Von gemeinsamer Sicherheit und wechselseitiger Achtung

Wenn wir es ernst meinen mit der Forderung, eine dauerhafte Friedensordnung auf dem europäischen Kontinent zu etablieren, ist es geboten und notwendig zunächst die gegenwärtigen Spannungen und Verwerfungen zu analysieren, die wir aktuell beobachten. „Die Waffen nieder“ von Bertha von Suttner begleitet mich dabei genauso wie der Text „Zum ewigen Frieden“ von Immanuel Kant oder die zahlreichen Denkschriften der EKD, die in den letzten fünf Jahrzehnten immer wieder versucht haben, Wege hin zu einem gerechten Frieden zu finden und begehbar zu machen – und ja, auch Willy Brandts Friedensnobelpreisrede oder die Abschlussdokumente des Konziliaren Prozesses lohnen heute ebenfalls noch einer abermaligen Lektüre unter veränderten geopolitischen Vorzeichen, vielleicht mehr denn je.

In jüngster Zeit hat allerdings ein anderes Dokument – ein sog. Friedensmanifest – von sich reden gemacht, in dem ein sofortiger und kurzfristiger Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine gefordert wird. Nehmen wir  – rein hypothetisch – an, der Aggressor Russland würde tatsächlich unmittelbar die Waffen ruhen lassen. Würde daraus tatsächlich ein dynamischer und positiver Friedensprozess entstehen können? Was wäre beispielsweise mit den widerrechtlich von der Ukraine abgetrennten Gebieten Krim, Donbass und Luhansk? Diese und so viele Fragen mehr lässt das genannte „Manifest“ außen vor.

Ich bin 1999 der PDS beigetreten, weil Gregor Gysi den Mut hatte, etwas in Deutschland damals sehr Unpopuläres zu tun, nämlich nach Serbien zu reisen und mit dem dortigen Machthaber über Frieden und Menschenrechte zu sprechen. Gregor Gysi wollte die Logik der Eskalation und des Krieges durchbrechen, um der Stärke des Rechts vor dem Recht der Stärke eine Schneise zu schlagen.

Weder war die NATO bereit ihr Bombardement einzustellen, noch war Milosevic bereit, sich auf eine Blauhelm-Friedensmission einzulassen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die damalige PDS ebenso wenig bereit war, aus dieser Initiative von Gregor Gysi dauerhafte Konsequenzen zu ziehen. Auf dem Parteitag in Münster kippte Sylvia Ivonne Kaufmann selbst UN-Blauhelm-Missionen, um dann später zur SPD überzutreten.  Der Schritt von Gregor Gysi 1999 in Belgrad war mutig und richtig.

Mit Konsequenz hat er dann auch die Separation des Kosovo abgelehnt und gegeißelt. Wenn aber die Abtrennung des Kosovo von Serbien falsch war, warum sollten nun die Abtrennungen der Krim, des Donbass und von Luhansk richtig sein?

Wollen wir glaubhaft sein und zu einem dauerhaften Frieden kommen, braucht es universell gültige und auch durchsetzbare Prinzipien, die nicht doppelte Standards anlegen oder die die einen Akteure den anderen vorziehen. War der Schritt der NATO falsch, dann ist auch der Schritt durch Russland falsch.

Ganz abgesehen davon zeigen uns Konflikte in Katalonien, dem Baskenland, Südtirol, Gibraltar, Nordirland, Schottland und leider aktuell auch wieder Belgien, dass ein neuer und gefährlicher Trend zur Infragestellung von Grenzen in Europa Raum greift und sich die Auseinandersetzung zwischen Nationalismus auf der einen und Separatismus auf der anderen Seite auf eine neue Stufe zubewegt. Gegen solche  Erscheinungen hatte Immanuel Kant seinerzeit die Schrift „Zum ewigen Frieden“ mit den sechs Präliminarartikeln und den drei Definitivartikel gerichtet.

Eine sinnvolle (und meine präferierte) Antwort auf all diese besorgniserregenden Vorgänge wären gut funktionierende Föderalstaaten in einer gemeinsamen Europäischen Union – also die Weiterentwicklung von Elementen der Eigenverantwortung bzw. Autonomie, auch und gerade dort, wo ethnische Siedlungsminderheiten in größeren Staatsgebieten existieren. Der albanischen Bevölkerung hätte es genutzt, ihre Kultur und Religion leben zu können und vor allem auch die eigene Sprache sprechen und in der Schule auch ihren Kindern unterrichten zu können. All das muss auch – wenn wir das Prinzip des Universalismus ernst nehmen – für die Menschen auf der Krim, in Luhansk und Donezk gelten, aber eben auch in Transkarpatien und Transnistrien.

Wer also Friedensmanifeste verfasst, dabei aber zum Beispiel Transnistrien „übersieht“ oder gar den Antrag in der russischen Duma verschweigt, der die Aufhebung der litauischen Souveränität zum Gegenstand hat, der bewässert den Keim des Krieges und erreicht (im besten Falle) eine Waffen- und Atempause, bevor der Aggressor Putin seinen Hunger nach Expansion auf weitere Gebiete – auch jenseits der Ukraine – ausdehnt. Das kann und darf nicht unser Ziel sein.

