Das deutsche Paradoxon zum Ukraine-Krieg in 10 Thesen
Meine Gedanken anlässlich des ersten Jahrestages des russischen Angriffs auf die Ukraine:
1.) In der Frage nach der Wahrnehmung und Bewertung des Ukrainekrieges erleben wir eine doppelte Spaltung in Deutschland. Einerseits zwischen Ost und West aber in allen Landesteilen auch zwischen der jüngeren und der älteren Generation. Während die jüngere Generation ohne größere Einschränkung für das Selbstbestimmungs- und Selbstverteidigungsrecht der Ukraine eintritt, ist das Bild der älteren Generation stärker eingebettet in die Erfahrungen des Kalten Kriegs.
2.) Zu viele Menschen – gerade im Osten Deutschlands – reden mehr vom ukrainischen Präsidenten Selenskyj und dem, was er für den Frieden tun solle; viel zu wenige davon, dass Wladimir Putin den Schlüssel zum Frieden in der Hand hält: indem er alle regulären russischen Truppen ebenso wie die Freischärler der Gruppe Wagner und des Tschetschenenführers Kadyrow aus dem ukrainischen Staatsgebiet zurückzieht.
3.) Wer über Fehlentscheidungen der vergangenen dreißig Jahre im Umgang mit Russland und über die NATO-Osterweiterung sprechen möchte, darf vom aggressiven russischen Imperialismus nicht schweigen. Dem Expansionismus in Georgien und Tschetschenien, der militärischen Intervention Russlands in Syrien bzw. den ressourcengeleiteten Aktivitäten der Gruppe Wagner in afrikanischen Ländern. Nicht zuletzt dem Versagen als Schutzmacht im Konflikt um Bergkarabach.
4.) Manch einer in Deutschland ist sehr schnell bei der Hand, wenn es um Neugliederungsvorschläge der Ukraine geht. Gerade wir hier in Ostdeutschland, die wir die Deutsche Einheit dem Willen der Sowjetunion, der USA, Frankreichs und Großbritanniens verdanken, dass wir über unser Schicksal selbstbestimmt entscheiden dürfen, sollten nicht vergessen: Die Zukunft der Ukraine muss und wird durch die Ukrainerinnen und Ukrainer selbst zu entscheiden sein. Die Zeiten des Wiener Kongresses, auf dem willkürliche Grenzen am Reißbrett gezogen wurden, sind aus gutem Grund lange vorbei. Entschieden seinerzeit Kolonialmächte gilt heute das Völkerrecht.
5.) Nachdem 1990 der Historiker Fukuyama das „Ende der Geschichte“ verkündete, hofften wir auf eine Überwindung nicht nur des Kalten Kriegs, sondern auch von Imperialismus und Chauvinismus. Wir haben uns geirrt. Notwendig ist deshalb ein unverstellter Blick auf die Realitäten der internationalen Politik. In den Jahren 2002/2003 entschied sich Deutschland zu Recht, zu keiner Beteiligung am Irak-Krieg, da er nicht UN-mandatiert war. Aus den gleichen Gründen heraus entsteht – so schwierig es erscheinen mag – nun die Verpflichtung zur Unterstützung der Ukraine. Das heutige Russland ist nach innen ein autoritär und nach außen militärisch aggressiv. Die russische Zivilgesellschaft zu unterstützen, ist Teil unserer aktiven Friedensarbeit, die wir leisten wollen.
6.) Eine in der Sache lösungsorientierte Betrachtung des Ukrainekrieges sollte sich nicht scheuen, weitere eingefrorene Konflikte im Machtbereich des ehemaligen sowjetischen Reiches in den Blick nehmen. Denn diplomatische Fortschritte an der einen Stelle haben Wechselwirkungen an anderen Stellen.
7.) Ein erster Schritt sollte eine Kampfpause sein, der ein Waffenstillstand folgen müsste. Vermittlerrollen könnten dann beispielsweise UN-Generalsekretär Guterres oder Brasiliens Präsident Lula einnehmen. Die EU müsste in solch einer Phase geschlossen diplomatisch agieren, dürfte sich im Zweifel auch einer UN-Blauhelmmission nicht verschließen und müsste bereit sein, verlässliche Garantiemächte für die Ukraine zu benennen.
8.) Der inhaltliche Zielrahmen für Verhandlungen müsste – über den gegenwärtigen Konflikt weit hinausgehend – ein friedliches und geeintes Europa sein. Da erfolgreiche Diplomatie nicht allein, aber doch zu einem nicht unerheblichen Teil auf Vertrauen zwischen verlässlichen und weitsichtigen Einzelakteuren basiert, bräuchte es Menschen von diesem Format. Wie weit das tragen kann, belegen die historischen Beispiele eines Willy Brandt oder Michail Gorbatschow bis heute eindrücklich.
9.) Wer mehr Diplomatie wagen möchte, braucht allerdings auch einen kohärenten und transparenten Plan dafür, wie die Kriegsparteien getrennt und ein Wiederaufbau der Ukraine in Frieden ermöglicht werden kann. Die Bundesrepublik Deutschland kann und muss hier – nicht zuletzt mit ihrer langen Friedensdividende und dem Beispiel der friedlichen Überwindung der deutschen Teilung – einen angemessenen Beitrag leisten.
10.) Die militärische Unterstützung der Ukraine, die es ihr ermöglicht, Friedensverhandlungen mit Russland aus einer Position der Selbstbehauptung heraus führen zu können, schließt verstärkte Abrüstungsbemühungen nicht aus. Im Gegenteil. Was wir international benötigen ist das Gegenteil der Kündigung des „New Start“-Abkommens durch Russland, sondern internationale Abrüstungsbemühungen, die insbesondere die atomare Kriegsgefahr eindämmen. Die Europäische Union einerseits und die NATO-Staaten andererseits sollten hier eine glaubwürdige Initiative auf den Weg bringen, die insbesondere darauf abzielt, die Abrüstungsdividende dafür einzusetzen, die vor mehr als 20 Jahre verabredeten sogenannten Millenium-Development-Goals umzusetzen um die Gerechtigkeits-Schere zu den Staaten des globalen Südens zu schließen.
Resümierend: Ein friedliches und demokratisches Russland muss Teil einer europäischen Friedenslösung sein, in dem eine souveräne Ukraine einen stabilen und gleichberechtigten Platz zu haben hat. Die aggressive Militärlogik Russlands könnte – auch wenn das noch weiter Zukunft klingt – durch einen Nichtangriffspakt entschärft und das durch Erdogans Agieren beschädigte NATO-Bündnis zugunsten einer europäischen Friedens- und Verteidigungsgemeinschaft aufgelöst werden – mit einer gleichmäßigen und besonnenen Abrüstung als regulativer Idee. Was wir im Hier und Jetzt dafür als Gesellschaft bereits tun könnten, wäre insbesondere, sich der Paradoxien unseres Denkens mit Blick auf die gegenwärtige politische Weltlage bewusst zu werden.