Der Ukrainekrieg oder Vom Ende einfacher Gewissheiten

Seit beinahe zehn Monaten führt Russland nunmehr einen verbrecherischen Krieg gegen seinen Nachbarn, die Ukraine. Dieser Krieg trifft nicht nur die Welt in einer Zeit vielfältiger Krisen, sondern hat auch die politische Linke und mich ganz persönlich an einer sehr empfindlichen Stelle – nämlich unserem Kampf für Frieden und Abrüstung – getroffen.

Seitdem ich mich erstmals zu diesem Krieg und seinen Folgen geäußert habe, begegnet mir immer wieder die Vorhaltung, dass ich ohne Grund und ohne Not Waffenlieferungen an die Ukraine für genehmigungsfähig hielte. Insinuiert wird dabei regelmäßig, ich sei ein Kriegstreiber und verstünde nicht, dass die Lieferung von Waffen die Gewaltspirale ins Endlose verlängern würde. Überdies würde ich die Aggressivität US-amerikanischer Außenpolitik verkennen, relativieren oder negieren.

Zu  meiner eigenen Biographie sei darauf hingewiesen, dass ich in der Ostermarschbewegung in Hessen sozialisiert und groß geworden bin. Für mich waren deshalb Sitzblockaden nicht nur während der Ostermärsche auch vor amerikanischen oder bundesrepublikanischen Kasernen bekannter Demonstrationsalltag. Meine Position, die Atomwaffen von Büchel abzuziehen und im weltweiten Maßstab atomare Abrüstung zum oberstes Ziel von politischem Handeln zu machen, habe ich ebenfalls nicht aufgegeben. Mein politisches Werden ist außerdem geprägt vom Putsch in Chile, vom Vietnamkrieg, aber auch der US-amerikanischen Intervention in Grenada.

Dass ich als Ministerpräsident in Vietnam neben dem abgeschossenen B52 im Kriegsmuseum stehen durfte und mir die Originalbilder des Massakers von My Lai anschauen konnte, gleichzeitig aber mit der vietnamesischen Regierung über eine wunderbare Kooperation zwischen Vietnam und Thüringen nicht nur reden und verhandeln durfte, sondern sie auch bis heute ganz konkret umsetzen darf, hätte ich mir nie schöner vorstellen können.

Als Bundesratspräsident konnte ich kürzlich auf einer Auslandsreise nach Chile an Salvador Allendes Grab einen Kranz niederlegen und wichtige Gespräche mit den Opfern der Pinochet-Diktatur – unter anderem in der ehemaligen Colonia Dignidad – führen. Das alles hat mir viel Kraft gegeben.

Aus diesem Grund möchte ich noch einmal auf die Umstände aufmerksam machen, unter denen ich nach dem 24. Februar 2022 an mehreren Stellen meine Positionen zu Wladimir Putin und der russischen Regierung geändert habe. Bis zum 23. Februar 2022 ging ich davon aus, dass Putin nicht die Unwahrheit sagte und das, was sich an der Grenze zur Ukraine abspielte, tatsächlich nur eine Übung sei. Am 24. Februar ist dieses Lügengebäude Putins eingestürzt.

An diesem Tag, und darauf darf ich hinweisen, war ich Bundesratspräsident und musste als solcher gemäß Artikel 53 a in Verbindung mit 115 e Grundgesetz immer im Blick haben, dass ich im Verteidigungsfall in der Rolle als Bundesratspräsident dem gemeinsamen Ausschuss gemäß Grundgesetz angehören und damit Teil des sogenannten Notparlamentes sein würde, welches im Verteidigungsfall die Verantwortung übernehmen muss. Bislang war es allerdings auch nie notwendig, über die Artikel 53 a bzw. 115 e Grundgesetz nachdenken zu  müssen.

Als thüringischer Ministerpräsident bin ich weiterhin sehr unmittelbar von der Kriegssituation insofern betroffen, als dass in Litauen der dortige NATO-Verbund von Truppen aus Thüringen geführt wird. Soldatinnen und Soldaten aus Bad Salzungen und aus Bad Frankenhausen sind regelmäßig die Vertreterinnen und Vertreter, die mit ihren unterschiedlichen Bundeswehraufgaben dort die Koordination im Verteidigungsfall zu sichern haben. Der Landtag in Thüringen ist verpartnert mit dem litauischenParlament, dem Seimas. Hier habe ich darauf aufmerksam zu  machen, dass in der Duma in Moskau ein Antrag auf Aufhebung der Souveränität Litauens gestellt und bis heute weder zurückgewiesen noch bearbeitet wurde. Sollte die Duma jemals die Souveränität Litauens aufheben, befinden wir uns im NATO-Beistandsfall. Dann greift der gemeinsame Ausschuss und greift die Verantwortung eines Ministerpräsidenten, dessen Landeskinder direkt an der Front stünden.

