Krieg in der Ukraine – Antwortsuche nach einer Zeitenwende

Am Morgen des 24.02.2022 erwachte die Welt in einer neuen Zeit. Der russische Präsident Putin hatte in der Nacht zum Donnerstag den Angriff seiner Streitkräfte auf das Nachbarland Ukraine befohlen. Mit diesem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg hat Putin in wenigen Stunden all die vermeintlichen und tatsächlichen Gewissheiten auf den Kopf gestellt, die in einer multipolaren Weltordnung zumindest einen letzten Rest Verbindlichkeit und Sicherheit garantierten.

Die Schockwellen dieses Morgens waren für mich, wie für alle Menschen, unmittelbar zu greifen. Aber – und das wiederum spendete mir als jemandem, der bereits in den 1980er-Jahren engagierter Teil der Friedensbewegung war, Zuversicht – viele Menschen verfielen eben nicht der Schockstarre, sondern machten sich ganz im Gegenteil bereits am selben Vormittag auf, um Kundgebungen und Demonstrationen für den Frieden zu organisieren. Hier reichten sich die unterschiedlichsten Gruppen und Personen die Hand – die einen mit engen Bezügen zu Russland, die anderen mit Freunden oder Wurzeln in der Ukraine. Sie verband schon am Donnerstag über alle Kleinlichkeiten des Alltages eines – die Sorge um den Frieden und die Bevölkerung der Ukraine, die unschuldig Opfer des Aggressors Putin wurden. Ja, außenpolitische Betrachtungen und Analysen bedürfen immer eines differenzierten Blickes, der Grautöne eher hervorhebt als das Schwarz und Weiß. Und doch nennen auch die Demonstranten in der aktuellen Situation Ross und Reiter klar beim Namen – Putin – explizit nicht das russische Volk – ist Aggressor, die Ukraine und ihre Bevölkerung sind die Angegriffenen.

In diesem Geist der Solidarität mit der Ukraine fanden sodann auch Donnerstag- und Freitagabend Kundgebungen zunächst in Weimar und dann in Jena statt. Bei beiden war ich anwesend. Besonders die Jenaer Manifestation war beeindruckend, standen wir doch an jenem Ort, an dem bereits die Friedensbewegung der 1980er-Jahre die Repression des DDR-Staatsapparates zu spüren bekommen hatte. Damals in Jena war es wirklich mutig für Frieden auf die Straße zu gehen – genauso wie in Moskau heute. Wie damals weiß man als russischer Friedensaktivist heute nicht, ob man die Nacht im eigenen Bett oder in Haft verbringt. Über diese Erfahrungen sprachen auch die Jenaer Redner am Freitag. Sie schilderten, wie totalitäre Strukturen den Ruf nach Frieden versuchen zu ersticken und was es zu DDR-Zeiten hieß, mit einem „Schwerter zu Pflugscharen“-Signet durch die Straßen zu gehen. Im Vorfeld der Veranstaltung entstand außerdem binnen kürzester Zeit der Jenaer Erlanger Appell, unterzeichnet von mir und vielen Akteuren aus Zivilgesellschaft und demokratischen Parteien – unter ihnen auch der OB und alle ehemaligen OB’s von Jena. Sogar der Fraktionsvorsitzende der CDU im Thüringer Landtag, Prof. Mario Voigt, hatte unterschrieben und war letztlich nur aus Termingründen nicht bei der Kundgebung anwesend.

Es hat mich  sehr berührt, dass die Initiatoren ausdrücklich auch Bezug nehmen auf meinen Vorschlag für einen neuen europäischen Friedensprozess und zeigte mir wieder einmal, dass Frieden, die Sehnsucht nach und der Kampf für ihn eben nicht etwa parteipolitisch klar verortet sind, sondern viel mehr zentrale Bestandteile des menschlichen Grundbedürfnisses nach einem sicheren Leben darstellen.

Am Samstag schließlich besuchte ich in Altenburg die Friedensmahnwache des dortigen Friedenskreises. Auch OB Neumann kam dazu und so standen er und ich – der LINKE und der Christdemokrat – Seit‘ an Seit‘, um ein Zeichen für den Frieden zu setzen.

