Staatsbesuch in Chile – ein Reisetagebuch
Wie ich bereits an anderer Stelle in meinem Tagebuch beschrieben habe, gehört zu meinen Pflichten während meiner einjährigen Amtszeit als Bundesratspräsident unter anderem auch die Repräsentation des föderalen Systems der Bundesrepublik nach Außen und die Anbahnung von politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen mit anderen Staaten mit Zwei-Kammer-Systemen. Neben mehreren kleinen und mittleren Reisen hat der Bundesratspräsident – meistens zum Ende seiner Amtszeit hin – außerdem eine größere Reise in ein weiter entferntes Land zu absolvieren.
Ich entschied mich in diesem Jahr für Chile – ein Land in Südamerika, das seit März 2022 von einem jungen Präsidenten – Gabriel Boric – regiert wird und sich in einem extrem spannenden politischen und gesellschaftlichen Aushandlungsprozess hin zu einer neuen Verfassung befindet.
Mit einer Delegation, die neben verschiedenen Vertretern der Thüringer Wirtschaft auch Landtagspräsidentin Birgit Pommer, den für Internationales zuständigen Staatssekretär der Staatskanzlei Malte Krückels und Wirtschaftsstaatssekretär Carsten Feller umfasste, sollte unsere Reise am Sonntag, den 09.10.2022 vom Flughafen Leipzig aus starten. Frohen Mutes bestiegen wir am späten Abend das Flugzeug der Flugbereitschaft der Bundeswehr und nach dem Take-Off wähnten wir uns bereits auf direktem Weg in Richtung Südamerika. Wir bemerkten jedoch schnell, dass etwas nicht stimmen konnte, da die Maschine nach dem Start eine Runde um Leipzig kreiste und nicht an Höhe gewann. Schließlich informierte mich der Flugkapitän, dass die Maschine mit einem Vogel kollidiert sei. Die Sicherheitsvorschriften sehen für diesen Fall eine zügige Landung und einen umfassenden Technik-Check vor, um die Unversehrtheit der Maschine und damit die Sicherheit der Passagiere zu gewährleisten. Die Piloten drehten schließlich bei und wir landeten auf dem Stützpunkt der Luftwaffe – dem Flughafen Köln. Ich bin der Besatzung sehr dankbar dafür, dass sie so schnell und umsichtig reagierte und wir zu keiner Zeit Angst oder Sorge haben mussten. Sicherheit geht hier ganz klar vor – zumal dann, wenn man einen 15-Stunden-Flug vor sich hat. Wurde früher oft in den sozialen Medien über die angebliche Unfähigkeit der Flugbereitschaft der Bundeswehr vom Leder gezogen und glaubten auch dieses Mal wieder einige, dieses wiederholen zu müssen, muss ich ganz klar feststellen: das ist unfair und verkennt die großartige Leistung der gesamten Besatzung. Sie hat gehandelt, wie zu handeln war und nachdem wir nach der Landung die beiden großen Blutflecken unterhalb der Cockpit-Scheibe sahen – offensichtlich hatte eine Gans unsere Flugbahn gekreuzt – war allen Beteiligten klar, dass hier gar keine andere Variante denkbar gewesen wäre.
Die Bundeswehr organisierte schnell und umsichtig für alle Delegationsteilnehmer Schlafplätze in einem Kölner Hotel direkt zwischen Domplatte und Rhein, in dem wir die Nacht verbringen konnten. Zufälligerweise handelte es sich bei besagtem Hotel ausgerechnet um das selbe, in dem ich vor genau 32 Jahren während einer Gremiensitzung der zentralen Leitungsinstanzen meiner Gewerkschaft HBV den Auftrag erhielt, als Landesleiter meine Gewerkschaft im neu entstehenden Bundesland Thüringen aufzubauen. Diese spannende Fügung habe ich natürlich an diesem Abend aufmerksam zur Kenntnis genommen und vor dem Schlafen noch lange darüber nachgedacht, was sich in den drei Jahrzehnten die zwischen heute und damals liegen, alles verändert hat – insbesondere auch im Verhältnis zwischen Ost und West.
Am nächsten Tag bekamen wir dann schließlich die gute Nachricht. Die Kollision unserer Maschine mit der Gans hatte zu keinem größeren Schaden geführt, sodass wir mit einiger Verspätung schließlich am Montagnachmittag von Köln aus doch noch in Richtung Chile aufbrechen konnten.