Wenn dann Victor Orban auf Transkarpatien schielt und mit der Ausgabe von Pässen an die ungarischen Minderheiten in den Nachbarländern Unfrieden stiftet, sollten wir hellwach sein.

Mir steht der Zerfall Jugoslawien noch zu lebhaft vor Augen, als dass ich diese Parallelen im Hier und Jetzt übersehen könnte.

Vor diesem Hintergrund erscheint es mir auch zu optimistisch, wenn die Verfasser und Unterzeichner des Friedensmanifestes wenigstens insinuieren, ein Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine würde sämtliche Probleme lösen. Viel eher würde Russland sich ermutigt fühlen, Scheinreferenden in den abgetrennten Gebieten abzuhalten und sie sich somit völlig einzuverleiben. Gleichzeitig stünde zu befürchten, dass der Landkorridor über Odessa nach Transnistrien Russlands strategisches Kalkül auf die Waffenreserven der ehemaligen Sowjetarmee in der DDR lenken würde, die nach wie vor im Depot Cobasana lagern. Vor 32 Jahren hielten wir das für einen großartigen Sieg der friedlichen Revolution. Aber genauer hinschauen wollten wir wohl eher nicht, denn ein Großteil der Panzer aus der DDR wurde an den NATO- Partner Türkei gegeben und wird immer wieder gegen die Kurden eingesetzt. Immerhin 300 Schützenpanzer vom Typ BTR 60, rund 300.000 Kalaschnikow-Sturmgewehre, Lastwagen und Munition wechselten so aus DDR-Beständen über die Bundeswehr zum NATO-Staat Türkei, der selbst aktuell einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen die kurdischen Selbstverwalter im Irak und in Syrien führt.

Die Schamlosigkeit Erdogans zeigt sich selbst noch in der heutigen humanitären Katastrophe, denn selbst mitten im Erdbebengebiet lässt er Rojava weiterhin bombardieren. In Syrien wäre Russland offiziell Schutzmacht und könnte dieses Bombardement gegen die Kurden unterbinden. Russland ist weiterhin Schutzmacht in Berg-Karabach und kommt seinen Verpflichtungen beim Schutz der armenischen Siedlungsbevölkerung gegen die massiven militärischen Interventionen Aserbaidschans auch dort nicht nach. Russischen Nationalismus und Chauvinismus kann man also dort überall besichtigen und festmachen an den militärischen Interventionen in Georgien und Tschetschenien. Auch hierzu müsste sich das Friedensmanifest äußern. Und weil es dies eben nicht tut, also doppelte Standards anlegt, wird es unehrlich.

Der Zerfall von Imperien führt immer wieder zu gefährlichen Träumen von vermeintlicher militärischer und nationaler Wiederauferstehung. Spätestens hier sind wir bei Bertha von Suttner, denn auch unserem Land sind diese gefährlichen Träume nicht fremd. Das Osmanische Reich hat in seinem Zerfallsprozess millionenfaches Leid über die ganze Region gebracht. Pontosgriechen und Armenier seien stellvertretend benannt, aber auch Aramäer, Yesiden und Kurden. Der Zerfall des Britischen Empires ebenso wie die Auflösung der Sowjetunion oder der K.u.K-Monarchie bieten ebenso erschreckende wie mahnende Beispiele für Blutvergießen in großem Maße.

Vor dieser historischen Folie bedarf es meiner Meinung nach in der Gegenwart einiger mutiger und nachhaltiger Schritte, um Frieden praktisch und Stück für Stück umsetzbar zu machen, die da wären:

  1. Ein Europäisches Friedensmanifest, das allerdings alle europäischen Regionen, Staaten und Territorien umfassen muss. Dazu gehören freilich auch Russland und selbstverständlich eine souveräne Ukraine.
  2. Das Prinzip von Föderalstaaten, die ihre kulturelle und ethnische Vielfalt selbstbestimmt und friedlich regeln. Hierbei könnte sich ein Staat Spanien mit Katalonien, Baskenland, Navarra etc. genauso bewähren, wie ein dreigegliedertes Belgien und ein Föderalstaat Ukraine mit seinen russischsprachigen Gebieten, der als souveräner Staat ausgleichende und kooperierende Maßnahmen selbstbestimmt umsetzt.
  3. Auf jedem Kontinent eine eigene Organisation für Frieden und Abrüstung (analog der OSZE) sowie fußend auf ihnen  Vertragsgemeinschaften für wechselseitige Friedenssicherung und gemeinsame Verteidigungsgemeinschaften (ggf. flankiert durch Nichtangriffspakte).
  4. Den Umbau des Weltsicherheitsrates zu einer Weltfriedensorganisation, die ausschließlich aus den oben skizzierten Organisationen der Kontinente gebildet wird. Diese Struktur könnte die einseitige Hegemonie einzelner globaler Player über andere Länder und Territorien beschränken und auch verhindern.
  5. Die Bundeswehr könnte dann endlich wieder zu einer gut funktionierenden Landesverteidigungsarmee umgebaut werden, die in einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft ihre Aufgaben erfüllen kann.
  6. Wer Deutschland hindern will, Waffen zu exportieren, der muss dieses Prinzip im Grundgesetz verankern.