Im politischen Raum haben wir als Thüringer Landesregierung unmittelbar nach Russlands Angriff Konsequenzen gezogen und die Voraussetzungen geschaffen, um möglichst schnell flüchtenden Menschen aus der Ukraine in Thüringen einen sicheren Hafen zu bieten. Binnen weniger Stunden wurden 3000 Quartiere mobilisiert und ich selbst habe darum gebeten, alle in Landeshand befindliche Liegenschaften daraufhin zu prüfen, ob sie schnell zum Wohnraum für Hilfesuchende umfunktioniert werden können.

Darüber hinaus erweist sich das Kommunikations- und Kontaktnetz zwischen Thüringen und der Ukraine als äußerst stabil. Zahlreiche Organisationen sowie tausende Menschen mit familiären oder verwandtschaftlichen Bezügen in die Ukraine organisieren zur Stunde Hilfslieferungen und bieten Anlaufpunkte für Menschen an, die vor dem Krieg fliehen.

Unterdessen haben wir auch den Angriffskrieg Russlands zum Anlass genommen, um in unseren Schulen mit den Schülerinnen und Schülern intensiv über die kriegerische Gewalt, die uns nun alle über die TV-Bildschirme erreicht, zu sprechen. Die Rückkehr des Krieges nach Europa soll Anlass sein, für eine reflexive und gleichzeitig didaktisch anspruchsvolle Friedenserziehung und Konfliktsensibilisierung.

Ich hätte – über 30 Jahre nach dem Ende der Systemkonkurrenz – niemals gedacht, als Ministerpräsident unseres Freistaates solche Entscheidungen treffen zu müssen. Die gute Nachricht ist freilich, dass wir mit kühlem Kopf all diese Herausforderungen meistern – als politische Verantwortungsträger, aber auch als Zivilgesellschaft, die die Augen vor Gewalt und Krieg nicht verschließt.

Am Sonntag fuhr ich mit diesen Eindrücken im Gepäck nach Berlin zur Sondersitzung des Bundestages, an der ich als Bundesratspräsident teilnahm. In dieser Funktion war es mir besonders wichtig, durch meine Anwesenheit deutlich zu machen, dass die Länder in dieser schweren Zeit fest an der Seite der Bundesregierung und des Bundestages stehen, der notwendigerweise und zurecht nicht schweigen darf, wenn es darum geht, klar Position gegen kriegerische Aggression zu beziehen. Es braucht jetzt wirksame Maßnahmen und Sanktionen gegen all diejenigen, die mit dem Krieg kalkuliert haben und – wie beispielsweise die russischen Oligarchen – das System Putin am Laufen halten.

Regelrecht entsetzt war ich jedoch von der Rede Friedrich Merz´, der die Friedensbewegung und die Ostermärsche der 1980er-Jahre verächtlich machte. Als einer, der dabei war, kann ich diese Anwürfe so nicht stehen lassen. Das Lied, das wir damals auf den Lippen trugen, ist heute brandaktuell: „Marschieren wir gegen den Osten? Nein! Marschieren wir gegen den Westen? Nein! Wir marschieren für `ne Welt, die von Waffen nichts mehr hält. Denn das ist für uns am besten.“ Diese Zeilen mögen einigen als weltfremde Träumerei erscheinen. Das waren sie aber nie. Das Ende der Systemkonkurrenz, der Druck hin zu Abrüstung und Verständigung waren sowohl Ergebnisse der westdeutschen Friedensbewegung als auch der ostdeutschen Friedens- und Bürgerrechtsbewegung, die mit dem bereits erwähnten „Schwerter zu Pflugscharen“ Meilensteine setzte. Friedrich Merz hätte ich gern noch einmal den Leitsatz des Bremer Parteitages der Bundes-CDU von 1989 zugerufen. In großen Lettern prangte da auf der Bühne: „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen!“ Alles vergessen?

Vor dem Hintergrund dieser Geschichte mutete sodann auch die Rede von Kanzler Scholz streckenweise wie eine Zeitreise zurück in die 1980er-Jahre an. Worte wie Aufrüstung und Abschreckung gehen vielen dieser Tage wieder sehr leicht über die Lippen. Die Logik gewaltförmiger Eskalation können beide nur sehr bedingt brechen. Ich möchte nicht missverstanden werden: Im Gegensatz zu meiner Partei bin ich sowohl für eine gut ausgerüstete Bundeswehr als auch für eine allgemeine Wehrpflicht.* Beides muss natürlich modern gestaltet und der Auftrag der Truppe so klar formuliert sein, dass sich die Bevölkerung hinter ihren Zielen vereinigen kann. Ich plädiere daher für eine Parlamentsarmee der Landesverteidigung, die im Bündnis mit den europäischen Partnern in der Lage ist Deutschland und Europa zu verteidigen –  nicht mehr und nicht weniger.

