Von der Rolle der Religion in unruhigen Zeiten

„Religion darf nie Teil des Problems, sondern muss immer Teil der Lösung sein!“

Diesen Satz hörte ich zum ersten Mal in Jerusalem, als der damalige Patriarch der katholischen Kirche in sein Amt eingeführt wurde. Ich hatte die Gelegenheit, im Rahmen meiner Arbeit als religionspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion der LINKEN an diesem Festakt teilnehmen zu dürfen. Diesen Satz von einem Vertreter der römisch-katholischen Kirche in Jerusalem derart gelassen ausgesprochen zu hören, hat mich sehr fasziniert und zum Nachdenken gebracht.

Die Aktualität der derzeitigen Kriege zwingt uns, genauer in das jeweilige Geschehen einzudringen – ob es der Überfall Russlands auf die Ukraine ist und sich dabei die russisch-orthodoxe Kirche mit ihrem obersten Repräsentanten auf die Seite des Krieges stellt, ob es der Bischof der evangelischen Kirche in Russland ist, den ich kennenlernen durfte und in dessen großer Kirche in Moskau Thüringen ein wunderbares Bachkonzert im Rahmen der großen Ausstellung der Lucas Cranach Bilder geben durfte. Er wurde nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine mehr oder weniger deutlich aufgefordert, das Land zu verlassen, weil die Sicherheitsbehörden Russlands sein Leben nicht schützen könnten. Oder ob es die große Friedenskonferenz der Religionen in Berlin ist, die die von mir sehr geachtete Gemeinschaft St. Aegidio durchgeführt hat und an deren Eröffnung ich teilnehmen konnte. Auch bei dieser Konferenz waren die Dissonanzen zwischen den westlichen und östlichen Religionsvertretern deutlich zu hören, aber zu spüren war eben auch der massive Konflikt in der muslimischen Welt zwischen Schiiten und Sunniten. Schaut man unter diesem Aspekt den mörderischen Terrorüberfall der Hamas auf die Menschen in Israel an, betrachtet man das wahllose Morden und den hassgetriebenen Drang, Jüdinnen und Juden zu massakrieren, begleitet von Äußerungen der Hamas-Führer, die das Ziel der Ausrottung jüdischen Lebens als oberste Maxime ihres Handelns angeben, dann wird deutlich, dass hier in jedweder Form Religion missbraucht und als Begründung für Mord und Totschlag herangezogen wird.

In Jena nahm ich im Jahr 2017 an einer Künstleraktion teil, die sich „Engel der Kulturen“ nennt – im Zentrum steht ein Künstler, der die drei Symbole der abrahamitischen Religionen verbunden und in ein Kunstwerk eingearbeitet hat, die in ihrer besonderen Anordnung das Bild eines Engels ergeben. In den letzten Tagen wird hingegen sehr holzschnittartig – und zwar mit Blick auf alle drei abrahamitischen Religionen – argumentiert. Tatsächlich sind sie inhaltlich eng miteinander verwoben. Alle drei berufen sich auf den Urvater Abraham – daher sprechen wir auch von den abrahamitischen Religionen. In keiner der drei Religionen gibt es einen Schutz vor dem Ismus. Den Staat Israel lehnen eben nicht nur Islamisten oder Vulgärtrotzkisten, sondern auch ultraorthodoxe Juden ab. Gleichzeitig erwarten sie, dass der israelische Staat Rücksicht auf sie nimmt, ihnen besondere Privilegien einräumt und dass sie auch ein entscheidendes Wörtchen mitzureden haben, wenn über den Bau oder die Förderung bestimmter Synagogen entschieden wird.

