Ein Nachklapp zur Wehrpflicht-Debatte dieser Woche

Manchmal wundere ich mich über die Heftigkeit von Debatten und bin umso mehr erstaunt, wenn ich auf der Grundlage von Tatsachen argumentiere, die von Kritikern einfach ignoriert werden. Sicher: letzteres bietet mehr Raum für unredliche und/oder polemische Kritik, bringt eine Debatte aber kaum voran.

Wenn also MDR Online schreibt: „Ramelow will Wehrpflicht wieder einführen“ dann ist das genauso unzutreffend, wie die Unterstellung, ich  wolle mich mit einem provokanten Beitrag im Kontext des Krieges in der Ukraine profilieren.  Ja, es ist wieder Krieg in Europa und ja, diese Wasserscheide unserer Gegenwart ist ein Anlass viele Fragen neu zu stellen oder einmal getroffene Entscheidungen zu überdenken. Vorrangig sind dabei aber meiner Meinung nach zwei Punkte:

1) Der Krieg in der Ukraine muss umgehend beendet werden. Der Aggressor Putin muss seine Truppen sofort abziehen. Für sie gilt: die Waffen nieder. Die Ukraine braucht Frieden und dann kann ein neuer Vorstoß im Geiste der Schlussakte von Helsinki gestartet werden. Mein Traum ist  eine europäische Vertrags- und Friedensgemeinschaft der friedlichen Koexistenz, der territorialen Integrität und der Konfliktregulierung im Rahmen ordentlicher OSZE-Prozesse.

2) Den Flüchtlingen muss sofort geholfen werden. Es gilt jetzt Obdach zu gewähren, medizinische Hilfe zu ermöglichen, Kinder unterzubringen, Hilfstransporte loszuschicken und Schutzkorridore zu schaffen. Hilfe und Solidarität sind die Gebote der Stunde. Hier sind die Thüringer Landesregierung und unglaublich viele zivilgesellschaftliche Akteure unmittelbar aktiv geworden und helfen, wo Hilfe gebraucht wird. Das macht mich stolz.

Darüber hinaus braucht es aber auch konkrete Aufbau- und Zukunftsperspektiven. Mein Vorschlag: Das System Putin stoppen und ihm den Geldhahn abdrehen. Wie? Indem man den russischen Oligarchen den Zugang zu ihren verschobenen, märchenhaft hohen Vermögen abschneidet und diese Gelder in den Wiederaufbau der Ukraine investiert.

Während mir die beiden vorgenannten Punkte aktuell an Wichtigkeit kaum zu überschätzen sind, habe ich in meinem Tagebuch nur eine – auch eher beiläufige – Bemerkung aufgenommen, die ich schon 2010 in ähnlicher Weise habe fallen lassen – nämlich meinen Vorschlag einer  Bundeswehr als Landverteidigungsarmee, als Parlamentsarmee und in der ganzen Bevölkerung eingebettet über die Wehrpflicht.

Der Sturm der Entrüstung war groß. Um die Debatte zu versachlichen, habe ich meinen Text um eine Fußnote ergänzt, in der ich meine Vorstellungen zu diesem Nebenaspekt meines Beitrages weiter ausgeführt habe. In meiner Jugend, in der es die Wehrpflicht in der „klassischen Form“ noch gab, war die Lage eine völlig andere als heute. Ich erinnere mich noch sehr genau an eine maskulinisierte Armee (Frauen klagten erst viel später ihr Recht ein, ebenfalls Bundeswehrsoldatin werden zu können), völlig irrwitzige Verhörsituationen für diejenigen, die den Dienst an der Waffe verweigern und lieber Ersatzdienst leisten wollten oder das schwere Los der sogenannten Bausoldaten in der DDR, die wegen ihrer Weigerung in bewaffneten Teilen der NVA zu dienen, schwersten Schikanen ausgesetzt waren. Eben weil mir diese Geschichte bekannt ist, vertrete ich einen völlig anderen Ansatz – und zwar denjenigen eines gesellschaftlichen Pflichtjahres für alle Menschen zwischen 18 und 25 Jahren

Aber warum habe ich das Wort Wehrpflicht benutzt? Ganz einfach: weil sie bis heute nicht abgeschafft wurde. Das kann man ungut finden, man kann mich auch attackieren. An der Sach-und Rechtslage ändert das unterdessen nichts.

Ausgangspunkt für die Wehrpflicht ist Art. 12a GG:

(1)  Männer können vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz oder in einem Zivilschutzverband verpflichtet werden.

