Anmut sparet nicht noch Mühe…

Ab und an ahne ich schon in dem Moment, in dem ich ein Interview gebe, dass die eine oder andere Aussage für Wirbel sorgen könnte aber was passiert, wenn ich die Frage stelle, ob nicht die Nationalhymne auch sinnstiftend sein müsste und darauf hinweise, dass aus meiner Sicht, die jetzige Hymne womöglich in dieser Hinsicht Schwächen hat, das hätte ich mir nicht vorstellen können. Seit heute morgen werden meine Social Media Kanäle bombardiert von Menschen, die meinen mir mitteilen zu müssen, dass eine Debatte darüber der nächste Schritt sei, Deutschland abzuschaffen.

Für die Interessierten zunächst nochmals die Antwort auf die Frage der „Rheinischen Post“:

„Eine Bilanz zu 30 Jahre Mauerfall: Welche Errungenschaften der DDR wurden Ihrer Ansicht nach vom Westen zerstört und fehlen jetzt?

Antwort: Das beginnt schon bei der Nationalhymne. Die verfassungsgebende Runde Tisch der DDR hatte vorgeschlagen, auf beide bestehenden Hymnen zu verzichten und gemeinsam eine neue zu wählen – nämlich die Kinderhymne von Brecht. Das wurde abgelehnt. Jetzt diskutieren wir darüber, ob Björn Höcke von der Thüringer AfD die erste Strophe unserer Hymne mitgesungen hat oder nicht, in der es um den von den Nazis missbrauchten Text geht, den Hoffmann von Fallersleben 1841 geschrieben hat. Ich singe die dritte Strophe unserer Nationalhymne mit, aber ich kann das Bild der Naziaufmärsche von 1933 bis 1945 nicht ausblenden. Viele Ostdeutsche singen die Hymne aber nicht mit und ich würde mir wünschen, dass wir eine wirklich gemeinsame Nationalhymne hätten. Bisher hat dieser Wunsch leider immer nur für empörte Aufregung gesorgt.“

Die Geschichte unserer Nationalhymne, des Liedes der Deutschen, ist eine Geschichte von Brüchen. August Heinrich Hoffmann von Fallersleben schrieb es 1841 auf Helgoland (was zu diesem Zeitpunkt englisch war) im Umfeld der sogenannten „Rheinkrise“ und in diesem Kontext ist ein Text entstanden, der später gleich mehrfach missbraucht wurde. War im Jahr 1841 mit „Deutschland, Deutschland über alles“ die positive Überwindung der deutschen Kleinstaaterei gemeint und die Sehnsucht nach einem einheitlichen Nationalstaat, so begann der Missbrauch schon im Ersten Weltkrieg, als die Legende entstand, dass junge Soldaten das Lied spontan gesungen hätten, als sie bei Ypern in Belgien in die Schlacht zogen.

Am 10. August 1922 dann wurde das Lied der Deutschen durch Erklärung von Reichspräsident Friedrich Ebert zur Nationalhymne und die Nationalsozialisten deuteten das Lied um zur Legitimation für ihre Weltherrschaftsgelüste und nutzten nur noch die erste Strophe in Verbindung mit dem Horst-Wessel-Lied. Und dieser Missbrauch bereitet mir bis heute Unbehagen, wenn die Nationalhymne unseres Landes auch in diesen Kontext gesetzt werden muss. Mit „Deutschland, Deutschland über alles“ brachte Deutschland Mord, Vernichtung, Vertreibung, Leid und Elend über ganz Europa!

Und deswegen wurde schon bei Gründung der Bundesrepublik 1949 diskutiert, ob nicht nach einer neuen Hymne gesucht werden solle. Vorschläge gab es viele von der „Ode an die Freude“ von Beethoven bis zur „Hymne an Deutschland“ von Schröder/Reutter. Erst am 6. Mai 1952 wurde mit der Veröffentlichung eines Briefwechsels zwischen Theodor Heuss und Konrad Adenauer die dritte Strophe des Deutschlandliedes die Nationalhymne der Bundesrepublik und in der DDR gab es mit „Auferstanden aus Ruinen“ von Becher und Eisler ohnehin eine eigene Hymne.

Mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1990 entstand erneut die Frage nach der Nationalhymne. Viele Bürgerrechtler schlugen die „Kinderhymne“ von Bertolt Brecht „Anmut sparet nicht noch Mühe“ vor und der letztes Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maiziere, schlug vor die beiden Hymnen aus Ost und West zu verknüpfen. Schließlich wurde erneut, wie schon 1952, durch einen Briefwechsel zwischen Helmut Kohl und Richard von Weizsäcker entschieden, dass die dritte Strophe des Deutschlandliedes die Nationalhymne sei.

Ich finde nichts anrüchiges daran, fast 30 Jahre später zu fragen, ob es nicht doch sinnvoll zu sein, die Einheit in Freiheit auch dadurch zu vollenden, dass wir den Mut zu einer neuen Hymne finden, die deutlich sinnstiftender in das jetzige Deutschland passt.

Und es geradezu absurd, mir deswegen vorzuwerfen, ich würde nun endgültig Deutschland abschaffen wollen. Nein, ich bin für eine Debatte, in welchen Kontext wir unser Land heute im 21. Jahrhundert stellen wollen. Sehen wir uns als Teil eines friedlichen, geeinten Europas oder geht es nicht den meisten, die mir vorwerfen, ich würde Deutschland abschaffen wollen, nicht eher darum, weiter von einem Deutschland vom Maas bis an die Memel zu träumen. Es ist jedenfalls interessant, was manche alles in die dritte Strophe unserer Hymne hineininterpretieren. Das sagt meines Erachtens mehr aus über die Geisteshaltung der Kommentatoren als darüber aus, ob es legitim ist, die Hymne zum Gegenstand einer Debatte zu machen. Ich darf darauf hinweisen, dass wir gestern den Tag der Befreiung begangen haben und die Völker Europas heute den Tag des Sieges über den Faschismus feiern. Wann, wenn nicht in einem solchen Kontext, macht es Sinn, über unser Nationalbewusstsein und auch über unsere Hymne nachzudenken.

Das Wirken von Höcke und anderen richtet sich gegen die Abgrenzungslinie, die in Deutschland immer gewirkt. Diese Trennlinie war der Holocaust. Mit der Rede von der 180°-Wende und vom „Schandmal“ in unserer Hauptstadt hat Höcke noch mal klar herausgestellt, dass für ihn diese Grenze nicht gilt.

Jetzt singt er die erste Strophe des „Liedes der Deutschen“ und will ein „Deutschland, Deutschland über alles“ damit unterstreichen. Mit dem bewussten Singen der ersten Strophe wird das nächste Tabu abgeräumt. Man wird das doch mal singen dürfen. Ich habe aber keine Lust, über Herrn Höcke zu lamentieren. Mein Vorschlag war eine positive Auflösung nach vorne.

„Und nicht über und nicht unter anderen Völkern wolln wir sehn“ heißt es in meinem favorisierten Text von Brecht. Und hier der ganze Text der Kinderhyme:  

Anmut sparet nicht noch Mühe,
Leidenschaft nicht noch Verstand,
daß ein gutes Deutschland blühe,
wie ein andres gutes Land.

Daß die Völker nicht erbleichen
wie vor einer Räuberin,
sondern ihre Hände reichen
uns wie andern Völkern hin.

Und nicht über und nicht unter
andern Völkern wolln wir sein,
von der See bis zu den Alpen,
von der Oder bis zum Rhein.

Und weil wir dies Land verbessern,
lieben und beschirmen wir’s.
Und das liebste mag’s uns scheinen
so wie andern Völkern ihrs.