Unschärfen und Unklarheiten – Zur Rolle des Bundesrates im aktuellen Pandemiegeschehen

Der vergangene Freitag bedeutete eine Zäsur für das Verhältnis von Bund und Bundesländern im Kontext der COVID19-Bekämpfung. Um es einmal sprichwörtlich auszudrücken – der Bund hat den Bundesländern sowohl bei der Pandemieabwehr als auch bei der Bearbeitung des Infektionsschutzgesetzes (IFSG) den Stuhl vor die Tür gestellt. Dazu haben sowohl Kollege Bouffier für Hessen als auch ich für Thüringen am Freitag im Bundesrat ausführlich Stellung genommen.

Dieser gesamte Vorgang ist an und für sich bedauerlich genug. Als nicht minder verwunderlich empfand ich allerdings einige der medialen Zwischentöne, die ich nach der freitäglichen Sitzung des Bundesrates zu hören bekam. So verkündete beispielsweise MDR Aktuell, der Bundesrat habe nach dem Bundestag dem Gesetz ebenfalls „zugestimmt“. Die Tagesschau hingegen formulierte, die Neufassung des IFSG habe nunmehr auch den Bundesrat „passiert“. Beide Meldungen insinuieren – wenn auch mit unterschiedlichem Vokabular – im Kern doch dasselbe: wenn eine Instanz wie der Bundesrat einem Gesetz „zustimmen“ oder es „passieren“ lassen kann, so muss sie im Umkehrschluss natürlich auch das Gegenteil tun können – nämlich die Zustimmung verweigern oder den Gesetzesentwurf anhalten. Beides war im vorliegenden Fall allerdings faktisch unmöglich. Woher rühren dann die begrifflichen Unschärfen und Unklarheiten?
Meiner Meinung nach entstehen diese Ungenauigkeiten in der Debatte vor allem dort, wo die Unterscheidung zwischen den beiden Gesetzestypen, die im Bundesrat behandelt werden – Zustimmungsgesetze zum einen, Einspruchsgesetze zum anderen – nicht hinreichend geklärt ist. Um es ganz kurz zu machen: bei Zustimmungsgesetzen bittet der Bundesratspräsident die versammelten Ländervertreter im Bundesratsplenum per Handzeichen um Zustimmung oder Ablehnung eines Gesetzesentwurfes, der aus dem Bundestag zugeleitet wurde. Bei Erreichen der Mehrheit der stimmberechtigten Mitglieder ist dem Gesetz zugestimmt – es hat damit den Bundesrat „passiert“. Bei Einspruchsgesetzen ist das Prozedere ein grundsätzlich anderes. Hier kann der Bundesrat nur insofern Einfluss auf das Gesetzgebungsverfahren des Bundestages nehmen als dass er das Gesetz anhalten und mit der Mehrheit seiner Stimmen den Vermittlungsausschuss anrufen kann – ein gemeinsames Gremium von Bundesrat und Bundestag, das bei strittigen Gesetzesvorhaben zu Einigungen führen soll. Erhebt der Bundesrat auch nach erfolgtem Einschalten des Vermittlungsausschuss noch Einspruch gegen ein Gesetz, so kann der Bundestag diesen am Ende durch eine Mehrheit kassieren – also überstimmen. Das Gesetz träte in diesem Fall also trotzdem in Kraft. Daher fragt der Bundesratspräsident bei Einspruchsgesetzen auch nicht nach der Zustimmung der Ländervertreter, sondern nur danach, ob ein Land gedenkt, den Vermittlungsausschuss anzurufen, um bei positivem Votum eines Landes im Anschluss nach weiteren gleich gelagerten Stimmen zu fragen. Sobald hier eine Mehrheit zustande gekommen ist, beginnt das Prozedere in Richtung des Ausschusses. Für die Dauer des Vermittlungsausschusses – bei dem allerdings vielfältige Ladungs- und Verfahrensfristen zu beachten sind –  wird der Gesetzgebungsprozess gestoppt.
Im vorliegenden Fall des IFSG handelte es sich um ein solches Einspruchsgesetz. Dieses hätte zwar in der Theorie vom Bundesrat angehalten und via Vermittlungsausschuss behandelt werden können. Faktisch wären aber die Ladungsfristen für die Anrufung des Vermittlungsausschusses mit dem Auslaufen der Übergangsregelungen des IFSG kollidiert, d.h. eine Befassung im Vermittlungsausschuss wäre erst nach dem Auslaufen der aktuellen COVID-Regelungen möglich und damit völlig sinnlos gewesen. Am Freitag konnte die Bundesrepublik daher eine Lose-Lose-Situation der Bundesländer erleben, denen der Bundestag bildlich gesprochen Hände und Füße gebunden hatte. Am ehesten träfe für das freitägliche Prozedere daher die Formulierung zu, der Bundesrat habe das Gesetz „behandelt“. Mehr war uns als Ländern nicht möglich.
Meinen Kollegen und mir – da kann ich ehrlich sein – war dieses Vorgehen von Bundestag und Bundesregierung alles andere als recht. Das hat nicht nur der Bundesrat selbst, sondern auch die Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) am Vortag sehr deutlich dokumentiert. Es dürfte eine Einmaligkeit in der Geschichte der MPK sein, dass alle 16 Bundesländer mittels Protokollerklärungen ihr Missfallen ausgedrückt haben. Dasselbe sollte sich auch beim freitäglichen Bundesrat abermals ereignen – nur dieses Mal wurde die Protokollerklärung von denjenigen Bundesländern nicht mitgezeichnet, bei denen die FDP an der Regierungskoalition beteiligt ist. Gerade dieser Umstand zeigt, dass es insbesondere der Ampelkoalitionär FDP war, der auf Bundesebene dafür gesorgt hat, dass das bis dahin vernünftige Einvernehmen zwischen Bund und Ländern in der Pandemieabwehr erheblich beschädigt wurde.
Diese Entwicklung ist angesichts der nach wie vor hohen Infektionszahlen extrem bedauerlich, sollte es doch unser aller Interesse sein, über Partei- und Ländergrenzen hinweg zusammen mit den Bürgerinnen und Bürgern daran zu arbeiten, das Pandemiegeschehen endlich in diejenigen Bahnen zu lenken, die zu einem normalen Infektionsgeschehen führen. In Thüringen wie in vielen anderen Bundesländern auch ist die Lage nach wie vor angespannt. Es bleibt zu hoffen, dass sich diese Lage mit dem Beginn des Frühlings und dem Ansteigen der Temperaturen wieder entspannt, aber auch, dass der Bund sich doch noch besinnt und wieder in einen ernstgemeinten Arbeits- und Kooperationsprozess auf Augenhöhe mit den Ländern eintritt. Das wäre im Interesse aller und würde sicherlich ein Chaos wie das gegenwärtige vermeiden helfen.

P.S.: Während ich nun 24 Stunden nach den Ereignissen im Bundesrat mein Tagebuch abfasse, meldet MDR Kultur, auch der Bundesrat habe nach dem Bundestag das neue IFSG „gebilligt“. Hier gilt uneingeschränkt alles weiter oben Gesagte.