Zukunftsfragen unseres Landes

Seit Jahren beschäftigt mich und viele anderen Thüringerinnen und Thüringer die demographische Entwicklung unseres schönen Freistaats. Dabei sind Begriffe wie „demographischer Wandel“ oder „Demographiekrise“ mittlerweile allerdings, sicherlich auch durch ihren inflationären Gebrauch, zu bloßen Worthülsen verkommen, die bei einigen Menschen nur noch genervtes Schulterzucken hervorrufen.
Und trotzdem spüren wir die vielfältigen „Mangelerscheinungen“, die uns die Bevölkerungsentwicklung in den vergangenen Jahren beschert hat, an deren Ausgangspunkt knapp 500.000 junge, gut ausgebildete und hochmotivierte Menschen standen, die Anfang der 1990er-Jahre Thüringen in Richtung Westdeutschland verließen. Diese 500.000 Talente – vor allem aus den Jahrgängen 1973 bis 1983 – die unser Bundesland verlassen und sich im Westen eine gute Zukunft aufgebaut haben sind es, die heute fehlen – im Übrigen ebenso wie deren Kinder, die keine Ausbildungsverträge bei uns unterschreiben werden.
Die mentalen und sozialen Altlasten der 1990er-Jahre gepaart mit den Verwerfungen der Gegenwart inklusive der Nachwirkungen der Corona-Pandemie entfalten eine toxische Wirkung, die gegenwärtig das Stellen der großen Zukunftsfragen zu lähmen scheint.
Nüchtern betrachtet altern wir als Gesellschaft deutlich schneller als der Durchschnitt der Bundesrepublik. Eine Stadt wie Suhl gilt plötzlich (gemessen am Durchschnittsalter) als die älteste Stadt Deutschlands. 800 Lehrerinnen und Lehrer könnten sofort eingestellt werden, wenn es junge ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer in dieser Anzahl nur gäbe. Bis jetzt haben wir jeden Menschen, der die Voraussetzungen mitbrachte auch als Lehrer eingestellt. So sind in den letzten Jahren 6.500 neue Arbeitsverhältnisse begründet worden – mithin fast 40 Prozent des gesamten Lehrerbestandes. Gleichwohl fehlen 800 Personen. Es mangelt nicht an Geld oder Haushaltstiteln, sondern an ausgebildeten Menschen. Ein weiteres Beispiel: die Anzahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge in diesem Jahr hat im dualen Bereich der IHK’s und Handwerkskammern einen neuen Höchststand erreicht. Trotzdem sind tausende Ausbildungsplätze unbesetzt. Ein ähnliches Bild bietet sich auch im Bereich von Krankenhaus und Pflege. Es fehlt überall an jungen Menschen, die eingestellt und ausgebildet werden könnten. Die reine Arithmetik sagt, dass der Arbeits- und Ausbildungsmarkt in Thüringen sich längst mit ausländischen Menschen verstärkt. Die öffentliche Wahrnehmung scheint einstweilen noch eine andere zu sein, aber in Wirklichkeit ist der Bestand an ausländischen Arbeitskräften in Thüringen um den Faktor 10 von 6.872 ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bis zum Jahr 2022 auf 65.026 deutlich angestiegen. Auch bei den ausländischen Auszubildenden ist die Zahl aus dem Jahr 2010 von 260 im Jahr 2022 auf 2.597 eindeutig im Steigen begriffen. Allerdings wird auch dieser Aufwuchs bei Weitem nicht genügen, denn bis zum Jahr 2040 werden in Thüringen 23,9 % aller erwerbstätigen Menschen durch Rente und Pension in den wohlverdienten Ruhestand ausscheiden.
Die Arbeitskraftlücke, die sich so anbahnt, ist riesig. Aus all diesen Gründen existiert mittlerweile mit der ThAFF eine Zuwanderungs- und Arbeitskräftegewinnungsagentur des Landes, die von den Willkommenscentern der Kammern ergänzt wird. So war es beispielsweise die IHK Erfurt, die sehr früh mit der Technischen Universität Lwiw Ausbildungsrahmenverträge abgeschlossen und junge Leute aus der Ukraine zur Ausbildung nach Thüringen geholt hat.  Auf eine noch längere Geschichte kann eine Kooperation der IHK und der HWK in Südthüringen mit Vietnam zurückblicken, die bis heute sehr erfolgreich junge Auszubildende aus Asien in Thüringen begrüßt. Das Unternehmen „Fleisch- und Wurstwaren Schmalkalden GmbH Thüringen“ ist in diesem Kontext ebenfalls aktiv. Über dieses Engagement kamen in 2016 die ersten 30 Menschen nach Thüringen, in 2019 sogar 350. Deshalb baten mich auch die Präsidenten der HWK und der IHK eindrücklich darum, mit nach Vietnam zu reisen, um bei der festlichen Übergabe der Ausbildungsverträge dabei sein zu können und um gleichzeitig Gespräche mit der vietnamesischen Regierung zu führen. In Asien gilt es nämlich als ein besonderes Zeichen von Wertschätzung und Partnerschaft, wenn wirtschaftliche Initiativen von hohen politischen Repräsentanten begleitet werden. An dieser ersten Reise in 2019 nahmen 108 Unternehmerinnen und Unternehmer teil – die bis dahin größte deutsche Delegation in Vietnam. Heute arbeiten bereits 776 vietnamesische Auszubildende in Thüringens Unternehmen.