Meine Aussagen hinsichtlich Waffenlieferungen bezogen sich dabei nicht einzig auf die Ukraine, sondern spiegeln eine meiner Grundüberzeugungen wider, die sich schließlich bei meinen Staatsbesuchen in Rumänien und Polen sogar noch deutlich verfestigte. Gerade die mittel- und osteuropäischen Staaten haben panische Angst vor dem, was sie an russischer Aggression gerade mittelbar bereits spüren. Die Vertreter in Moldau wissen ganz genau, was es heißt, dass der Transnistrien-Konflikt bis heute nicht gelöst ist.

Auch die schwierige Situation in Georgien oder die schwelende Kriegsgefahr in Armenien sind tagesaktuelle Krisenherde. Dieses bedenkend habe ich den Satz geäußert, dass sich ein angegriffener Staat – auch die Ukraine – gegen seinen Angreifer verteidigen können muss, indem er sich Waffen beschafft. Ich habe bewusst im Konjunktiv davon gesprochen, weil ich aus der Perspektive einer staatlichen Genehmigungs- oder Versagensbehörde abzuwägen habe, ob die andere Kriegspartei nicht ebenfalls längst mit entsprechender Technik versehen worden ist. Als ich den Satz ausgesprochen habe, war klar, dass Russland zu dieser Zeit schon mit entsprechender Militärtechnik von Rheinmetall versorgt worden ist. Die Panzerausbildungszentrale und die Führungsstände, mit denen Gefechtsübungen mit Panzern simuliert werden, sind alle von Rheinmetall geliefert worden, auch wenn scheinbar die Schlusslieferung nicht mehr erfolgt ist. Gleichwohl hat es lange Zeit eine Kooperation der NATO mit Russland, aber auch mit Deutschland gegeben.

In einem Punkt bin ich mittlerweile sehr entschieden. Wladimir Putin repräsentiert ein System der Autokratie und die ihn umgebenden Oligarchen sind permanent damit beschäftigt, ihr eigenes Volk auszurauben, eine gemeinsame Entwicklung für breite Bevölkerungsschichten zu verunmöglichen und die riesigen Vermögensmassen ins Ausland zu verschieben. Das mag in Teilen der Ukraine und anderen osteuropäischen Staaten nicht anders sein, die Paläste von Erdogan und Orban lassen grüßen.

Insofern ist das heutige Russland eben nicht die frühere Sowjetunion und das, was heute russische Politik ist, ist ebenso aggressiv wie chauvinistisch. Putin führt einen imperialen Krieg, der sich militärisch derzeit gegen die Ukraine richtet, aber tatsächlich mit all seinen Drohgebärden auch ein Zeichen an die anderen mittel- und osteuropäischen Staaten ist.

Letztlich kann ich nicht verstehen, warum in linken Kreisen Wladimir Putin, der in ganz Europa die Rechten unterstützt, immernoch vom Nimbus eines postsowjetischen Friedensengels umgeben ist. Weder ist er links, noch interessieren ihn progressive Bewegungen. Die Innenpolitik in Russland richtet sich gegen alles, was mir an gesellschaftlichem Fortschritt in Deutschland und Thüringen wichtig ist. Die Regenbogenfahne, die ich immer wieder vor der Staatskanzlei aufziehen lasse, das Eintreten für LGBTIQ-Rechte und unsere Kooperation zwischen der KZ-Gedenkstätte Buchenwald-Dora und der mittlerweile verbotenen Stiftung Memorial zeigen, wie weit meine Positionen mittlerweile von der russischen Realpolitik entfernt sind.

Das Beispiel von Memorial macht deutlich, dass das, was in Russland betrieben wird, Geschichtsfälschung und Geschichtsvergessenheit ist. Ich freue mich daher, die Festrede zum Menschenrechtspreis in Weimar für die Organisation Memorial halten zu dürfen und ich bleibe dabei, dass mein Satz „Angegriffene müssen sich verteidigen können“ im erwähnten Kontext zu dieser Haltung passt.

Vor der Thüringer Staatskanzlei hängen zwei Transparente, auf denen geschrieben steht: „Worte statt Waffen“. Diese Botschaften sind kombiniert mit der Friedenstaube. An den Fahnenmasten der Staatskanzlei hängt die ukrainische Staatsflagge. Dies ist mein Zeichen einerseits für Diplomatie und Ausgleich und andererseits für die Wehrhaftigkeit Angegriffener. Nur so wird sich die Aggression Russlands beantworten lassen.

Letztlich wird es nur Frieden geben können, wenn die russische Armee sich aus der Ukraine zurückzieht und in Mittel- und Osteuropa ein gemeinsames Gefühl der Sicherheit zwischen den Staaten auf gleicher Augenhöhe geschaffen wird. Wenn in diesem Kontext dann endlich eine Weltfriedensordnung und ein Weltsicherheitssystem entstehen würden, bei denen nicht mehr einzelne Nationalstaaten isoliert das Kommando haben, sondern die Kontinente insgesamt in Prozesse eingebunden sind, wie sie durch den KSZE-Prozess einst eingeleitet wurden, ist eine andere Welt denkbar. Und in dieser Welt wäre ich mehr als glücklich, wenn das Grundgesetz ein Waffenexportverbot für die Bundesrepublik gesetzlich normieren würde.