Ich bezweifle allerdings stark, dass die angekündigten 100 Milliarden Euro für die Ausstattung der Bundeswehr sowie die Festsetzung einer 2-Prozent-Klausel zur Erhöhung des Wehretats dafür die richtigen Mittel sind. Vielmehr halte ich sie für einen Irrweg, der direkt hinführt zu einer neuen Spirale der Aufrüstung. Waren es nicht Willy Brandt und der gebürtige Thüringer Egon Bahr, die in den 1970er-Jahren genau diese Form des eskalativen Drohens beendeten?

Diese Frage im Kopf schloss ich mich nach der Bundestagssitzung den hunderttausenden an, die auf der Straße des 17. Juni gegen den Putin‘schen Krieg, für Friede und Solidarität mit der Ukraine demonstrierten. Für mich war es ein Déjà-vu. Vor 40 Jahren im Bonner Hofgarten demonstrierte ich schon einmal mit solch einer riesigen Menschenmenge für den Frieden. Ich sehe Willy Brandt, Petra Kelly und Heino Falcke mit seinem „Schwerter zu Pflugscharen“-Signet noch genau vor mir. Was sie alle verband, verbindet uns auch heute: der Wunsch danach, an einer Welt mitzuarbeiten, in der keine Kriege mehr töten.

Umso entscheidender ist es, dass Putins Armee unverzüglich ihren Angriffskrieg gegen die Ukraine beendet. Die Waffen müssen schweigen. Gleichzeitig müssen wir wieder den Mut haben, ein europäisches System der Sicherheit zu entwerfen, in dem das Wort „Abrüstung“ nicht verschämt und nur hinter vorgehaltener Hand getuschelt wird. Nur wenn wir das schaffen, hat ein multiethnisches, multireligiöses, soziales und ökologisches Europa eine echte Chance. Nur dann wird es uns gelingen, die globalen Fragen anzupacken und ein gleichberechtigtes Miteinander zwischen Ost und West, Nord und Süd Realität werden zu lassen.

Wie ich meine Woche beendete? Betend auf dem Erfurter Domplatz mit circa 500 Menschen. Eingeladen hatte die katholisch-ukrainische Gemeinde. Es wurde – ohne den Aggressor Putin zu verschweigen – für ein schnelles Ende des Krieges gebetet und – das ging wahrlich unter die Haut – auf Ukrainisch aus der Bibel vorgelesen. Wie wir dort standen – Katholiken und Protestanten, Ukrainer, Deutsche und Russen, – war uns – denke ich – in diesem Moment eines bewusst – unsere Antwort auf den Krieg kann nur der tägliche Kampf für eine Gesellschaft des Friedens, der Freiheit und der Vielfalt sein.

P.S.: Nach der Lektüre meines Tagebuches meldete sich meine eigene Kirchgemeinde, Martini Luther, bei mir und erklärte, dass das Friedensgebet auf dem Domplatz von unserem Posaunenchor angestoßen wurde und sich der evangelische Kirchenchor und das katholische Dekanat ebenso wie die informierte katholisch-ukrainische Gemeinde angeschlossen hätten. Ich freue mich einfach sehr, dass es mittlerweile gute Tradition ist, dass ich auf Veranstaltungen bin, von denen ich gar nicht weiß, dass sie meine umtriebige Kirchgemeinde angeschoben hat. So war es schon vor Jahren in der Kirchenasyldebatte. Ein weiterer Lichtblick.

* Aufgrund der vielfältigen Nachfragen zur Wehrpflicht möchte ich nachträglich ergänzend hinzufügen: Mir geht es zuallererst um ein verpflichtendes soziales oder gesellschaftliches Jahr, in dem Jede und Jeder zwischen 18 und 25 Jahren einen solidarischen Dienst an der Gesellschaft tun soll. Dieser Dienst kann beim THW, beim DRK, bei der Feuerwehr, in der Pflege oder eben in der Bundeswehr absolviert werden.