Neben der HWK und der IHK in Südthüringen war es außerdem der Thüringer Hotel- und Gaststättenverband von Herrn Ellinger, der im Zuge dieser Neupositionierung kraftvoll eingestiegen ist. Deshalb haben wir auch in den Thüringer Hotels und Gaststätten mittlerweile sehr viele junge Vietnamesinnen und Vietnamesen, die auf freundliche und sehr klare Art vorbildlich mit den Gästen umgehen und – wie ich mich erst vor einigen Tagen wieder in einem Erfurter Restaurant überzeugen konnte – ganze Lokale organisieren. Bei mir in Saalburg im Hotel Kranich sind gerade wieder zwei neue Auszubildende angekommen und auf eine junge Auszubildende als Köchin wird derzeit dringlich gewartet.
Überall höre ich nur Lob für das Engagement dieser jungen Leute und kann mich darüber sehr freuen. Das war auch einer der Gründe, warum wir in diesem Jahr den Entschluss fassten, erneut – dieses Mal sogar mit drei Delegationen – in Richtung Hanoi aufzubrechen. Während Herr Staatssekretär Feller aus dem Wirtschaftsministerium einer Delegation vorstand, betreute Ministerin Heike Werner eine Delegation mit Vertretern aus den Bereichen Gesundheit, Krankenhaus und Pflege. Ich hingegen war mit IHK-Vertretern, dem Präsidenten aus Südthüringen, dem Hauptgeschäftsführer aus Südthüringen, aber auch Frau Haase-Lerch, der Hauptgeschäftsführerin der IHK Erfurt sowie mit dem Präsidenten der Handwerkskammer in Südthüringen unterwegs – eine geballte Ladung an Verantwortungsträgern und Praktikern also, die als Unternehmer jeden Tag dafür sorgen, dass der Laden bei uns läuft. Auch Herr Holland-Moritz von der Fleisch- und Wurstwaren Schmalkalden GmbH Thüringen war abermals mit von der Partie.
Man konnte regelrecht spüren, wie stolz die IHK Südthüringen auf zwei besondere Erlebnisse in der letzten Woche schaute. Zum einen werden 80 junge Leute als Auszubildende in den nächsten Tagen ihren großen Flug Richtung Thüringen antreten – 50 im Bereich Handwerk und IHK und 30 im Bereich Pflege und Gesundheit. Dass wir in Da Nang außerdem mit der Fachschule für Lebensmitteltechnik eine Rahmenvereinbarung haben schließen können, in der die IHK Südthüringen die Curricula der Berufsausbildung abgeglichen hat mit dem vergleichbaren Berufsbild in Deutschland, kann ohne Übertreibung als echter Meilenstein bezeichnet werden. Nun werden 16 junge Absolventen, die ihren Techniker erworben haben, noch ein Sprachmodul durchlaufen, in dem sie jetzt unsere Sprache erlernen und dann spätestens in drei Monaten in vier Südthüringer Betrieben sehr konkret arbeiten – nämlich bei der Firma Fuchs Gewürze, der Meininger Wurstspezialitäten aus Thüringen GmbH genauso wie bei der Fleisch- und Wurstwaren Schmalkalden GmbH Thüringen sowie dem großen Nougat- und Süßwarenhersteller Viba. Sie alle freuen sich auf die Verstärkung durch diese 16 gut ausgebildeten Lebensmitteltechniker.
Dieses Vorgehen hat letztlich zum Ziel, gemeinsam mit Ausbildungszentren in Vietnam deren Ausbildungsinhalte mit unseren in einer Weise abzustimmen, dass am Ende ein vietnamesischer und ein IHK- oder HWK-geprüfter deutscher Abschluss als Ergebnis eines erfolgreichen Ausbildungsweges stehen kann. So können wir die gezielte Anwerbung von Arbeitskräften und Auszubildenden verstärken und breiter ausbauen. Weiterhin wollen wir natürlich in der Erstausbildung junge Leute nach Thüringen einladen. Unsere Zielstellung ist es, so jährlich 1.000 junge Menschen in Thüringen in Erstausbildungsverhältnisse zu bringen.
