaats sein, wie Belgien drei autochthone Bevölkerungsgruppen als Staatsvolk hat? Auch Deutschland kennt Sonderregeln des Minderheitenschutzes für Dänen, für Sorben und Friesen, aber auch die Minderheit der Sinti und Roma sind Teil unserer bunten Vielfalt. Es reicht, dass Herr Höcke diese autochthonen Unterschiede in seinem Buch einfach negiert und zu einer deutschen Blutlinie umdefinieren möchte.

Nein, Deutschland und Europa bedeuten Vielfalt und Demokratie. Ich möchte mich entscheiden für regelmäßige Parlamentswahlen mit konkurrierenden Parteien in den jeweiligen Verfassungsstaaten, die möglichst als demokratische Sozialstaaten organisiert sind. Ich möchte mich entscheiden für militärische Kooperationen, die Kriege zwischen Nachbarn verhindern. Ich möchte, dass diese Staaten sich gegenseitig schützen auch vor chauvinistischen und imperialistischen machtlüsternen Diktatoren.

Wenn also Herr Putin demnächst Herrn Erdogan besucht, nehme ich zur Kenntnis, dass in einem NATO-Staat, also einem unserer Partner, der gerade Krieg führt gegen die Kurden in Syrien, ein anderer Kriegführender als Staatsgast eingeladen wird. Damit manövriert sich das nordatlantische Verteidigungsbündnis immer mehr in die Rolle eines stillschweigenden Verteidigers von Völkerrechtsbruch und aggressiver Gewaltpolitik.

Ich weiß oft nicht mehr, welche gemeinsamen Werte wir verteidigen, wenn Herr Erdogan als zweitgrößter Truppensteller des NATO-Verteidigungspaktes seine eigenen – fast schon privaten – Kriege führt. Und ehrlicherweise weiß ich nicht, warum es uns nicht gelingt, gemeinsame europäische Aufgaben auch gemeinsam als Europa zu lösen. Das ist eben nicht nur der Schengen-Raum, das ist nicht nur die alte EU, sondern das ist das, was einst mit dem Abrüstungs- und Entspannungsvertragssystem KSZE begonnen hat.

Ich möchte mich nicht entscheiden, ob ich dem einen Weltpolizisten oder dem anderen, der gerne Weltpolizist sein möchte, anhängen will, sondern ich möchte eine andere Form von Friedensarchitektur. Als eine der wirtschaftsstärksten Nationen in Europa liegt es an uns, dass wir uns nicht zerreißen, wem wir welche Waffen wann geben, sondern dass wir uns vielmehr dafür einsetzen müssen, dass dieses Europa als ein Friedenskontinent zuallererst seine dringlichen Hausaufgaben macht. Bevor wir also auf der ganzen Welt mit Waffen und Truppen unterwegs sind und uns an Partner oder Pseudo-Partner binden, deren Ziele ebenfalls höchst fragwürdig sein dürften, wäre es gut, wenn wir eine europäische Logik entwickeln würden, bei der Rüstung wieder zu einem zentralen Element wird und Partnerschaft als Friedenspartnerschaft auf Augenhöhe und auf Gegenseitigkeit verstanden wird. Europa als Kontinent des Friedens wäre die beste Perspektive nach dem Zerfall der Blockgrenzen.

Ich weiß, dass Wladimir Putin getrieben ist von seiner Geheimdienstlogik und seinem militärischen-industriellen Komplex. Das gilt allerdings auch für die anderen Staaten, die sich gerade aufmachen, jeweils ein größeres Stück der Weltmachtführung zu übernehmen. Natürlich sehe ich die Entwicklung Chinas und Indiens, Brasiliens und der muslimischen Staaten. Ich weiß aber auch, dass die alte Logik des „Kalten Krieges“ nichts mehr austrägt. Das heutige Russland ist eben nicht die Sowjetunion und auch darüber müssen wir unter den LINKEN oder denen, die friedensbewegt unterwegs sind, mehr Klarheit schaffen, denn ich würde von jedem erwarten, dass er Imperialismus und Chauvinismus erkennt und einordnen kann. Gegen diese Machtansprüche, die auf Imperialismus und Chauvinismus basieren, brauchen wir eine zivilisatorische Gegenkraft, die auf Gleichberechtigung von Menschen und der Akzeptanz von Menschenwürde und Menschenrechten basiert.

Die gesamte Wirtschaftskraft, die wir mit der Spirale der Hochrüstung und den ungezügelten Kriegen gerade verbrauchen, ist genauso eine schlimme Vergeudung wie die Menschen, die in diesen Kriegen ihr Leben lassen, seien es die Zivilisten oder die Soldatinnen und Soldaten. Hier wäre das Buch von Bertha von Suttner „Die Waffen nieder“ tatsächlich eine hochaktuelle Lektüre und ein anderes Europa ohne diesen Militarismus wäre möglich. Ich möchte mich deshalb nicht entscheiden zwischen Pfizer oder Sputnik V. Ich möchte mich nicht entscheiden zwischen Hamburger oder Pelmeni. Ich möchte mich nicht entscheiden zwischen Boeing oder Tupolew, zwischen Bourbon oder Wodka, zwischen Peace oder мир. Mir würde es genügen, wenn wir Frieden in all seinen Formen endlich so übersetzen würden und als Leitziel unseres europäischen Handelns voranstellen würden. Ein solches Europa könnte es auch schaffen, eine andere Form von Weltsicherheitsrat auf den Weg zu bringen, denn die jetzige Form schafft es nicht, Konflikte vor dem Beginn des Tötens zu befrieden.

Meine Entscheidung ist nicht Russland oder USA – meine Entscheidung heißt ein friedliches Europa.

Meine Entscheidung heißt nicht Krieg oder Frieden, sondern im Frieden die Ressourcen der Militärausgaben für den Ausstieg aus der fossilen Energiewirtschaft einsetzen, um ein gutes und gesichertes Leben für alle Menschen in Europa zu garantieren.