Staatsbesuch in Chile – ein Reisetagebuch, Teil 2

Chile ist ein großes Land – und zwar im wortwörtlichen Sinne. Auf einer Länge von über 4.200 Kilometern grenzt es an den Pazifik. Zum illustrativen Vergleich – die Distanz von Erfurt nach Jerusalem beträgt knapp 4.000 Kilometer. In Chile hätte man damit noch nicht einmal die Distanz vom nördlichsten zum südlichsten Punkt im Landesinneren abgebildet.
Eine derartige Größe ist für jeden Staat allerdings auch eine nicht geringe infrastrukturelle Herausforderung. Das bedeutet konkret, dass viele Strecken einfach in vertretbarer Zeit nur mit dem Flugzeug bewältigt werden können.

Und so bestiegen wir am Mittwochmorgen mit vielen spannenden Eindrücken im Gepäck und nach einer Menge konstruktiver und partnerschaftlicher Gespräche in Antofagasta das Flugzeug, um uns in Richtung Santiago de Chile aufzumachen. Allein der Flug belegte noch einmal eindrucksvoll die schiere Größe und Vielgestaltigkeit Chiles. Zunächst flogen wir lange über die Atacama-Wüste, die wir erst vor zwei Tagen erkundet hatten. Nach einiger Zeit plötzlich rasanter Szenewechsel. Wir erreichen die große Region Valle Central – eine satte, grüne Landschaft, in der der Weinanbau eine herausragende Rolle für die chilenische Wirtschaft spielt. Soweit das Auge reichte konnten wir neu aufgerebte Weinanlagen bewundern, in denen der moderne chilenische Weißwein angebaut und für den Export in die ganze Welt vorbereitet wird. Es ist wirklich ebenso faszinierend wie kaum fassbar, wie sich innerhalb eines Landes so viele – voneinander deutlich unterscheidbare – Vegetations- und Klimazonen finden können. Das stellt natürlich an die Menschen selbst, aber auch an die Verwaltungen und politischen Verantwortungsträger enorme Ansprüche hinsichtlich der infrastrukturellen, aber auch sozioökonomischen Absicherung ihres Alltagslebens.

Unseren ersten Termin absolvierten wir nach der Landung dann jedoch nicht in Santiago selbst, sondern in der ebenso schönen wie politisch bedeutenden Hafenstadt Valparaiso, in der der chilenische Senat seinen Sitz hat. Begrüßt wurden wir von der Vizepräsidentin des Hauses, da sich der Senatspräsident selbst COVID-bedingt abmelden musste. Also auch am anderen Ende der Welt kann einem das Virus weiterhin einen Strich durch die Rechnung machen.
Ein besonders spannendes und aufschlussreiches Gespräch durfte ich dann mit dem Sprecher der Deutsch-Chilenischen Parlamentariergruppe, dem Senator Carlos Ignacio Kuschel Silva, führen, der mir in bestem Deutsch begeistert berichtete, dass er erst vor kurzem von einer Deutschlandreise, die ihn in die Umgebung von Kassel geführt habe, zurückgekehrt sei. Auf meine Frage, was er denn in Kassel getan habe, antwortete er, dass er dort Familienmitglieder besucht habe und ein Teil seiner Familie vor fünf Generationen nach Chile ausgewandert sei. Chile ist – und das zeigen solche Erlebnisse ganz deutlich – eben auch eine Migrations- und Einwanderungsgesellschaft und Menschen wie Ignacio Kuschel spielen dort als Mittler zwischen unterschiedlichen kulturellen und auch historischen Erfahrungen eine entscheidende Rolle. Es war aufschlussreich, seine Sicht auf das Deutschland des 21. Jahrhunderts geschildert zu bekommen. Als ich ihm schließlich berichtete, dass es im Thüringer Landtag auch lange einen LINKE-Abgeordneten mit Namen Kuschel gegeben habe, war er sofort interessiert, allerdings nicht, ohne darauf hinzuweisen, dass er selbst Rechter und nicht Linker sei. Die politisch-inhaltliche Differenz tat unserem anregenden Gespräch allerdings keinen Abbruch – im Gegenteil haben wir gewissermaßen im Schnelldurchlauf gelernt, unterschiedliche politische Perspektiven miteinander dank eines gleichen Sprachschatzes konstruktiv auszutauschen. Und so war es dann nur folgerichtig, dass Herr Kuschel mir unmittelbar den chilenischen Wirtschaftsminister Nicolas Grau vorstellte, der an diesem Tag ebenfalls zu Gast im Senat war. Die Gespräche zu deutsch-chilenischen Wirtschaftsfragen werde ich im weiteren Verlauf der Reise noch mit Herrn Grau fortsetzen.

Nach einem guten Mittagessen und einer Führung durch das Senatsgebäude gemeinsam mit mehreren Senatoren wird uns die Ehre zuteil, am Anfang der beginnenden Senatssitzung noch einmal separat und herzlich begrüßt zu werden. Die Gastfreundschaft ist in Chile eben so weit und groß wie das Land selbst.

Am Abend führte uns unser Weg zurück nach Santiago – dieses Mal in die deutsche Botschaft, in der Botschafterin Fellner einen Empfang mit vielen hochrangigen Gästen aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Chiles für uns ausgerichtet hatte. Diesen Teil des Programms begannen wir allerdings nicht, ohne noch einmal die gesamte Crew der „Kurt Schuhmacher“, unseres Flugzeugs, mit einem besonders warmen Applaus für ihre wunderbare Arbeit in unserer Mitte zu begrüßen.

Am Rande des Empfangs hatte ich außerdem Gelegenheit, lange mit der ehemaligen Präsidentin der mittlerweile aufgelösten Verfassungsgebenden Versammlung Chiles, Elisa Loncón, zu sprechen. Sie selbst ist als Mapuche Teil der indigenen Community Chiles. Sie erläuterte mir in einem langen Austausch noch einmal ihre Sicht auf die Gründe für das Scheitern des ersten Anlaufes für eine neue Verfassung. Dass es allerdings eine neue Verfassung weiterhin brauche, daran ließ Frau Loncón keinen Zweifel. Gerade aus der Perspektive der Indigenen sei es zwingend notwendig, lange tradierte Diskriminierungs- und Ausschließungsmechanismen zu brechen und sie endlich als integralen Bestandteil einer vielfältigen Gesellschaft anzuerkennen. Das Gespräch mit Frau Loncón hat mich vor allem auch deswegen so bewegt, weil sie in sehr klaren und deutlichen Worten noch einmal vor Augen führte, was eine grenzenlose Profit- und neoliberale Verwertungslogik mit den Lebensgrundlagen ihrer Gemeinschaft anrichte. Für den weiteren Weg hin zu einer wirklich plurinationalen Gesellschaft (ebenso ein spannendes Konzept aus Südamerika) gibt es noch viel zu tun, aber mit so engagierten Menschen wie Frau Loncón ist hier deutlich Licht am Ende des Tunnels zu sehen.