Daneben braucht es freilich auch die gezielte Bindung von gut ausgebildeten Fachkräften. Es ist daher besonders wichtig, dass unsere German Competence Academy, die mittlerweile Büros in Hanoi und Ho-Chi-Minh-Stadt unterhält, nun auch in Da Nang eine Zweigstelle eröffnet hat. Unsere Frau Tam  und ihr Team leisten da eine unglaublich positive Arbeit.

Am Ende unserer Reise besuchten wir die medizinisch-technische Hochschule in Da Nang und konnten dort mit eigenen Augen sehen, dass die Berufsqualifikation im Bereich Pflege und im Bereich Krankenschwestern auf einem derart hohen Level zu verorten ist, dass diese Hochschule derzeit für die USA und für Japan Fachpersonal ausbildet. Die uns begleitenden Vertreter aus den Krankenhäusern der privaten Pflege und der Sozialwirtschaft waren begeistert. Heike Werner als zuständige Ministerin hat nunmehr mit dieser Hochschuleinrichtung weitere Gespräche vereinbart und die Zusage aus Da Nang liegt vor, deren Ausbildungsmodule um ein Thüringen-Modul zu erweitern. In Zukunft sollen also für Pflege und Krankenhaus junge Leute in Vietnam ausgebildet werden, die berufspraktisch sofort bei uns eingesetzt werden können, gleichzeitig aber auch die notwendigen Sprach-Skills erwerben, so dass nach deutschen Standards die Berufsanerkennung von Anfang an erteilt werden kann.

In Vietnam selbst hatte ich sehr dicht getaktet unglaublich viele Gespräche. Von großem Wert war es, dass sämtliche Fachministerien von mir schon am Montag besucht wurden. So konnten wir bei allen Anschlussterminen immer darauf verweisen, dass mit dem Arbeits- und dem Gesundheitsministerium die Rahmengespräche schon geführt waren und wir gebeten sind, jetzt die nächsten Schritte zu konkretisieren.
Von der Schönheit des Landes konnte ich mich allerdings nur mit dem Blick aus dem Hotelzimmer überzeugen. Im Gegensatz zu einigen der Delegationsteilnehmer hatte ich keine Zeit, einmal einen Abstecher in die Berge oder zur Halong-Bucht zu machen. Ich hörte nur das Schwärmen von allen Beteiligten und muss ehrlicherweise zugeben, dass mein Terminkalender der am prallsten gefüllte war.
Auf dem Rückflug habe ich von allen Beteiligten unglaublich positive Rückmeldungen erhalten. Es gibt also viele positive Anzeichen, die mich ermutigen, die Brücke Vietnam-Thüringen als eine äußerst stabile bezeichnen zu können.
Ziemlich ermüdet und im Kampf gegen den Jetlag zurückgekehrt nach Thüringen stelle ich fest, dass manche Menschen in den öffentlichen Debatten immer noch nicht verstanden haben, warum wir jedes Talent in unserem Land brauchen. Tatsächlich begegnete mir in der Vorbereitung auf die Ost-Ministerpräsidentenkonferenz in Brüssel in dieser Woche der Begriff „Talentblock“. So wertet die EU die demographischen Zahlen unter anderem in Thüringen. Ein Block, der den weiteren Entwicklungsprozess gewissermaßen versperrt, weil wir nicht genügend junge Leute haben. Eine Herausforderung, die wir beherzt annehmen müssen. Warum wir also Menschen, die als Geflüchtete zu uns gekommen sind und liebend gerne bei uns bleiben würden, nicht den Weg in den Arbeitsmarkt ebnen, bleibt das Geheimnis manch einer Stammtischdebatte.
Ich sage es klar: Jesidinnen und Jesiden, immerhin 1.000 Personen, die in Thüringen derzeit ihr Leben organisieren möchten, stehen vor der Gefahr in den Irak oder nach Syrien ausgewiesen zu werden. Ich kann und will das nicht verstehen, denn diese Menschen sind fleißig, haben mit Islamisten nicht nur nichts zu tun, sondern sind Opfer genau derer, die meinen, sie müssten der Hamas zujubeln. Deshalb lohnt es sich auch, bei denen, die als Geflüchtete zu uns gekommen sind, genauer hinzuschauen damit wir Motivation und Perspektive abwägen. Hier gilt der Satz, den mir einmal ein Handwerksmeister gesagt hat: „Es ist egal, woher du kommst, aber nicht, wohin du willst.“ Wenn wir also auf die Zukunft unseres Landes schauen, brauchen wir jedes Talent, jede Hand und jeden Kopf.