Tage, die man nie vergisst

Es war der letzte Tag der schriftlichen Abiturprüfungen in Thüringen und es war der Tag einer regulären Landtagssitzung, an der ich teilnahm.

Um die Mittagszeit – es muss zwischen 11.30h und 12.00h gewesen sein – hörten wir eine endlos lange Kette an Polizeifahrzeugen, die mit Sondersignal am Landtag vorbei in Richtung Innenstadt zu rasen schienen.

Es dauerte nicht lange bis Gerüchte durch den Plenarsaal waberten. Es habe Schüsse im Gutenberg-Gymnasium gegeben.

Angeblich seien mindestens ein Polizeibeamter und eine Lehrerin getötet worden, wobei letztere qualvoll auf dem Pflaster vor dem Schulgebäude verblutet sei. Die Fassungslosigkeit im Landtag war mit Händen zu greifen. Man konnte regelrecht körperlich spüren, wie keiner der Abgeordneten sich mehr auf das Tagesgeschehen konzentrieren konnte. An jeder Ecke des Saales standen Gruppen von Abgeordneten und tauschten sich aus. Ein Minister hielt eine endlose Rede über ein Thema, das zwischenzeitlich völlig uninteressant geworden war.

Ich besprach mich mit einem Vertreter der Regierung, dass man dem Minister doch signalisieren solle, dass er zum Ende kommen möge – alles zusammen eine seltsame Mischung aus Betroffenheit, Ratlosigkeit, Fassungslosigkeit und nur bruchstückhaften Informationen.

Die Landtagssitzung wurde schließlich unterbrochen. In den Fraktionen berieten wir den Sachstand. Jeder nahm Kontakt zu Menschen auf, die im Zusammenhang mit dem Gutenberg-Gymnasium möglicherweise betroffen sein könnten. Eine Abgeordnete aus unserer Fraktion vermisste ihren Sohn, der Schüler am Gutenberg-Gymnasium war.

Tamara Thierbach als Fraktionsvorsitzende im Erfurter Stadtrat ging sofort entschlossen ins Rathaus, um von dort aus praktische Hilfe zu organisieren. Am Nachmittag wurde ich schließlich von Ministerpräsident Bernhard Vogel gebeten, in das neu gebaute Bundesarbeitsgericht zu kommen, damit wir gemeinsam, Regierung und Opposition, besprechen könnten, was geschehen und was zu veranlassen sei.

Zum vereinbarten Termin lief ich Richtung Petersberg. Auf halbem Weg kam mir der Oberbürgermeister der Stadt Erfurt, Herr Ruge, entgegen. Mein Blick wanderte zu ihm und an ihm vorbei in Richtung des Gutenberg-Gymnasiums, vor dem ein riesiges Polizeiaufgebot stand. Wir blieben voreinander stehen und ich schaute in sein Gesicht. Diesen Gesichtsausdruck werde ich niemals in meinem Leben vergessen. Herr Ruge kam gerade aus dem Gutenberg-Gymnasium. In seinen Augen sah ich alles, was er gesehen hatte. Wortlos gingen wir gemeinsam zur Beratung mit dem Ministerpräsidenten.

Zu diesem Zeitpunkt geisterten alle möglichen Zahlen von höchstwahrscheinlich getöteten Menschen durch die Nachrichten. Man sah nach dem Riesenaufgebot von Polizei auf einmal ein immer größer werdendes Aufgebot von Übertragungswagen. Das Gutenberg-Gymnasium und die Stadt Erfurt wurden zur Hauptnachricht – erst in Deutschland und später in der ganzen Welt.

In der Besprechung erläuterten Herr Dr. Vogel und Herr Ruge den Sachstand. Gesichert konnte zu diesem Zeitpunkt von 15 getöteten Menschen gesprochen werden und das Gerücht waberte noch, dass ein weiterer Mensch getötet worden sein könnte. Der Täter war tot in einem Raum vorgefunden worden, nachdem das gesamte Gebäude von oben nach unten durch Polizeispezialkräfte geräumt und gesichert worden war.

Da man nicht wusste, ob noch weitere Täter involviert waren, mussten sämtliche angetroffenen Personen erfasst  werden, da man nicht ausschließen konnte, dass sich ein möglicherweise bis dahin unerkannt gebliebener Täter unter den Schülern versteckt hielt. Eine wahrlich dramatische und über Stunden unerträgliche Situation.

Die folgenden Tage waren die schwierigsten, die Erfurt in der Neuzeit jemals erlebt hatte. Die Stadt war voller Journalisten. Alles und jedes wurde zum Gegenstand der Berichterstattung.