Der jetzige Premier Netanjahu arbeitet genau mit solchen Strukturen, in deren verlängerter geistiger Konsequenz eben auch die Jüdinnen und Juden stehen, die den Staat Israel an sich ablehnen. Aus dieser Perspektive lohnt es sich auch, das Geschehen auf der Westbank zu betrachten. Hierzu habe ich während eines meiner Besuche einmal einen längeren Text verfasst, der insbesondere die Wasser-Frage adressierte. Dennoch gilt: der Ausgangspunkt der jetzigen militärischen Reaktion Israels ist und bleibt der ungeheure Massenmord, den die Hamas zu verantworten hat und bei dem die Hisbollah bereitwillig militärisch mit eingreift. Selbst die Huthi aus dem Jemen scheinen nichts Besseres zu tun haben, als ebenfalls Raketen auf Israel abzuschießen. Hier wird deutlich, dass der Iran die Hand führt und das Konfliktpotential zwischen Schiiten und Sunniten geschickt für eigene Interessen ausnutzt. Irans großer Gegenspieler ist Saudi-Arabien. Von dort aus stützt und finanziert das absolutistisch regierende Herrscherhaus die Verbreitung des islamistischen Neofundamentalismus beispielhaft vertreten durch die Terrororganisation des sogenannten Islamischen Staates.

Andererseits ist Saudi-Arabien wiederum verbündet oder verpartnert mit den USA. Wen wundert es, dass US-amerikanische Truppen dort seit langer Zeit stationiert sind? Schon aus den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts rührt diese Kooperation, deren bestes Schmiermittel das saudische Öl darstellt.

Während der Iran vor der Machtübernahme durch Chomeini der englischen Machtsphäre zugeteilt wurde, war Saudi-Arabien den USA zugeordnet. Das heißt, das Starren auf die Religion hilft hier nicht weiter, auch wenn die Religion missbraucht wird, um damit Tötungskommandos zu rechtfertigen. Der tiefere Punkt scheint mir die internationale Verteilung der Ölressourcen und später noch der Erdgasressourcen zu sein, die das besondere Verhältnis zwischen den westlichen Industriestaaten und dem arabischen Raum prägen. Es ist der Kampf um die eben erwähnten Schmiermittel des fossilen Zeitalters, der mit Mord und Totschlag einhergeht. Der Jemen ist seit Jahren in einem zerstörerischen Zustand und der dort fortlaufende Völkermord wird in der internationalen Welt nicht einmal mehr zur Kenntnis genommen.

Doch blicken wir – um zum religionsgeschichtlichen Schwerpunkt dieses Beitrages zurückzukommen – zunächst in unsere eigene Geschichte.

Vor 506 Jahren nagelte Martin Luther seine 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg. Damit leitete er einen Prozess ein, der keine Kirchenspaltung zum Ziel hatte, sondern die katholische Kirche reformieren wollte. Es ging um den Ablasshandel, es ging um sehr viel Geld, es ging aber auch um die Machtverteilung zwischen Fürsten und Kirche. Letztlich ging es auch um die Frage der territorialen Unabhängigkeit vom Machtzentrum Rom. Was 1517 begann, sollte in einem 100-jährigen Prozess dazu führen, dass die Machtverhältnisse in Europa ins Wanken gerieten. Luther hatte die grundsätzliche Machtfrage zu Staat und Kirche nicht gestellt, aber die Frage des einzelnen Menschen zu seinem Gott sehr wohl. Dass der einzelne Mensch mit seinem Gottglauben nicht zu einem Finanzvehikel werden sollte, hat Luther massiv thematisiert und den Ablasshandel nicht nur kritisiert, sondern letztlich das Geschäftsmodell insgesamt zerstört. Gleichwohl war die Verelendung in der Zeit so massiv, dass die Bauern nur sieben Jahre nach dem Thesenanschlag ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen wollten. Die Aufstände von 1524 bis 1526 sind bis heute als Bauernkrieg bekannt. Auch wenn die Fürsten diesen Aufstand blutig niederschlugen – die grundsätzliche Machtfrage zwischen den Fürsten im Heiligen Römischen Reich war gestellt und wurde mittels der Kirchenspaltung zu einem mörderischen Konflikt. Nur scheinbar ging es um Religion, tatsächlich jedoch um Machtverhältnisse und Machtkämpfe – bspw. um die Frage nach dem Privileg der Kaiserwahl sowie Steuer- und Finanzvorrechte.

