Opferrolle. Ein Sharepic und seine Folgen

Am 29. September 2019 um 09:36 Uhr speicherte ich auf meinem Handy das diesem Beitrag beigegebene Bild – entnommen vom Kurznachrichtendienst Twitter – ab. An den konkreten Anlass kann ich mich nicht erinnern, aber es schien mir ein satirisch so prägnant zugespitzter bildlicher Kommentar zu sein, dass ich ihn mir zum Mindesten aufbewahren wollte.

Am 3. Oktober 2023 kam es in dem thüringisch-bayerischen Ort Mödlareuth, genannt auch Little Berlin, zu einem sonderbaren Vorfall. Seit Jahrzehnten begeht dort die CSU ihre Feierlichkeiten anlässlich des Tags der Deutschen Einheit. Vor einigen Jahren entschloss sich offensichtlich auch die AfD, dort ihre Veranstaltung durchführen zu wollen. In diesem Jahr entschloss man sich, den Abschluss des AfD-Wahlkampfs zur Landtagswahl in Bayern werden und die Festveranstaltung zusammenzulegen und kündigte deshalb die AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel als Hauptrednerin an. Frau Weidel erschien allerdings nicht. Ein Sprecher der AfD verkündete dem Publikum, dass Frau Weidel aus Sicherheitsgründen nicht erscheine, da sie sich in einem Safehouse befinde. Anekdotisch angemerkt sei, dass die AfD in ihrem Pressestatement das Wort Safehouse falsch, nämlich mit „v“, schrieb und ich dieses Zitat später unter dem sog. „Opferrolle“-Post wiedergab. Ungezählt viele Empörte kommentierten anschließend, ich könne ja nicht einmal das Wort Safehouse richtig schreiben. Letzteres stimmt, denn ich bin bekanntermaßen Legastheniker und war gerade in einer großen ARTE-Dokumentation für viele Menschen als solcher auch erkennbar. In diesem konkreten Fall war diese Empörung natürlich unsinnig, da ich nichts falsch geschrieben, sondern lediglich das Zitat der AfD wiederholt hatte. Flugs ging es nicht mehr um die Sache, sondern nur noch um meine vermeintliche Unfähigkeit richtiges Englisch zu schreiben.

Dieses Beispiel illustriert überdeutlich, dass das Hauptziel und die Methode der AfD darin bestehen, konkrete oder auch nur angeblich konkrete Ereignisse zum Anlass zu nehmen, um sie in populistischer Zuspitzung als Vehikel zu benutzen, um bei Menschen heftige emotionale Reaktionen auszulösen.

Um es klar zu sagen: Jede Form von Gewalt gegen Menschen verurteile ich. Jede Form von körperlicher Auseinandersetzung, aber auch beleidigender und herabwürdigender Art gegen politisch Andersdenkende verurteile ich. Als vor dem Privathaus von Herrn Höcke in seinem Wohnort Demonstrationen durchgeführt werden sollten, habe ich das deshalb auch scharf kritisiert. Ich neige nicht dazu, mit zweierlei Maß zu messen. Ich möchte, dass vor keinem Privathaus Demonstrationen und Kundgebungen oder politische Auseinandersetzungen durchgeführt werden und ich verurteile es, wenn unbeteiligte Dritte in politische Auseinandersetzungen hineingezogen werden. Wer demonstrieren will, kann dies unter Einhaltung der dafür festgelegten Regeln selbstverständlich – aber dann bitte auch an den Orten , an denen Politik entsteht – tun, bspw. amThüringer Landtag oder der Thüringer Staatskanzlei. Meine Kritik an den Montagsdemonstrationen ist nach wie vor, dass ein größerer Teil dieser Aufzüge bis heute weder angemeldet noch ordnungsrechtlich korrekt begleitet wird. Mir mag der Inhalt nicht gefallen, aber ich würde sie respektieren, wenn wenigstens die Regeln, die für alle gelten, auch von allen eingehalten würden. Das ist mein Maßstab, an dem ich sämtliche politische Willensbekundungen im öffentlichen Raum zunächst messe.

 

Es gibt eine weitere Erkenntnis aus der Sharepic-Debatte. Hat in 2019 auf Twitter die Opferrolle fast gar keine größere Welle ausgelöst, so ist es diesmal für mich erstaunlich, dass mein Tweet dieses Mal über 1,4 Millionen Viewer erreichte und Stand heute 1.250 Reposts und 638 Zitierungen aufweist. Das heißt, dass sich auf dem ehemaligen Twitter-Kanal einiges geändert haben muss, wenn die ein einziger Tweet binnen weniger Stunden so viele Hassnachrichten und Gewaltfantasien an die Oberfläche spült. Elon Musk hat Twitter (jetzt: X) massiv umgebaut. Ich gehe davon aus, dass mittlerweile der Algorithmus darüber entscheidet, wer meine Nachrichten sieht und wer nicht.