(2)  Wer aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe verweigert, kann zu einem Ersatzdienst verpflichtet werden. Die Dauer des Ersatzdienstes darf die Dauer des Wehrdienstes nicht übersteigen. Das Nähere regelt ein Gesetz, das die Freiheit der Gewissensentscheidung nicht beeinträchtigen darf und auch eine Möglichkeit des Ersatzdienstes vorsehen muß, die in keinem Zusammenhang mit den Verbänden der Streitkräfte und des Bundesgrenzschutzes steht.

(3)  Wehrpflichtige, die nicht zu einem Dienst nach Absatz 1 oder 2 herangezogen sind, können im Verteidigungsfalle durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes zu zivilen Dienstleistungen für Zwecke der Verteidigung einschließlich des Schutzes der Zivilbevölkerung in Arbeitsverhältnisse verpflichtet werden; Verpflichtungen in öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse sind nur zur Wahrnehmung polizeilicher Aufgaben oder solcher hoheitlichen Aufgaben der öffentlichen Verwaltung, die nur in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis erfüllt werden können, zulässig. Arbeitsverhältnisse nach Satz 1 können bei den Streitkräften, im Bereich ihrer Versorgung sowie bei der öffentlichen Verwaltung begründet werden; Verpflichtungen in Arbeitsverhältnisse im Bereiche der Versorgung der Zivilbevölkerung sind nur zulässig, um ihren lebensnotwendigen Bedarf zu decken oder ihren Schutz sicherzustellen.(4)  Kann im Verteidigungsfalle der Bedarf an zivilen Dienstleistungen im zivilen Sanitäts- und Heilwesen sowie in der ortsfesten militärischen Lazarettorganisation nicht auf freiwilliger Grundlage gedeckt werden, so können Frauen vom vollendeten achtzehnten bis zum vollendeten fünfundfünfzigsten Lebensjahr durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes zu derartigen Dienstleistungen herangezogen werden. Sie dürfen auf keinen Fall zum Dienst mit der Waffe verpflichtet werden.

(5)  Für die Zeit vor dem Verteidigungsfalle können Verpflichtungen nach Absatz 3 nur nach Maßgabe des Artikels 80a Abs. 1 begründet werden. Zur Vorbereitung auf Dienstleistungen nach Absatz 3, für die besondere Kenntnisse oder Fertigkeiten erforderlich sind, kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes die Teilnahme an Ausbildungsveranstaltungen zur Pflicht gemacht werden. Satz 1 findet insoweit keine Anwendung.

(6)  Kann im Verteidigungsfalle der Bedarf an Arbeitskräften für die in Absatz 3 Satz 2 genannten Bereiche auf freiwilliger Grundlage nicht gedeckt werden, so kann zur Sicherung dieses Bedarfs die Freiheit der Deutschen, die Ausübung eines Berufs oder den Arbeitsplatz aufzugeben, durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden. Vor Eintritt des Verteidigungsfalles gilt Absatz 5 Satz 1 entsprechend.

Erläuternd findet sich zu dieser Bestimmung im Grundgesetzkommentar von v. Münch:

„Das Wehrrechtsänderungsgesetz vom 28.4.2011 hat – 55 Jahre nach Einführung der Wehrpflicht – der auf Art. 12a Abs. 1 gestützten gesetzlichen Verpflichtung, Wehrdienst zu leisten, für Friedenszeiten ein Ende bereitet. Da die Verpflichtung im Verteidigungs- oder Spannungsfall wiederauflebt (§ 2 WpflG nF, wonach die §§ 3–53 nur noch unter dieser Voraussetzung Anwendung finden), umschreibt die Gesetzesbegründung diesen Paradigmenwechsel nicht als Abschaffung, sondern bloß als „Aussetzung“ der Wehrpflicht.

Sie erstreckt sich nicht nur auf die Pflicht zum Wehrdienst, sondern lässt automatisch – ohne dass es einer Änderung der einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen bedurft hätte – auch die Pflicht entfallen, Zivildienst (Ersatzdienst) zu leisten,  da diese in Bestand und Dauer an den pflichtigen Wehrdienst akzessorisch anknüpft (Art. 12a Abs. 2 S. 1 u. 2.

