Schwere Entscheidungen

Reinhard Mey sang einmal von Tagen, an denen man sich wünsche, ein Hund zu sein. Jedes Mal, wenn ich in den letzten Tagen frühmorgens an Attilas Hundekörbchen vorbeiging und ihn dort schlafen sah, musste ich an Meys Worte denken. Die laufende Woche lädt tatsächlich dazu ein, sich in den Körper eines anderen Lebewesens zu wünschen.

In den letzten Tagen stieg deutschlandweit das Infektionsgeschehen dynamisch an. Relativ schnell war die 10.000er Marke als Tageswert überschritten und der Bundesärztepräsident Montgomery verwies in Interviews darauf, dass beim Überschreiten eines Grenzwertes von 20.000 das Gesundheitssystem drohe, an seine Leistungsgrenzen zu stoßen.

Ähnlich sieht es in Thüringen aus. Die Verdopplungsrate des Infektionsgeschehens steigt immer noch an und die Tagessumme vorgestern betrug 262,gestern 188 neu infizierte Menschen. Anders als im März verfügen wir heute über genügend intensivmedizinische Betten und gegenwärtig ist die Zahl der in Krankenhäusern betreuten COVID19-Erkrankten noch vergleichsweise niedrig. Wenn ein dynamisches und/oder exponentielles Wachstum allerdings anhält und wir damit rechnen müssen, dass 20 Prozent der Erkrankten ärztlicher Begleitung und/oder einer Hospitalisierung bedürfen, werden wir eher früher als später an Versorgungsengpässe erleben. Dies gilt umso mehr, wenn wir uns klar machen, dass auch medizinisches Personal von Infektionen nicht verschont bleiben wird, das momentan so dringend gebraucht wird. 

Über die Videokonferenz mit der Bundeskanzlerin und den Ministerpräsidenten wird aktuell viel und intensiv berichtet. Den ganzen Berichten möchte ich nicht noch einen weiteren hinzufügen. Lediglich einige Bemerkungen zu den Erwägungen, von denen ich mich habe leiten lassen, seien mir gestattet.

Erstens: Am Dienstag habe ich sehr deutlich eine Kritik wiederholt und erneuert, die ich 2017 schon einmal in der Ministerpräsidentenkonferenz als Protokollnotiz eingereicht habe. Die Ministerpräsidentenkonferenz darf durch ihr Agieren nicht die Entscheidungsspielräume der Parlamente und auch nicht des Bundesrates in unangemessener Weise einengen. Am Dienstag, den 27. Oktober 2020, hätte ich gern in der regulären Kabinettsitzung berichtet, über was die Bundeskanzlerin am Mittwoch, den 28. Oktober 2020, in der MPK beraten möchte und vor allem, welche Entscheidungen getroffen werden sollen.  Dieses war mir unmöglich, da eine Beschlussvorlage nicht vorbereitet war, die üblicherweise – auch um strittige Punkte im Voraus zu lokalisieren und zu prüfen – einige Tage vorab übersandt wird. Jenes Vorgehen war ich nicht mehr bereit hinzunehmen und habe deshalb öffentlich Kritik geäußert.

Zweitens: Bereits im Vorfeld der MPK hatte die CDU-Landtagsfraktion ein Sonderplenum beantragt und in einer Beschlussvorlage umfassende Parlamentsbeteiligung für den Fall eines etwaigen „Lockdowns“ eingefordert – ganz meine Linie, die ich übrigens nicht erst am Dienstag formuliert habe. Schon im Frühsommer habe ich meinen Willen bekundet, nicht im Notverordnungsmodus die gesamte Pandemie zu bestreiten. Ein Ausnahmeinstrument wie die Notverordnung darf nach meiner festen Überzeugung in einer parlamentarischen Demokratie niemals durch gewohnheitsmäßige Benutzung zur Regel werden.

Von der Ministerpräsidentenkonferenz am 12. März 2020 an haben wir bis zum Frühsommer sämtliche Corona-Entscheidungen allerdings auf diese Weise gefällt und juristisch flankiert. Da Not allerdings auf das Kriterium Dringlichkeit und Kurzfristigkeit verweist, war von Anfang an klar, dass solch ein Zustand nicht auf Dauer gestellt sein kann. Auch diese sehr grundsätzlichen Erwägungen haben mich schließlich dazu veranlasst, sämtliche Regelungen nur noch durch Allgemeinverordnung in Kraft zu setzen. Lediglich da, wo durch besondere Eile ein – bis heute leider noch vorgeschriebener – physischer Abdruck im Staatsanzeiger nicht gewährleistet werden kann, bleibt die Notverkündung als Mittel der Wahl bestehen. 

Vor den Sommerferien haben wir schließlich den sogenannten „Thüringer Weg“ begonnen zu beschreiten. Einerseits hat der Verordnungsgeber den allgemeinen Rahmen so gesetzt, dass alle Gesundheitsämter in Thüringen dezentral und lokal zuerst analysieren können, wo es Infektionsgeschehen gibt, damit angemessen und adäquat reagiert werden kann. Für die Bereiche Kindergarten und Schule wurde angekündigt, nicht etwa in einen dauerhaften Notbetrieb einzusteigen, sondern nach den großen Ferien wieder in den Regelbetrieb überzuwechseln. Hierfür wurde vom Thüringer Bildungsministerium ein Ampelsystem entwickelt und eingeführt – bislang mit Erfolg. Einzelne Infektionsfälle können so unmittelbar lokalisiert werden, die örtlichen Gesundheitsämter sind in der Lage, darauf zu reagieren und durch eine zeitnahe Bekanntgabe der betroffenen Einrichtungen kann ein Höchstmaß an Transparenz und Nachvollziehbarkeit für die Bürgerinnen und Bürger hergestellt werden.