 

Das frühere Twitter ist zu einer politischen Waffe geworden, die auf Desinformation und Verunglimpfung setzt und damit eine enorme Reichweite erzielt. Dazu kommt, dass Journalismus, der sich ausschließlich an dem Kanal X orientiert, ebenfalls in schwierige Fahrwasser gerät. Wenn ich in journalistischen Werken lese, dass mein oben genannter Tweet sich auf Herrn Chrupalla und seinen Krankenhausaufenthalt beziehe oder dass ich Herrn Chrupalla herabwürdige bzw. die Schwäche von Herrn Chrupalla ausnutze, um die AfD lächerlich zu machen, dann wundere ich mich über solche journalistischen „Meisterwerke“. An jenen Beispielen wird allerdings die oben bereits beschriebene Methode AfD abermals deutlich. Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann von der CSU nannte diese wahlkampftaktisch motivierte Strategie in der vergangenen Woche „infam und hinterfotzig“. Daraufhin wurde Joachim Herrmann massiv angegriffen.

Allein im bayerischen Landtagswahlkampf könnte man allerdings mindestens drei Vorkommnisse nennen, die wenigstens bei mir einige Fragezeichen zurücklassen. So berichtete das Nachrichtenportal t-online unter der Überschrift „Das Opferdilemma des Andreas Jurca“ über die Verletzungen, die den Stadtrat auf einmal über Nacht zu dem deutschlandweit bekanntesten AfD-Kandidaten im bayerischen Landtagswahlkampf gemacht hat. Was wirklich in der Nacht passiert ist, wissen wir bis heute nicht. Klar ist aber, dass mehrere Ermittlungsverfahren laufen und bei zwei Tatverdächtigen gerade Hausdurchsuchungen durchgeführt wurden. Wenn ich es richtig beurteile, gibt es aber auch ein Ermittlungsverfahren oder mindestens eine Strafanzeige wegen Vortäuschung einer Straftat. Wir wissen also nicht wirklich genau, was geschehen ist, denn die Aussagen, die Andreas Jurca selbst am nächsten Morgen über parteieigene Kanäle verbreitete, lesen sich anders als das, was derzeit die Ermittlungen vermuten lassen. Deuteten die öffentlich gewordenen Bilder des Andreas Jurca tatsächlich auf ein sehr schmerzhaftes Vorkommnis hin, so bleibt doch ein merkwürdiger Beigeschmack. Warum suchte Andreas Jurca nicht sofort ein Krankenhaus auf? Selbst der AfD nahestehenden Medien fanden die Widersprüche nach einiger Zeit so augenfällig, dass auch im rechten Spektrum laut über sie debattiert wurde.

Klar bleib trotzdem: körperliche Angriffe dürfen nie akzeptiert werden und werden von mir scharf verurteilt.

 

Das zweite Vorkommnis deutete ich bereits an – nämlich die Situation um Alice Weidel und ihren möglichen Aufenthalt in einem Safehouse. Da ich selbst Schutzperson bin, weiß ich, wie das in den Medien beschrieben Prozedere des Bundeskriminalamtes oder des Landeskriminalamtes funktioniert. Ich wundere mich deshalb, dass das Bundeskriminalamt, das für den Personenschutz von Bundespolitikern zuständig ist, auf Nachfrage von Journalisten erklärte, dass eine entsprechende Schutzempfehlung nicht vom BKA, also dem eigenen Personenschutz, gekommen sei. Nach dem, was man heute lesen kann, gab es tatsächlich an ihrem Wohnort in der Schweiz einen sicherheitsrelevanten Vorfall. Wer aber letztlich die Empfehlung gegeben hat, ein Safehouse aufzusuchen, woher der Begriff Safehouse überhaupt kommt, ist völlig unklar. Warum der Sprecher der AfD in Mödlareuth genau diesen Begriff dann benutzt hat, bleibt das Geheimnis der AfD. Weder der Personenschutz des BKA noch die Schweizer Sicherheitsbehörden würden solche Details veröffentlichen oder gar bestätigen. Das ist ja gerade ein elementarer Bestandteil des Schutzkonzepts. Ich bleibe dabei: wenn Frau Weidel mit ihrer Familie Urlaub machen wollte, hat sie ein Recht darauf. Wenn sie eine Wahlkampfveranstaltung zugesagt hat, aber es gleichwohl besser wäre, kräfteschonend ein paar Tage Ruhe zu genießen, hat auch Frau Weidel ein Recht darauf. Sollte sich allerdings herausstellen, dass der Verweis auf Sicherheitsbedenken vorgeschoben war, wäre das schon ein bemerkenswert starkes Stück.