All diejenigen in meiner Partei, die sich fragen, ob sie das Manifest von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer unterstützen  oder gar zu der Kundgebung mit aufrufen sollten, frage ich wiederum ehrlichen Herzens, wie sie die von mir aufgeworfenen Fragen, Probleme und Prozesse einschätzen.

Jenseits dieser im engeren Sinne analytischen Blindstellen, halte ich auch einige Formulierungen im genannten Manifest mindestens für missverständlich. Was meint bspw. das Wort „Gegenschlag“ in diesem Zusammenhang? Hat die Ukraine angegriffen und Russland wehrt sich mit einem Gegenschlag? Es bleibt doch ein Fakt, dass Russland am 24.2.2022 den Krieg begonnen hat und selbst in Russland das Wort „Krieg“ dafür verboten wurde.

Warum sollte eine Gegenwehr des angegriffenen Staates deshalb sinnlos sein, weil der Angreifer eine Atommacht ist? Welche Logik steckt dahinter? Und was wäre – konsequent zu Ende gedacht – die Conclusio? Sollte dann auch die Bundesrepublik Atommacht werden?

Nein, ich habe mein Leben lang gegen jede weitere Verwendung von Atomwaffen gekämpft.

Hätten wir dem Vietcong zugerufen: „Die Waffen nieder, denn die USA sind Atommacht“?

Wenn man jetzt dafür plädiert, keinerlei Waffen mehr an die Ukraine abzugeben (ich hatte mich zu meiner Grundhaltung erklärt und plädiere für eine Grundgesetzänderung) – wieso haben wir uns nicht mit derselben Vehemenz gegen den Panzerdeal von Rheinmetall mit Russland gestellt?

Was ist mit der Haltung der Linken, wenn wir an die Verteidigung der Spanischen Republik denken? Hätten wir nicht vehement gefordert, endlich die erbetenen Waffen zu liefern, die zur Verteidigung der freien Republik notwendig gewesen wären? Wie würden wir uns als Linke verhalten, wenn die kurdischen Selbstverwaltungskräfte von Rojava und Kobane um Waffen bitten würden?

Warum wurde mit dem Text eine große Tür geöffnet, mit der sich Nationalisten mit russischen Fahnen nun eingeladen fühlen? Nein, als in Russland die Organisation Memorial verboten wurde und die Arbeit fast aller Menschenrechtsorganisationen unterbunden wurde, war doch klar, dass es einen zivilen Aufbruch für den Frieden in Russland nicht geben wird oder soll.

Auf welcher Seite wollen wir als Linke stehen? Wollen wir vor all diesen Fragen die Augen verschließen? Nein, eine inhaltlich klare Positionierung wird erst möglich sein, wenn wir uns der Mühe unterziehen, unser Verhältnis zu all diesen Fragen zu klären. Das ist nicht mit 100.000 Unterschriften zu erledigen, das ist keine Angelegenheit in der wir gefährliche Unklarheiten aufkommen lassen dürfen. Ich stehe an der Seite eines friedlichen Russlands, das Menschenrechte und Demokratie achtet und in dem seine Bürger ihre Meinung sagen können ohne Angst vor Repression zu haben, aber ich möchte mich nicht neben russischem Chauvinismus, Imperialismus und Nationalismus wiederfinden. Ich stehe zur Ukraine und die gleichen Prinzipien gelten auch dabei für mich, wobei klar bleibt, wer Angreifer und wer Angegriffener ist.

Ich bin gegen Atomwaffen und jedwedem Krieg, aber ich bin kein Pazifist, denn auch unsere Gesellschaft braucht ein Verhältnis zum Gewaltmonopol des Staates. Aber zu diesem Gewaltmonopol und dem Staatsrecht, gehört unverbrüchlich das Prinzip: Stärke des Rechts anstelle des Rechts des Stärkeren!

Achten wir darauf, auch wenn unser Herz übergeht im drängenden Wunsch nach Frieden. Jeder Mensch wünscht sich Frieden und jeder hat darauf ein Recht. Kämpfen wir darum, geben wir dabei den Kampf um einen gerechten Frieden in gemeinsamer Sicherheit und Achtung nicht auf. Auch nicht für die Hoffnung auf eine kurzzeitige Waffenruhe. Frieden – und zwar einen gerechten – gibt es am schnellsten, wenn Russland das einzig Richtige tut – seine Armee aus der von ihm überfallenen Ukraine zurückzuziehen.

 

Dieses Schreiben habe ich am 16.02.2023 an die Mitglieder des Parteivorstandes, alle Mitglieder der Bundestagsfraktion sowie alle Landesvorsitzenden der Partei DIE LINKE. übermittelt.