Nach über 15 Stunden Flugzeit landeten wir schließlich reichlich erschöpft in Antofagasta und wurden dort gegen Mitternacht von der deutschen Botschafterin in Chile, Irmgard Maria Fellner, sehr herzlich begrüßt. Aber warum Antofagasta und nicht Santiago de Chile? Ganz einfach. In der Region Antofagasta liegt die bekannte Atacama-Wüste, in die uns am zweiten Tag der Reise mehrere Termine führen sollten. Wir fuhren viele hundert Kilometer in die Wüste hinein, immer wieder vorbei an den alten Salpeter-Abbau-Gebieten und Bergwerken, die einst Chiles Wirtschaft maßgeblich prägten. Wer durch diese trostlose und auf den ersten Blick lebensfeindliche Umgebung fährt, kann kaum glauben, dass er mitten in der Wüste plötzlich auf eines der modernsten Solarkraftwerke der Welt stößt. Hier wird mit Hochdruck an der Energietechnologie der Zukunft gearbeitet. Das konnte ich bei einem längeren Rundgang eindrucksvoll lernen. Chile verfügt nicht nur über massive Potenziale, was die Produktion von Energie und grünem Wasserstoff aus Sonnenlicht angeht, sondern kann gleichzeitig auf Regionen verweisen, in denen starke Winde ebenfalls zur Generierung von Energie genutzt werden können. Alles dies macht das Land in Südamerika zu einem spannenden Partner in Zeiten, in denen wir in Europa mit massiven Problem hinsichtlich unserer Energieversorgung zu kämpfen haben, die unter anderem durch Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine virulenter als je zuvor geworden sind. Am Kraftwerkt konnten wir lokale chilenische Akteure mit unseren Delegationsteilnehmern – u.a. von der TU Ilmenau, der FH Nordhausen oder auch der Ernst-Abbe-Hochschule in Jena – zusammenbringen und Potenziale einer möglichen Kooperation oder Ideentransfers diskutieren. Chile ist in der Lage zehnmal mehr Energie zu produzieren als es selbst braucht. Dass hier ganz neue Varianten einer Energiepartnerschaft denkbar sind, liegt auf der Hand.
Auf der Rückreise wurden wir außerdem mit einem besonders dunklen Kapitel der chilenischen Geschichte konfrontiert als wir die sog. „Weiße Stadt“ passierten. In dieser, bereits in den 1920er-Jahren verlassenen, ehemaligen Siedlung von Salpeterabbau-Arbeitern, hatte die Pinochet-Diktatur Jahrzehnte später ein Lager eingerichtet, in dem es politische Gegner verschwinden ließ. Unser Delegationsteilnehmer Prof. Wagner, Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, klärte uns über diese Zusammenhänge auf. Auch diese problematische Geschichte wird uns auf unserer Reise an anderer Stelle wiederbegegnen.
Zu unserem Programm gehörte außerdem ein großes Treffen mit dem Gouverneur der Region Antofagasta, Ricardo Diaz Cortes, der uns sehr herzlich begrüßte. Wie schnell wir auf unserer Reise verbindende Themen finden konnten, wurde mir hier einmal mehr bewusst. Denn Gouverneur Diaz Cortes interessierte sich sehr für das duale Ausbildungssystem Thüringens und Deutschlands, das weit über unsere Landesgrenzen hinaus hohe Anerkennung genießt. Wie der Gouverneur uns erklärte, werden seiner Region in jedem Jahr zwischen 60 und 80 Millionen Dollar aus dem Lithium-Abbau überantwortet, die er in die Zukunft der Jugend durch eine gute und umfassende Ausbildung investieren will. Hier boten sich ebenfalls konkrete Kooperationsperspektiven an, die sowohl der chilenischen als auch der Thüringer Wirtschaft zu großem Vorteil gereichen könnten – insbesondere, wenn wir uns unseren eigenen Mangel an Fachkräften in ganz unterschiedlichen Berufszweigen vergegenwärtigen.
Wir beschlossen diesen ereignisreichen Tag schließlich mit einem Empfang für die Vertreter der chilenischen und Thüringer Wirtschaft, bei dem unterschiedlichste Formen der aktuellen und zukünftigen Kooperation ausgelotet wurden. Die intensiven Gespräche und interessierten Gesichter sprachen dafür, dass hier ganz konkret an einer gemeinsamen Zukunft in einer durch die Globalisierung immer enger zusammenrückenden Welt gearbeitet wurde.