 

Der dritte Vorfall im bayerischen Landtagswahlkampf ereignete sich schließlich am Rande der Abschlussveranstaltung des AfD-Wahlkampfes, auf der auf Herrn Chrupalla mit einer Giftspritze ein Mordanschlag verübt wurde. So jedenfalls äußerten sich andere Spitzenkandidaten der AfD nach den Vorkommnissen.

Bereits am 06.10. titelte allerdings die BILD-Zeitung: „Der Fall Chrupalla wird immer rätselhafter“! Da der von der AfD selbst verbreitete Arztbrief so interpretiert werden kann, dass es sich um einen Giftanschlag hätte handeln können und von „intramuskulärer Injektion“ oder auch einer „Injektion mit unklarer Substanz“ die Rede ist, verwundert es umso mehr, wenn der Befund der Blutuntersuchung bekannt wird und die große Überschrift in der BILD-Zeitung schließlich lautet: „Kein Gift im Körper“.

Schaut man sich dann auf dem Kanal X um bzw. liest und hört Interviews von Personen, die in Ingolstadt an der AfD-Veranstaltung teilnahmen, findet man schnell auch Hinweise, die darauf hinweisen, dass eine körperliche Beeinträchtigung bei Herrn Chrupalla offenbar schon bei der Ankunft sichtbar gewesen sein soll. Er soll nach dem Aussteigen aus dem Wagen geklagt haben, dass ihn ein Schmerz plage.

Um auch hier nicht falsch verstanden zu werden: sollte sich Herr Chrupalla im Wahlkampf so stark verausgabt, dass sein Körper irgendwann streikte, ist das nachvollziehbar und auch mir nicht unbekannt. Wer in erster Reihe Wahlkampf macht, der geht häufig an seine körperlichen und mentalen Grenzen – manchmal auch darüber hinaus. Überhaupt ist Politik – zumal in Spitzenfunktionen – kein besonders gesundes Geschäft. Erst vor einiger Zeit musste ich mich mit einem positiven Corona-Befund auch aus der Öffentlichkeit zurückziehen und alle Termine absagen. Herrn Chrupalla wünsche ich selbstverständlich gute und vollständige Genesung.

Die Begleitmusik zu diesem Vorfall war allerdings an Schrillheit kaum zu überbieten. Sofort war die Rede von einem Giftanschlag, von einer Giftspritze und es wurde damit ein feiger Mordanschlag insinuiert. Die Staatsanwaltschaft selbst teilte allerdings mit, dass in der Blutprobe kein Gift gefunden wurde. Auf Nachfragen von Journalisten nach der Einstichstelle befragte die Polizei den Arzt noch einmal, der den Befund geschrieben hatte.  Dieser wiederum teilte mit, dass diese Angabe gemeinsam mit Herrn Chrupalla so entstanden sei.

Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann dürfte diese drei Vorgänge gemeint haben als er in oben beschriebener Weise positioniert hat.

Heute weiß ich um die Ursprünge des ursprünglichen „Opferrolle“-Sharepics. So war 2013 gemeldet worden, dass es einen Messerangriff in Bremen im Bürgerpark gegen den damaligen Parteivorsitzenden Bernd Lucke gegeben habe. Am 24. August 2013 berichtete die FAZ: „AfD-Chef Lucke bei Wahlkampfveranstaltung angegriffen“. Acht Vermummte hätten die Bühne gestürmt und ihn zu Boden gestoßen, führt die FAZ aus, aber Lucke sei unverletzt, habe die Polizei mitgeteilt. Dass diese Darstellung allerdings von der AfD selbst stammte und ungeprüft von der Polizei übernommen wurde, wurde erst später bekannt. Im Artikel heißt es weiter, die Polizei vermute, dass sich bis zu 20 Angreifer in den Büschen versteckt hätten. Beim Handgemenge auf der Bühne und bei der anschließenden Verfolgung wurden den Angaben nach 15 Personen durch Reizgas, ein AfD-Mitglied zudem durch einen Messerschnitt an der Hand, verletzt. Drei Angreifer wurden bei der Verfolgung, an der sich neben Polizisten auch Parteifreunde Luckes beteiligten, festgenommen.