Als sehr positiv empfand ich, dass viele Kirchen schon am 26. April abends geöffnet waren und so war ich in der gemeinsamen Andacht in der Andreaskirche. Ich glaube, jeder, der in diesen Tagen in der Stadt war, kann sich genau erinnern, wie dieser 26. April für ihn abgelaufen ist. Der Hinweis, dass auch ein Genosse von uns zu den getöteten Lehrern gehörte, erreichte mich gegen Abend. Ich bat, den Kontakt zum Trauerhaus aufzunehmen. Ich ahnte nicht, dass ich die Witwe aus meiner Gewerkschaftszeit als engagierte Betriebsrätin längst kannte. Aber auch die Lehrerin, die auf dem Pflaster vor der Schule für die ganze Welt sichtbar sterben musste, hatte ich noch wenige Tage vorher mit ihrem sehr großen Engagement für Schülerinnen und Schüler, um sie neugierig auf Kunst zu machen, in der Lutherkirche besucht, wo sie eine große Ausstellung organisiert hatte. Ich hatte schnell eine sehr konkrete Vorstellung davon, wie dicht diese Spur des Mordens mit meinem Leben verbunden ist.

Dankbar bin ich bis heute für das unglaubliche Engagement von Tamara Thierbach, die uns allen geholfen hat, den Platz zu finden, an dem wir Sinnvolles beitragen konnten, um in dieser furchtbaren Zeit Menschen beizustehen. Tamara hat als Bürgermeisterin der Stadt Erfurt später große Spuren in der Stadt hinterlassen. Der junge Schüler Björn Harras organisierte mit anderen zusammen die Aktion „Schrei nach Veränderung“ und ich bin froh, mit ihm bis heute nicht nur befreundet zu sein, sondern politisch zusammenarbeiten zu dürfen.

Da ich zu dieser Zeit noch am Johannesplatz wohnte, hat es mich sehr berührt, dass der Schulleiter der staatlich integrierten Gesamtschule am Johannesplatz einen Weg gefunden hatte, wie in der ganzen Schule mit den Schülerinnen und Schülern über dieses dramatische Geschehen eine Form des Dialogs gefunden werden konnte, bei der Trauer, Sorge und Angst gemeinsam bearbeitet wurden. Die ganze Schulgemeinschaft ging dann zu Fuß vom Johannesplatz Richtung Gutenberg-Gymnasium, um dort Blumen niederzulegen, aber auch, um auf dem Weg das Unfassbare für die Kinder fassbar zu machen. Ich war dankbar, dass ich den ganzen Weg mitlaufen durfte und so gespürt habe, wie wichtig es ist, dass wir in dieser Stadt zusammenhalten.

So habe ich es auch jeden Abend in den Andachten erlebt, die nicht nur für die direkt betroffenen Angehörigen von großer Bedeutung, sondern schlicht für die ganze Stadt unabdingbar waren. Geöffnete Kirchentüren boten die Sicherheit, um der Seele den nötigen Schutz zu geben. Die Mutter unseres Genossen Hans Lippe bat mich beim Besuch im Trauerhaus, ob ich denn die Trauerrede bei der Beisetzung für ihren geliebten Sohn halten könnte. Ich muss zugeben, dass ich in diesem Moment wie gelähmt war, da ich gerade meinen besten Freund zu Grabe getragen hatte und eigentlich einen großen Bogen um Trauerreden machen wollte. Gleichwohl konnte ich diesen Wunsch nicht abschlagen und habe mich so gemeinsam mit der trauernden Familie aufgemacht, das nicht Beschreibbare bei der Beisetzung so zu fassen, dass zwischen der Trauer und Ratlosigkeit nicht die Bitternis über das Unerträgliche das Leben überwuchert.

Ich habe lange an jedem Wort gefeilt, um den richtigen Ton zu treffen. Ich saß Stunden in Hans’ Arbeitszimmer, seine Schallplatten betrachtend, seine Bücher lesend. Mir wurde klar, wieviel wir gemeinsam hatten, obwohl wir lange in zwei völlig verschiedenen Welten – West/Ost – gelebt hatten.

Letztlich bleibt eine sehr berührende Szene, als die Jugendwallfahrt der Katholischen Kirche zum Domberg in den Dom verlegt wurde. Dort hat Bischof Wanke demonstrativ auch die 17. Kerze mit auf den Altar gestellt und ich merkte, wie schwer es Vielen fiel, dass auch für den Täter eine Kerze der Trauer entzündet wurde.

In diesem Gottesdienst hörte ich einen Satz aus dem Mund des katholischen Bischofs, der die jungen Leute zum Lachen brachte und ich merkte, wie wichtig es war, dass nach Wochen des Durcheinanders und der Anspannung in Erfurt wieder gelacht wurde. Zwanzig Jahre ist es nun her und keine Sekunde des 26. April 2002 habe ich vergessen.