Zwischen 1618 und 1648 tobte dann der Dreißigjährige Krieg, der ganz Europa verwüstete – abermals ein machtpolitischer Konflikt, der als religiöse Auseinandersetzung verbrämt wurde. In dieser Zeit – genauer 1643 – erbaute Ernst der Fromme in Gotha das Schloss Friedenstein. Es war nicht als Prunkbau konzipiert, sondern kann tatsächlich als eine Art frühneuzeitliche ABM-Maßnahme begriffen werden, die dazu diente, den vom Krieg gebeutelten Handwerkern ein Auskommen zu ermöglichen. Der so genannte Friedenskuss ist der Schlussstein dieses Schlosses. In ihm ist der Satz: „Frieden ernähret, Unfrieden verzehret“ eingemeißelt.

Würden wir dieses Motto in der Gegenwart beherzigen, würden wir eine militärische durch eine Friedenslogik ersetzen, würden wir die Rede von Willy Brandt, die er bei der Verleihung des Friedensnobelpreises gehalten hat, wieder ernstnehmen, so würden wir verstehen, dass es nicht nur eine Friedenssehnsucht gibt, sondern eine Notwendigkeit, scheinbar religiöse Konflikte auf ihre tatsächlichen wirtschaftlichen und sozialen Ursachen hin zu untersuchen und zu dekonstruieren.

Außerdem lohnt es, sich ein wichtiges Buch zur Wiedervorlage zu nehmen, das die in Gotha beigesetzte Bertha von Suttner 1889 verfasst hat. In „Die Waffen nieder“ reflektierte sie bild-wie wortgewaltig das Leid und Elend, das Krieg über die Menschen bringt. Da geht es nicht nur um die getöteten Soldaten, sondern um das zerstörte Vertrauen zwischen den Menschen an sich, das eine der Grundvoraussetzungen für ein friedliches Miteinander bildet. Die bereits zitierte Maxime von Ernst dem Frommen scheint hier Pate gestanden zu haben.

Ein weiterer großer Denker, der ebenfalls in der Region Wittenberg-Leipzig große Spuren hinterlassen hat, Gotthold Ephraim Lessing, hat mit seinem berühmten „Nathan der Weise“ in der Ringparabel das Thema der drei miteinander konkurrierenden religiösen Kräfte am Beispiel dreier Söhne illustriert. Wer von den Dreien die einzige Wahrheit durch den einzig richtigen Ring erhalten hat, ist nicht zu klären. Aber dass der Vater alle drei geliebt hat, wird sehr deutlich. Und wenn sie alle drei gleich wertvoll sind, gibt es keinen Grund, sich gegenseitig zu hassen, zu missachten oder gar zu töten. Und hier schließt sich für mich ein Kreis. Es bedurfte eines 400-jährigen Prozesses vom Anschlag der Thesen, vom Beginn der Selbstermächtigung, im Glauben, von der Hoffnung auf Selbstermächtigung im eigenen Leben, bis hin zur Neusortierung der Verhältnisse zwischen Staat und Kirche und später dem freien Staatsbürger mit umfassenden Rechten, aber auch Pflichten.

Erst 1918 mit der ebenfalls in Thüringen erarbeiteten und im Schwarzatal unterschriebenen Weimarer Reichsverfassung entsteht das gleiche Wahlrecht zwischen Frauen und Männern, die Gleichrangigkeit aller Staatsbürger und die endgültige Trennung von Staat und Kirche. Laizismus als befreiender Schritt, damit Glauben ein individueller Anspruch des eigenen Lebens darstellt, aber auch die Entscheidung, ob man glaubt oder nicht, eine höchstpersönliche ist und bleibt. Fundament einer solchermaßen verstandenen Religionsfreiheit ist freilich die Bereitschaft und die Pflicht, keinem Gläubigen – egal, welchem Glauben er anhängen mag – seine Gläubigkeit abzusprechen oder als Ungläubigen zu stigmatisieren. Nur so kann ein gedeihliches Zusammenleben der Religionen möglich sein.