Am 14. März 2018 berichtet die taz schließlich unter der Schlagzeile: „Schubser des Grauens – AfD-Propaganda vor Gericht entlarvt“ über das Nachspiel des soeben geschilderten Vorganges. Der Überfall von 2013 kam jetzt vor Gericht. Der Fall zeigt, wie dreist die AfD schon damals log und endete mit einem Freispruch. Im Artikel heißt es, die AfD wusste schon 2013 sehr genau, wie Propaganda funktioniert.

Tatsächlich – so stellte das Gericht fest – hatte es einen Vorfall gegeben – allerdings anders, als die AfD es geschildert hatte. Zwei Personen waren auf die Bühne gekommen und hatten Herrn Lucke tatsächlich von der Bühne geschubst.

Dieses ist selbstverständlich ein körperlicher Angriff und ich verurteile so etwas aufs Schärfste. Was daraus allerdings gemacht wurde war etwas ganz Anderes. Insoweit war am Ende der Angeklagte freizusprechen, weil kein einziger Zeuge in der Lage war, etwas Belastbares auszusagen. Das Gericht stellte fest, dass zumindest der Angeklagte nicht daran beteiligt gewesen sein kann.

Ein weiterer Vorgang aus dem Januar 2019 ist seinerzeit unter dem Rubrum Kantholz-Gate bekannt geworden. Es ging dabei um den AfD-Politiker Frank Magnitz, der in Bremen – so die AfD in ihren eigenen Presseveröffentlichungen – einem Mordanschlag entgangen sei und diese Gewalteruption das „Ergebnis rot-grüner Hetze“ gewesen sei. Die AfD führte in ihrer Presseerklärung aus: „Mit einem Kantholz schlugen sie ihn bewusstlos und traten weiter gegen seinen Kopf, als er bereits am Boden lag.“ Die Polizei führte sinngemäß, dass weder der Einsatz eines Schlaggegenstandes noch Tritte gegen den Kopf zweifelsfrei festgestellt werden könnten. Später erläuterte die AfD-Pressevertretung, dass man heute eine solche Presseerklärung nicht mehr abgeben würde, aber man bedaure, dass man die Angaben verwendet habe, die unmittelbar nach der Tat eben vorgelegen hätten. Auch hier bleibt es festzustellen, dass es zu einem Angriff gekommen ist. Auch hier sage ich deutlich, dass ich jede Form von Gewalt verurteile und es für sie keine, aber auch wirklich keine Rechtfertigung gibt.

Betrachtet man die von mir geschilderten fünf Vorfälle, so bleibt der fade Beigeschmack, dass die Anlässe genutzt wurden, um sie jeweils zu überhöhen und sie damit auf einer anderen Ebene instrumentell nutzen zu können. Zuallerletzt sei erwähnt, dass vor wenigen Tagen Herr Höcke sich in einem ebenfalls über X verbreiteten Video massiv darüber beschwert hat, dass der FOCUS ihm einen Fragenkatalog zugestellt hätte. Die Empörung war ihm sichtlich anzusehen und er fragte sehr theatralisch seine imaginären Zuhörer in dem ihm eigenen Duktus, wie empörend doch solche Fragen seien. Einige Tage später las ich im Pressespiegel des Thüringer Landtages den FOCUS-Artikel und war verdutzt.

Der Artikel machte deutlich, dass es tatsächlich einen Vorfall gab, der die Fragen nachvollziehbar erscheinen lässt. Ein beteiligter Pfarrer konnte sich offenbar an einen sehr aufwühlenden Vorfall erinnern, nur nicht mehr, was im Konkreten Herr Höcke im Anschluss gesagt habe. Die Ansprache sei ihm gar nicht mehr erinnerlich gewesen, weil der Vorfall davor ihn so emotionalisiert habe. Mir steht es nicht zu, dieses zu beurteilen oder zu bewerten, aber wenn es Personen gibt, die den Vorfall so erlebt haben, bleibt doch die Frage, warum man einen Spitzenpolitiker als Journalist dann nicht genau nach diesem Vorfall fragen darf. Die Art und Weise, wie allerdings das Video schon so gezielt vor der Veröffentlichung des Artikels die Empörung in Richtung des Journalisten gelenkt hat, macht deutlich, dass man die Beantwortung von berechtigten Fragen schon im Keim ersticken will.

Im FOCUS führt deshalb der Politologe Benjamin Höhne aus „dass das Einigeln in einer Opferrolle zum Standardrepertoire des Rechtspopulismus gehört.“ Diesem Zitat habe ich nichts mehr hinzuzufügen außer mein Sharepic von 2019.