Man muss das „nie wieder“ im Herzen tragen
In diesen Stunden kehre ich von einer Reise zurück nach Hause nach Thüringen. Nach Belgrad hat sie mich geführt und nach Brüssel.
Langsam kommen die drei Gleichen in Sicht – das sichere Zeichen, dass ich wieder Zuhause bin. Während ich so durch die Fensterscheiben des Wagens in die schneebedeckte Landschaft blicke, denke ich über das nach, was mich die vergangenen Tage besonders beschäftigt hat: das Gedenken an diejenigen, die das schlimmste Verbrechen der europäischen Geschichte überlebt haben. An Auschwitz, an Buchenwald, an all das unselige Leid, dass von deutschem Boden aus Millionen Menschen das Leben, die Familie und die Heimat gekostet hat. Aber ich denke eben auch an diejenigen, die überlebt haben. Manche durch Glück – andere durch den unbändigen Willen zu überleben.
Einer von Ihnen war Ivan Ivanji. Am Samstag hatte ich die Ehre ihm – einem scharfsinnigen Schriftsteller und Diplomaten – anlässlich seines 90. Geburtstages den Thüringer Verdienstorden in Belgrad zu verleihen. Es war mir ein großes Privileg und eine ernste Verpflichtung, die ich, als Landesvater und als Mensch, einem gegenüber habe, der nicht nur Buchenwald, sondern auch die Todesmaschinerie Auschwitz überlebt hat. 1998 hielt er im ehemaligen KZ Buchenwald eine vielbeachtete Rede. Unter anderem sagte er damals:
„Buchenwald hat zu Weimar gehört, das ist keine Frage, sondern eine Feststellung. Und Buchenwald gehört immer noch dazu. Das soll sicher auch Schillers Stuhl hier auf dem Ettersberg beweisen. So kommen Licht und Dunkel auf eine besondere Weise fast gleichzeitig zum Vorschein. Könnte es sogar gut sein, dass man in einer kleinen Stadt wie Weimar, dank der unmittelbaren Nachbarschaft deutscher Klassik und deutscher Mordlust, mehr darüber erfahren kann, welche Gegensätze die Art Homo sapiens genetisch in sich trägt?“
Erst am Freitag davor, dem 25. Januar, habe ich zum Gedenken an den Holocaust im Thüringer Landtag gesprochen. Vor den Überlebenden Eva Pusztai, Günter Pappenheim und Heinrich Rotmensch habe ich darüber gesprochen, wie wichtig die Erinnerung an die Opfer ist. Denn sie mahnt uns zu fragen, wie wir unsere Gesellschaft gestalten wollen. Denn es ist unsere Verpflichtung gegenüber den Toten und besonders gegenüber denen, die überlebt haben, andauernd darauf hinzuweisen, wie engmaschig das Netz der Vernichtung auch in Thüringen gewesen ist. Man muss immerzu darüber sprechen. Über die Kindereuthanasie in Stadtroda, das kirchliche Entjudungsinstitut in Eisenach, oder die Tatsache, dass Auschwitz und die Ermordung von Millionen ohne das ingenieurswissenschaftliche Know-How aus dem Erfurter Betrieb Topf & Söhne gar nicht erst möglich gewesen wäre.
Über diese unerträglichen Dinge müssen wir sprechen, denn wir müssen Antworten haben. Ich schließe mich der Präsidentin des Thüringer Landtages, Frau Birgit Diezel, vollkommen an, wenn sie, wie auf der Gedenkveranstaltung im Landtag vergangenen Freitag sagt: Es kann und es wird keinen Schlussstrich unter das Erinnern an die sechs Millionen Opfer geben.
Erst vor wenigen Wochen war ich auf der Beerdigung von Ottomar Rothmann. Und im September habe ich geholfen Kurt Pappenheim zu Grabe zu tragen. Alle Beide waren Überlebende des KZ Buchenwald und hochverdiente Zeitzeugen, die ihr ganzes restliches Leben der Aufklärung über die Verbrechen der Nazis verschrieben hatten.
Langsam gehen die auch die Letzten von uns, die als Zeugen vermitteln konnten, zu welch grauenhaften Taten Menschen fähig sein können. In einer Zeit, in der die Erinnerung mangels derer, die sie bezeugen können, zu verblassen droht, ist es von unschätzbarer Bedeutung, dass wir Nachkommen das aussprechen, was ausgesprochen werden muss.
Die Überlebenden von Buchenwald haben 1945 geschworen:
„Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung.“
Diesem Schwur fühle auch ich mich verpflichtet. Und auch dem berühmten „nie wieder“. Aber ich sage auch: das „Nie wieder“ müssen wir jeden Tag mit Bedeutung erfüllen. Es sollte nicht nur auf Plakaten und Transparenten stehen, sondern wir müssen es in unseren Herzen tragen. So habe ich es auch vor den Überlebenden im Thüringer Landtag gesagt.
Unsere gemeinsame Verantwortung ist die Gleiche geblieben. Die Erinnerung an die Opfer mahnt uns, wie wir unsere Demokratie gestalten wollen und gebietet uns die Essenz unserer Verfassung zu verteidigen. Denn die allgemeinen Menschenrechte, die in ihr verankert sind, sind die Fundamente unserer Gesellschaftsordnung.
Es sind diese Fragen, die mich umtreiben, in den vergangenen Tagen. Ich bleibe meinem Kurs weiter treu. Das schulde ich denen, die das Werk der Zerstörung überlebt haben.