Überdies habe ich bereits vor geraumer Zeit besorgt festgestellt, dass das Bundesinfektionsschutzgesetz in bestimmten Abschnitten substantieller Änderungen bedarf.  So ist es nach meinem Dafürhalten nicht angängig, dass die Gästelisten in Restaurants, die ganz klar der Nachverfolgung von Infektionswegen dienen sollen, durch Polizei oder Steuerfahndung zweckentfremdet werden. Hier besteht dringender Regelungsbedarf, auch und gerade, um die Akzeptanz bestimmter Maßnahmen in der Bevölkerung nicht zu verspielen. Derartige Änderungen müssen allerdings durch Parlamente beraten und beschlossen werden. Sie sind die Herzkammern unserer Demokratie. Ich habe deshalb im Vorfeld der MPK angezeigt, dass der Parlamentsvorbehalt, den auch die Thüringer CDU wünscht, zwingend in die Beschlussfassung eingebaut werden muss. Für all das hat mir das Thüringer Kabinett ein allgemeines Verhandlungsmandat ausgestellt. Meine Aufgaben: Parlamentsbeteiligung sichern und Restaurants, Theater und andere öffentliche Gebäude mit glasklaren Hygieneschutzkonzepten vor einer Schließanordnung bewahren. Ersteres ist mir gelungen. Viele Kollegen unterstützten meinen Vorstoß. Damit ist klar, dass zunächst der Deutsche Bundestag eine Gesundheitsnotlage feststellen muss, um so dem Gesetzgeber – und das sind die Parlamente – endlich wieder den Gestaltungsspielraum zu geben, der ihm gebührt.. 

Im Verlaufe der Videokonferenz mit der Bundeskanzlerin erreichten mich schließlich Informationen, die, konsequent zu Ende gedacht, bedeutet hätten, dass Ende nächster Woche im größten Teil Thüringens dieselben scharfen Anordnungen gegolten hätten, wie bereits seit dem Wochenende in Erfurt. Es war daher konsequent, den allgemeinen Beschluss mitzutragen und zur Grundlage unseres weiteren Handelns zu machen. Damit konnten wir den vielbeschworenen Flickenteppich verhindern und gleichzeitig einen gemeinsamen MPK-Beschluss zu Maßnahmen fassen, die sowieso in der unmittelbaren Zukunft von den hiesigen Gesundheitsämtern hätten getroffen werden müssen.

. Damit ist der Thüringer Weg freilich nicht verlassen worden, da die in ihm besonders starke Akzentuierung der Rolle der Gesundheitsämter nach wie vor Bestand hat. Der Thüringer Weg heißt ja gerade, dass die Gesundheitsämter angehalten sind, die Maßnahmen lokal dann anzuweisen, wenn sie notwendig und unabweisbar sind. Dieser Abwägungsschritt hat mich letztlich überzeugt zu sagen, wenn die Dynamik der hohen Anstiegszahlen ungebrochen ist, dann wäre es besser, wir würden für ganz Thüringen die gleichen Maßgaben und Vorgaben im November zur Anwendung bringen.

Hätte Thüringen sich einem gemeinsamen Beschluss entzogen, hätte dies außerdem zur Folge gehabt, dass Menschen aus allen anderen Bundesländern zu uns gekommen wären, die sich schon jetzt an keinerlei Regeln halten und so zu einer Gefahr für sich und andere werden. Thüringen als Paradies für selbsterklärte „Querdenker“ und „Coronaskeptiker“? Das ist das Letzte, woran uns in dieser ernsten Lage gelegen sein kann.

Die nunmehr formulierten Beschlussempfehlungen für unseren Landtag  sehen eine Umsetzung der Einschränkungen für den Zeitraum vom 02.11. bis 30.11. vor.

Aktuell bestehen noch Schwierigkeiten bei der Klärung der Frage, wann wir den Landtag einberufen können, da dies vor dem Inkrafttreten der Verordnung am 02.11. schlechterdings nicht mehr möglich ist. Eine denkbare Variante scheint mir, die Verordnung zunächst unter Parlamentsvorbehalt umzusetzen, um im Anschluss an das bereits für den 03.11. terminierte Sonderplenum den Landtag darüber entscheiden zu lassen, ob Teile der geltenden Verordnung abgeändert werden müssen. Demokratie braucht Rechtssicherheit und vor allem ein umfassende und notwendige Einbindung unseres Parlaments.

Die Beschlüsse von gestern sind nicht das Ende von Corona, sondern hoffentlich ein wichtiger Beitrag, um den dynamischen Anstieg massiv zu verlangsamen. Um den 16. November herum soll zum ersten Mal durch eine Ministerpräsidentenkonferenz geprüft und bewertet werden, ob wir uns einer positiven Zielmarke annähern.

Die vorstehenden Zeilen lassen Sie hoffentlich etwas besser verstehen, warum man sich aktuell manches Mal in einen anderen Körper – wahlweise eben den eines Hundes – wünscht.

Anstelle dessen bleibe ich aber weiterhin dabei, gemeinsam mit den Menschen vernünftig und besonnen die kommenden Wochen zu meistern. Überprüfbarkeit und Verhältnismäßigkeit müssen die Maßgaben für ein verantwortungsbewusstes Handeln sein. Dazu ermuntere ich uns alle nachdrücklich!