Ein gemeinsamer Schritt nach vorn

Im Moment hat man den Eindruck, egal, wann und wo man Nachrichten hört, immer wird gerade darüber berichtet, dass wieder einmal eine Flüchtlingsunterkunft brennt. Deutschland wird von einer Welle rassistischen Terrors überzogen, vor der niemand mehr die Augen verschließen kann. Jede Nacht brennen Häuser, und es ist pures Glück, dass bis heute noch niemand gestorben ist.
 
Vielleicht ist es auch pures Glück, dass in Thüringen noch kein Flüchtlingsheim abgebrannt ist. Aber ich bin nicht der einzige in der Landesregierung, der ab und zu in der Nacht aufwacht und auf das dienstliche Handy schaut, wo die dringenden Ereignismeldungen der Polizei per SMS eintrudeln. Man schaut auf das Handy, ist erleichtert, wenn keine Meldung angekommen ist, fällt zurück in die Kissen und kommt ins Nachdenken. Wie weit sind wir in Deutschland inzwischen wieder, 23 Jahre nach dem Sommer 1992, 22 Jahre nach Solingen, nicht einmal vier Jahre nach der Enttarnung einer braunen Mordbande aus Thüringen, die sich „Nationalsozialistischer Untergrund“ nannte.

Ja, wir hatten den völlig inakzeptablen Gewaltausbruch in Suhl. Wachleute und Polizisten fürchteten um ihr Leben. Mit einem von ihnen habe ich gesprochen und weiß, das ist nicht so daher geredet. Der mir das gesagt hat, sieht nicht so aus, als ob er oft Angst hat. Noch in der Nacht waren Neonazis vor der Erstaufnahmestelle präsent und wollten den Vorfall für ihre Hetze instrumentalisieren. Am Tag darauf demonstrierten mehr als 500 von ihnen durch die Suhler Innenstadt. Sie hatten vorerst keinen Erfolg. Die Lage beruhigte sich wieder. Auch weil Suhl mit Jens Triebel einen Oberbürgermeister hat, der sehr besonnen reagierte und trotz seiner Wut über den Vorfall, trotz des täglich zu lösenden (aber nicht von ihm verursachten) Problembergs keinen Millimeter von einer menschlichen Haltung abwich. Dafür sage ich Danke, und ich wünsche mir, dass dieses Verhalten Schule macht.
 
Ja, wir muten der kommunalen Familie viel zu. Sie steht am Ende der Kette. Der Bund verteilt die Flüchtlinge auf die Länder, ohne Ansehen der Person, nur nach Abzählen. Die Länder verteilen die Flüchtlinge an die Kommunen, und die müssen sie dann unterbringen. Und viel zu oft werden sie mit den Problemen allein gelassen, die dann folgen. Wohnungen müssen gefunden und bezahlt werden. Die Integration soll vom ersten Tag an beginnen. Kinder brauchen Kindergartenplätze, Schülerinnen und Schüler müssen in die Schule, da gibt es auch gar nichts zu diskutieren und zu zweifeln. Und das machen die Kommunen auch fast nie. Sie packen an, sie suchen Lösungen, sie schaffen Unterkünfte, sie bereiten Schulen und Kindergärten auf die jungen Neubürgerinnen und Neubürger vor. Und gelegentlich senden sie auch einen Hilferuf. In Thüringen nach Erfurt, wo dann der Ministerpräsident gelegentlich einen Hilferuf nach Berlin absetzt. Ja, es ist richtig, die Kommunen und Länder schuften im Maschinenraum und warten dringend darauf, dass der Bund runter vom Sonnendeck kommt. Herr Gabriel war in Heidenau, Frau Merkel inzwischen auch. Ich hoffe, wenn sie zurück nach Berlin kommen, ziehen sie die richtigen Schlussfolgerungen und fangen an zu regieren.
 
Regieren heißt Verantwortung übernehmen, auch wenn es stürmisch ist und der Wind sich dreht. Wir haben in Thüringen gestern die Kommunalen Spitzenverbände und die Landesvorsitzenden der Parteien, die im Land und im Bund Regierungsverantwortung tragen, zu einem ersten Spitzentreffen eingeladen. Wir waren uns einig, dass wir viel zu lange damit gewartet haben. Viel zu viel Zeit ist mit dem Streit um Zuständigkeiten und parteipolitischer Profilierung vergangen. Aber es ist doch richtig, wenn gesagt wird, dass es den Bürgerinnen und Bürgern gerade in Zeiten voller Herausforderungen nicht wichtig ist, welche Partei ihre Probleme löst, sondern ob überhaupt jemand anpackt und Lösungen sucht, statt neue Probleme zu erfinden. Das Land, die demokratischen Kräfte und die kommunale Familie sind in einer Verantwortungsgemeinschaft gegenüber den Menschen, die kommen und gegenüber den Thüringerinnen und Thüringern.
 