Ich finde es bedrückend, wenn Jüdinnen und Juden mit einer Kippa angegriffen, wenn muslimische Frauen wegen ihres Kopftuches attackiert werden oder ein offen getragenes Kreuz als Provokation aufgefasst wird. Und es ist Ausdruck der Intoleranz, wenn zum Beispiel die Türkei wie selbstverständlich ihre Imame nach Deutschland entsendet, aber Christen in der Türkei steigenden Repressionen ausgesetzt sind. Ich finde es gleichzeitig ausgesprochen schwierig, dass jeder, der aus dem arabischen Raum nach Deutschland kommt, derzeit unter dem Generalverdacht steht, Islamist zu sein. An Jesiden, Assyrer, Christen und Aleviten, die aus dieser Gegend kommen, scheint kaum wer zu denken. Deshalb wünsche ich mir auch mehr Differenzierung in der Debatte um geflüchtete Menschen. Ja, wer aus angeblichen religiösen Gründen Andersgläubige töten will, hat bei uns keinen Platz. Wer aber selbst mit dem Tode bedroht wird, wenn er seinen Glauben leben möchte, der braucht Schutz. Jesiden, Asyrer oder Kopten aus dem arabischen Raum, die bei uns Schutz begehren, dürfen nicht in den Irak oder nach Syrien abgeschoben werden.

Aufklärung heißt, religiöse Toleranz durch den Staat zu sichern. Ein moderner demokratischer Staat muss die Religionsfreiheit auch als Freiheit vor Repressalien garantieren und damit Religionsgewährung und Religionspraktizierung ermöglichen. Für mich bleibt der Kernsatz: „Religion darf nie ein Teil des Problems, sondern muss immer Teil der Lösung sein.“

Ich wünsche mir, dass die Unterschiede von Sprachen, Religionen, Abstammungen und Lebensweisen nicht spalten, sondern die sich aus diesen Unterschieden ergebende Vielfalt als echte Bereicherung des eigenen kulturellen und/oder religiösen Horizontes wahrgenommen wird. Die Ringparabel des Weisen Nathan muss uns dabei Leitstern sein – auch wenn ich keineswegs so naiv bin, zu glauben, dass Angegriffene nicht das Recht haben, sich zu verteidigen.

Aber die Zielperspektive des weltweiten Handelns müssen doch Frieden und Versöhnung sein. Diesen Gedanken zu denken, fällt in der aktuellen Lage auch mir schwer. Das grausame Morden, der Terror der Hamas liegen zu schwer auf uns allen. Über 1400 Menschen wurden am 07. Oktober getötet, 240 weitere als Geiseln entführt. Aus Gründen der Solidarität habe ich deshalb die Staatsflagge Israels vor der Thüringer Staatskanzlei aufgezogen. Dabei begleitete mich der Satz des Vorsitzenden unserer Jüdischen Landesgemeinde, Prof. Reinhard Schramm: „Man mag politisch den Staat Israel ablehnen, aber wir Jüdinnen und Juden wollen niemals mehr um Hilfe betteln, wenn unser Leben bedroht ist. Wir brauchen den Staat Israel als Garanten für den Schutz unserer Leben.“

Ich achte diesen Wunsch auch aufgrund unserer historischen Verantwortung. In Erfurt stand die Fabrik, die die Verbrennungsöfen für Auschwitz gebaut hat. Es ist das prägende Zitat aus Paul Celans Todesfuge, das mir diese Verantwortung wie kaum etwas Anderes illustriert: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland.“ Deshalb muss aus meiner Sicht die Perspektive für den Nahen Osten sein, endlich die Weichen zu stellen, durch die der UN-Teilungsplan, die Osloer Abkommen und die Ergebnisse von Camp David eine Klammer bilden können, die dazu führt, der Hamas endlich zu verunmöglichen, die Zivilgesellschaft im Gazastreifen in Geiselhaft zu halten und Israel die Möglichkeit gibt, auf der Westbank eine palästinensische Eigenstaatlichkeit zu ermöglichen.

Dieses Alles können wir allerdings nur realisieren, wenn wir uns unter den eingravierten Worten im Schlussstein des Schlosses Friedenstein versammeln und sie beherzigen würden:

„Frieden ernähret, Unfrieden verzehret.“