Zurück oder nach vorn?
Mein Vorschlag für eine Modernisierung des deutschen Staatsbürgerschaftsrechts hat Staub aufgewirbelt. So viel Staub, dass nun sogar in dieser Woche der Thüringer Landtag in einer Aktuellen Stunde auf Antrag der CDU-Fraktion darüber beraten wird. Ich freue mich auf diese Debatte, die sicher lebhaft und hoffentlich auch aufklärerisch wird. Ich stehe zu meinem Vorschlag, in Deutschland geborenen Kindern sehr vereinfacht die deutsche Staatsbürgerschaft zuzuerkennen. Wer hier geboren ist, muss auch von Anfang an integriert werden und dazu gehören können. Mit dem vereinfachten Zugang zur deutschen Staatsbürgerschaft sagen wir den Kindern, und im Übrigen auch ihren Familien: Ihr sollt zu uns gehören. Ihr habt Rechte. Ihr habt Pflichten. So wie alle anderen, die hier leben.
Ebenso kontrovers wurde mein Vorschlag diskutiert, den geschätzt etwa 200.000 untergetauchten Ausländer/innen in Deutschland die Perspektive auf einen legalen Aufenthaltsstatus zu eröffnen. Auch hier wünschte ich mir etwas mehr aufgeklärte Gelassenheit in der Diskussion. Die Behauptung, mit einem derartigen „Angebot“ schaffe man eine „Sogwirkung“ auf Migrant/innen nach Deutschland geht völlig an der Realität vorbei. Ich weiß nicht, ob irgendwer ernsthaft glaubt, eine syrische Familie in Aleppo oder Raqqa würde auf ein Selfie mit Merkel oder ein Interview mit Ramelow warten, um den Entschluss zur Flucht nach Europa zu fassen,dann jahrelang illegal Schwerstarbeit zu leisten und dann auf eine weitere Amnestie zu warten. Es genügt ein Blick in die abendlichen Nachrichten, um zu begreifen, dass es die russischen, syrischen und amerikanischen Bomben und bewaffnete Terrorbanden sind, die Fluchtbewegungen auslösen. Es mag sein, dass Merkels „Wir schaffen das“ vor einem Jahr eine Ankündigung war, auf die zu wenig politische Substanz folgte, um ein ganzes Land auf eine schwierige Reise mitzunehmen. Inzwischen haben wir aber allen Anlass, unsere politischen Debatten wieder etwas zu rationalisieren und den von rechts geschürten Ängsten einen realistischen und humanistischen Politikansatz entgegen zu setzen. Deutschland ist ein gespaltenes Land, nur halt nicht mehr in Ost und West, BRD und DDR, sondern in Oben und Unten. Es sieht nur vordergründig so aus, als ob diese Spaltung auf die denkwürdige Entscheidung vom Sommer 2015 zurückgeht, die deutschen Grenzen nicht für die aus den Krisenregionen des Nahen Ostens und Nordafrikas nach Europa fliehenden Menschen zu schließen. Nein, Deutschland war schon vor ein ebenso reiches wie sozial gespaltenes Land, das sich Kinder- und Altersarmut in skandalösem Ausmaß leistet, das auf eine gerechte Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen sehenden Auges verzichtet und lieber Sozialleistungen und Investitionen in die Infrastruktur kürzt als Millionenerbschaften zu besteuern. Und auch Europa war schon gespalten, bevor sich die EU-Regierungschefs über die Verteilung von Flüchtlingen entzweiten. Die Verweigerung der Solidarität hat Deutschland – damals im Verein mit den osteuropäischen Ländern – gegenüber den Menschen in Griechenland und den anderen EU-Krisenländern vorgelebt. Erinnern wir uns noch an die erste Reise von Papst Franziskus nach Lampedusa? Er mahnte dort Europa zur gerechten Verteilung der Schutzsuchenden und die Deutsche Regierung lehnte es umgehend ab. Dass von dort jetzt nur verhaltener Rückhalt für die deutsche Forderung nach Solidarität kommt, kxann kaum verwundern. Es ist Merkels Europa, das als Gemeinschaft vor den größten sozialen, inneren und sicherheitspolitischen Herausforderungen zu scheitern droht.