Wir haben ein konstruktives erstes Arbeitsgespräch miteinander geführt, nach dem mir vieles sehr viel klarer vor Augen steht, als vorher. Das Land und die Kommunale Familie in Thüringen stehen mit der Aufnahme von über 20.000 Menschen im Jahr 2015 und ohne die Perspektive auf eine Abnahme der weltweiten Flüchtlingsbewegungen vor einer gewaltigen Kraftanstrengung, die das politische Handeln der kommenden Jahre prägen wird. Das werden wir im Land nicht zuletzt an den Haushaltszahlen sehen. Alle Planungen sind durch die enorm gestiegenen Kosten für die Flüchtlingsunterbringung, zu denen wir ohne Wenn und Aber stehen, Makulatur. Aber nicht nur im Land, sondern auch in den Kommunen, wo die Defizite analog wachsen. Hier müssen wir schnell gemeinsam nach Lösungen suchen. Und wir werden sie finden.
 
Wir müssen drei praktische Aufgaben gleichzeitig bewältigen. Die Erstunterbringung der Asylsuchenden beim Land und die Folgeunterbringung in den Kommunen muss bei ständig weiter wachsenden Flüchtlingszahlen bewältigt werden. Wir müssen zweitens ein landesweites gemeinsames Bleibe- und Rückführungsmanagement entwickeln, das es uns ermöglicht, den zu uns kommenden Menschen innerhalb von möglichst maximal drei Monaten Klarheit über ihre Bleibeperspektiven zu geben und für sie im Anschluss passgenau Unterbringungskapazitäten in den Kommunen oder zeitnahe Rückführungswege zu finden. Für die Menschen, die dauerhaft oder für eine längere Zeit in Thüringen bleiben, brauchen wir schließlich einen Thüringer Integrationsplan, den wir im breitestmöglichen Konsens mit den demokratischen Kräften des Landes sowie der Kommunalen Familie entwickeln wollen.
 
Ich habe eine Reihe von Sofortmaßnahmen vorgestellt, die jeder hier (http://www.thueringen.de/th1/tsk/aktuell/mi/85791/index.aspx) nachlesen kann. Ich scheue mich auch nicht, gute Ideen der Opposition wie Mike Mohrings Vorschlag eines Freiwilligen Sozialen Jahrs Asyl aufzugreifen und umzusetzen. Es geht in den kommenden Monaten und Jahren nicht darum, wer eine gute Idee hat, sondern ob wir sie gemeinsam umgesetzt bekommen. Also sage ich noch einmal Danke, diesmal an Mike Mohring. Ich habe den Kommunen außerdem zugesichert, dass wir alles unternehmen werden, um ihre finanzielle und organisatorische Belastung auf das notwendige Maß zu beschränken. Dazu gehört auch, dass wir wie bislang keinen Sonderweg bei der Verlängerung des Aufenthalts abgelehnter Asylbewerberinnen und Asylbewerber ohne gültigen Aufenthaltstitel gehen, sondern im Rahmen seiner Möglichkeiten und der bundesgesetzlichen Rahmenbedingungen für eine zügige Rückführung der betroffenen Menschen eintreten. Es gilt mein Wort: Wer in Thüringen bleiben will, braucht die Staatsbürgerschaft eines EU-Landes oder einen gültigen Aufenthaltstitel. Wer beides nicht hat, muss fristgerecht ausreisen, entweder freiwillig und selbstständig oder, wenn das nicht erfolgt, in der Regie staatlicher Stellen. Das geltende Recht wird ohne Abstriche umgesetzt. Ich habe der Kommunalen Familie angeboten, dass alle Probleme des Bleibe- und Rückführungsmanagements in einer eigenen Arbeitsgruppe auf den Tisch kommen, die in die geplante landesweite Evaluierung der Rückführungspraxis einfließen. Der Grundsatz humanitärer Einzelfallentscheidungen unter Beteiligung der Härtefallkommission und die Respektierung des Kirchenasyls sind davon unberührt. Unser gemeinsames Ziel ist, dass alle nach Thüringen kommenden Menschen innerhalb von drei Monaten Klarheit über ihre Bleibeperspektiven bekommen. Auch hier gilt: gemeinsam Probleme identifizieren und nach Lösungen suchen ist für uns alle der Königsweg. Zum Konsens gehört der Kompromiss, zur Gemeinsamkeit das Aufeinanderzugehen. Beides haben wir in diesem Gespräch alle gemacht. Und wenn wir nach Hause kommen, heben sicher manche die Augenbrauen. Aber ich weiß, warum ich Kompromisse für ein höheres Maß an Konsens machen will: Weil wir die Gemeinsamkeit brauchen, um Probleme zu lösen, und damit Thüringen ein weltoffenes Stück Heimat für viele bleibt.
 
Ja, vielleicht ist es pures Glück, dass bisher keine Thüringer Flüchtlingsunterkunft von rassistischen Brandstiftern angezündet wurde. Wir hoffen nicht nur, dass es nie dazu kommt. Wir tun auch alles, um es zu verhindern. Aber heute habe ich die Hoffnung, dass wir einen guten Schritt auf dem Weg zu der politischen Gemeinsamkeit vorangekommen sind, die uns die Sicherheit gibt, unser Land sicher durch die kommenden Stürme und Untiefen zu steuern.