Politische Entscheidungen und COVID19
In letzter Zeit werde ich in Interviews immer wieder gefragt: „Herr Ramelow, wie schlafen Sie momentan eigentlich?“ Meine immer wiederkehrende Antwort: „Aktuell schlafe ich nicht besonders gut. Ich wache häufig zwei oder drei Mal auf und bin in Gedanken bei den schwierigen Entscheidungen, die momentan zu treffen sind.“
In der gegenwärtigen Situation heißt politische Entscheidungen treffen nicht mehr das, was es unter normalen Umständen auf Ebene der Landespolitik bislang hieß. Warum?
In demokratischen Staaten ringen wir mit Argumenten um Lösungen von Sachfragen. Wir debattieren beispielsweise über diverse sozial- und finanzpolitische Probleme, bringen Gesetze ein, beschließen sie und bessern gegebenenfalls nach, wenn sich zeigt, dass an der einen oder anderen Stelle falsch gedacht oder kalkuliert wurde. Hier gilt, was Hannah Arendt vor beinahe 60 Jahren einmal ganz beiläufig in einem Interview sagte – nämlich, dass sich Politik auch und gerade dadurch auszeichne, dass sie immer die Möglichkeit offen lasse, sich zu korrigieren. Wer sich die gegenwärtige Pandemiesituation allerdings anschaut, wer die Särge in Bergamo sieht und wer hört, wie in Ecuador Armee und Polizei die Wohnungen durchkämmen, um Verstorbene zu bergen, der muss spüren, dass hier politischen Entscheidungen eine ganz andere Qualität zukommt. Entscheidungen, die momentan getroffen werden müssen, haben im Zweifel existenzielle Auswirkungen im wahrsten Sinne des Wortes – Auswirkungen, die nicht korrigiert werden können, weil sie im schlimmsten Fall den Tod von Menschen bedeuten können.
Das heißt für mich, dass bei jeder Debatte zu COVID19 immer die Frage nach Leben und Tod zumindest indirekt mitschwingt. Uns als Politikerinnen und Politikern ist die Gesundheit von zwei Millionen Thüringerinnen und Thüringern anvertraut. Wir schätzen täglich die dynamische Situation neu ein, überprüfen unsere Verordnungen und bessern dort, wo es nötig ist, auch nach. Aber gleichzeitig ist klar: Jede noch so klein und unbedeutend erscheinende Neujustierung kann Menschenleben gefährden.
Mich erreichen dieser Tage viele Nachrichten von Bürgerinnen und Bürgern, die auf unterschiedliche Weise von COVID19 betroffen sind. Schülerinnen und Schüler wollen wissen, wie es mit dem Unterricht weitergeht, verschiedene Branchenvertreter fordern schnellere Öffnungen, manche begrüßen die Mund- und Nasenschutzpflicht, andere lehnen sie vehement ab, den einen gehen die Maßnahmen der Politik nicht weit genug, die anderen halten COVID19 für nicht mehr als eine neue Form der Grippe und wollen sämtliche Abstandsregeln sofort zu den Akten legen. Hinzu treten die Positionen der verschiedenen wissenschaftlichen Einrichtungen und Akteure und auch hier sind die Meinungsbilder und Forschungsergebnisse zum Teil sehr vielfältig und bei weitem nicht immer auf einer Linie.
Dieses unglaublich breite Spektrum lässt bereits erahnen, dass Lösungen, Maßnahmen und Verordnungen, die alle zufriedenstellen, nicht möglich sind. Mir und uns allen in der Politik kommt dennoch die Aufgabe zu, in dem Dickicht aus mehr oder weniger gut begründeten Annahmen, Forschungsergebnissen und Meinungen einen Weg zu finden, der möglichst vielen berechtigten Bedürfnissen Rechnung trägt. Um es an einem Beispiel zu illustrieren: Der Schüler hat ein Recht auf Unterricht und gleichzeitig hat die Lehrerin ein Recht auf Beschäftigung. Parallel dazu haben aber beide Gruppen inklusive der anderen am Schullalltag Beteiligten (z.B. Busfahrerinnen und Busfahrer) ein Recht auf Gesundheit. Diese drei Spannungsbögen zumindest annäherungsweise zur Deckung zu bringen, ist Teil unserer alltäglichen Arbeit. Und die Abwägungsprozesse, die dabei stattfinden, sind keine, die man zwischen zwei Kaffeepausen einmal eben ausdiskutiert, weil potenziell bereits wieder am nächsten Tag die Situation (z.B. mit Blick auf steigende Infektionszahlen etc.) eine ganz andere sein kann.
Natürlich darf die Komplexität der heutigen Herausforderungen keine Ausrede sein. Nur, weil Entscheidungen schwierig sind, kann ich mich nicht vor ihnen wegducken. Was wir aber brauchen, ist ein konstruktiver Umgang miteinander, getragen von Respekt und Vertrauen. Dort, wo Beschränkungen fortbestehen oder wo Details noch nicht abschließend geregelt sind, sollte nicht zuallererst Schikane oder böser Wille vermutet werden. Und berechtigte Kritik der Menschen darf nicht als ungerechtfertigtes Gemecker abgetan werden. Deshalb ist es mir besonders wichtig, permanent mit Branchenvertretern und Bürgerinnen und Bürgern im Gespräch zu sein, mit ihnen diskutieren, wo, wie und wann welche Änderungen vertretbar, geboten und sinnvoll erscheinen.
Viele Entscheidungen müssen in politischen Gremien, die demokratisch legitimiert sind, getroffen werden, das ist wahr. Genauso wahr bleibt aber auch, dass wir alle Teil dieses permanenten Aushandlungsprozesses, der sich Demokratie nennt, sind.