Aber unbestritten stehen wir nunmehr vor einem kulturellen Großkonflikt und einer politischen Lagerbildung, wie wir sie in dieser Republik seit ihrem Bestehen nicht hatten. Auf der einen Seite steht das Lager derjenigen, die angesichts der großen Krisen unserer Zeit die Sehnsucht nach einem Zurück in vermeintlich gute alte Zeiten schüren und bedienen. Dieses rechte Lager reicht von rechtsextremen Bewegungen wie den sogenannten „Identitären“ über die AfD bis in weite Teile der Union. Auf der anderen Seite formiert sich (leider viel zu langsam) ein progressives Lager derjenigen, die das Land nach vorn verändern wollen. Dieses Lager ist in der Gesellschaft längst vorhanden, aber die Parteien diesseits der Union müssen alte Hüte ablegen, um es wirksam zu repräsentieren. Ich wünsche mir, dass dieses progressive Lager eines nicht mehr allzu fernen Tages stark genug ist, um gesellschaftliche Akzeptanz und politische Mehrheiten für die Vision von einer sozialen Einwanderungsgesellschaft zu kämpfen, in der sich sozialer Fortschritt, wirtschaftliche Transformation und kulturelle Modernisierung vereinen.
Zu dieser sozialen Einwanderungsgesellschaft gehört zuallererst die Forderung, dass wir ein Land für alle bauen wollen. Ein Land, in dem kein Kind zurück und kein alter Mensch allein gelassen wird. Ein Land, in dem Menschen auf sozialen Schutz vertrauen können und eine zweite Chance bekommen. Ein Land, in dem Arbeit gerecht bezahlt und verteilt wird. Ein Land, in dem Großkonzerne und Millionäre keinen geringeren Steuersatz als Handwerksbetriebe und Krankenpfleger/innen zahlen. Das ist nicht weniger als ein fundamentaler Pfadwechsel in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Der Kanon von sozialen Grundgewissheiten, der den Menschen das Versprechen gibt, dass sie für ihre Bereitschaft zum Mitwirken am Fortkommen des Gemeinwesens eine Absicherung der großen Lebensrisiken erhalten, ist durch neoliberale Politik ins Wanken gekommen. Es gibt aber keine Weltoffenheit ohne soziale Sicherheit. Deshalb brauchen wir eine Sozialstaatsgarantie, die die Wiederinkraftsetzung von sozialen Grundgewissheiten zur vornehmsten Aufgabe aller Politik erklärt, und eine Infrastrukturpolitik, die nicht auf die schwarze Null starrt sondern an der Welt baut, die wir unseren Kindern hinterlassen wollen.
Zu dieser sozialen Einwanderungsgesellschaft gehört aber eben auch der Konsens, dass es kein Zurück in eine heile Welt, die kreuz und quer von Grenzen durchzogen ist, gibt. Deutschland ist längst ein Einwanderungsland, aber es muss sich endlich auch als solches begreifen. Dafür brauchen wir ein modernes Staatsbürgerschaftsrecht, das sich nicht an im Kern völkischen Herkunftskriterien orientiert, sondern daran, Menschen in eine staatsbürgerliche Gemeinschaft mit Rechten, Pflichten und einer Hausordnung zu integrieren. Dafür brauchen wir genauso einen pragmatischen Umgang mit den nach Hunderttausenden zählenden Menschen, die hier ohne legale Papiere leben und (solange wir es zulassen) ein Rekrutierungsreservoir für die organisierte Kriminalität und moderne Sklavenhalter bilden. Spanien hat es vor über zehn Jahren vorgemacht und keinen Schaden genommen. Und dafür brauchen wir drittens endlich ein modernes Migrationsrecht. Wir können es uns nicht leisten, auf eine fleißige Hand oder einen schlauen Kopf zu verzichten. Allein in Thüringen brauchen wir in den kommenden Jahren eine sechsstellige Zahl einwandernder und natürlich auch integrationswilliger Menschen, um den wirtschaftlichen Wohlstand und die Qualität sozialer Dienstleistungen wenigstens zu halten. Ein Einwanderungsland braucht ein Zuwanderungsgesetz.
Zurück oder nach vorn, das ist die Debatte, die wir führen müssen, und die wir diese Woche im Landtag auch führen werden. Ich freue mich darauf.