Funktional wird durch eine solche Entscheidung des Gesetzgebers Art. 12a stärker als bisher in den Kontext der sog. Notstandsverfassung (→ Art. 115a ff.) gerückt. Die von der „Aussetzung“ unberührten Ermächtigungen der übrigen Absätze des Art. 12a zeitigen in Friedenszeiten ohnehin keine Wirkung. Der künftige rechtspraktische Stellenwert des Art. 12a lässt sich schwer einschätzen; insbes. bei Verschärfung der außenpolitischen Sicherheitslage erscheint die Rückkehr zur allgemeinen Wehr(dienst)pflicht – falls sie in wehrgerechter Form (→ Rn. 19 ff.) umgesetzt werden kann – als ein nicht ausgeschlossenes Szenario.“

Auf gut Deutsch:  Wir haben weiterhin eine Wehrpflicht nach dem Grundgesetz, sie wird nur nicht „vollstreckt“, weil es ein Gesetz gibt, in dem genau das festgelegt ist.

Überdies ist Art. 12a GG ohnehin nur als „Kann“-Bestimmung formuliert (können verpflichtet werden, nicht „müssen“ oder „sind zu verpflichten“). Das ist quasi eine „Ermessensentscheidung“ des Gesetzgebers, die jederzeit wieder geändert werden kann.

Da sich an dieser Ausgangslage im Jahr 2011 nichts geändert hat, insbesondere der Grundgesetzartikel nicht aufgehoben oder umgeschrieben wurde, ist jederzeit die Wiedereinführung der Wehrpflicht durch ein einfaches Bundesgesetz möglich. Da es um Landesverteidigung und somit um einen Bereich geht, der zur ausschließlichen Bundesgesetzgebung gehört, bedarf es nicht einmal einer Zustimmung des Bundesrats, sondern lediglich einer einfachen Mehrheit im Bundestag.

Meine Idee des gesellschaftlichen Jahres fußt auf genau dieser Ausganslage. Um die Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen der Vergangenheit zu überwinden, braucht es ein Angebot für alle, das überdies rassismus- und gendersensibel sein muss. Es muss so ausgestaltet sein, dass es eine breite Vielfalt an Wahlmöglichkeiten für den eigenen Dienst bietet. Die (nur beispielhaften) Optionen THW und Feuerwehr müssen dabei ebenso in den Verfassungstext zur Wehrpflicht eingebettet werden, wie das FSJ. Dieses ist und war mein Denkansatz.

Es geht mir dabei eben explizit nicht um eine Reaktion auf die aktuelle Kriegssituation, sondern um eine Grundüberzeugung. Nach 18 Jahren des Aufwachsens in einer offenen Gesellschaft mit möglichst guter Betreuung und Bildung, einem hoffentlich endlich entstehenden Recht auf eine Kindergrundsicherung für alle Kinder (unabhängig vom Elterneinkommen) und vieles mehr könnten die jungen Menschen ihren ersten Lebensabschnitt mit diesem gesellschaftlichen Jahr abrunden. Es würde einen guten Übergang in die Arbeitswelt bieten und könnte auch auf Studium, Berufspraktikum oder Ausbildung angerechnet werden. Je nachdem, wofür sich die Person entscheidet, muss der jeweilige Träger Sorge dafür tragen, dass es nicht um ein billiges Ausnutzungsverhältnis geht und auch nicht um das zwangsweise Zutreiben von „Kanonenfutter“, sondern – um beim Beispiel Bundeswehr zu bleiben – um das Konzept vom Bürger in Uniform. Ja, auch das hätte Auswirkung auf die Bundeswehr.

Deshalb erschließt sich mir nicht, warum von links immer reflexhaft vom Zwangsdiensten gesprochen wird und die emanzipatorischen Potenziale einer wechselseitigen Durchdringung von Gesellschaft und Institutionen wie der Bundeswehr durch und mit Vielfalt nicht gesehen werden.

Wer aber die Bundeswehr als von der Gesellschaft abgekoppelte Berufsarmee wünscht, der darf sich nicht über die hochproblematischen Folgen dieser Fremd- und damit zwangsweise auch Selbstisolation täuschen. Dagegen stand und steht die Idee vom Bürger in Uniform. Ich wollte also mit einer kleinen Seitenbemerkung keinen neuen Vorstoß wagen. Ich habe einen Traum, den ich im Kriegsgeschrei schlicht nicht untergehen lassen wollte. Auch unsere Nachbarn träumen vom Frieden. Warum sollten wir das Gewaltmonopol des Staates nicht mitten in einer friedlichen Gesellschaft einbetten und solche Signale auch an die Nachbarn zu senden? Wehrpflicht heißt für mich eben auch, sich zu wehren gegen Nationalismus, Chauvinismus und für eine solidarische Gesellschaft zu arbeiten.