Wut ist ein schlechter Ratgeber

In wenigen Tagen endet das laufende Jahr. Mein Eindruck ist der, dass sich in weiten Teilen der Bevölkerung ein Gefühl der Ohnmacht und der Wut breitmacht.

Klar: die Ursachen sind vielfältig, stehen aber nicht selten in unmittelbarer Verbindung mit der Alltagsrealität der Menschen.

Um nur ein Beispiel herauszugreifen: am vergangenen Wochenende war ich privat mit der Bahn unterwegs – einmal quer durch Deutschland. An Tag 1 war ich als Überraschungsgast auf dem Geburtstag meiner Schwester an der Bergstraße und am kommenden Tag bei meinem Sohn in Marburg. Die Überraschung ist gelungen, die Freude war groß.

Auffallend war allerdings, dass keiner der benutzten Züge auch nur annährend pünktlich war. Die vielfältigen Verspätungen der unterschiedlichen Züge und die damit erzeugte Fahrplankonfusion waren allerdings so eklatant, dass ich ironischerweise dennoch immer mehr oder weniger pünktlich an den jeweiligen Zielbahnöfen anlandete.

Hier gilt wohl die alte Maxime meiner Großmutter: „Immer wenn du denkst, die Eisenbahn fährt nicht mehr, kommt von irgendwo ein Züglein her“.

Sicher: ich habe eine Menge über die DB-App gelernt, weiß wie man die Wagenstandsanzeige aufruft, sehe ob und welche Verspätungen zu Problemen mit dem Anschlusszug führen und da ich das Streckennetz der Bahn recht gut kenne, habe ich auch ein Gefühl dafür, welche Alternativrouten infrage kommen könnten. Das Personal war sichtlich bemüht, aber die Anstrengung war den Beschäftigten deutlich anzusehen. Ihnen und all denen, die dieses Bahnsystem tagtäglich am Laufen halten, gilt mein Dank.

Wenn sich Politik und Gesellschaft endlich entscheiden würden, Mobilität fernab vom Individualverkehr neu zu denken, müssten wir solche Zustände nicht länger erleben. Die Schweiz macht es vor und selbst die Pünktlichkeit anderer europäischer Bahnen zeigt, was mit mit klugen und nachhaltigen Konzepten erreichen könnte.

In diesem Kontext ist es spannend, Claus Weselsky zuzuhören, wie er das Urabstimmungsergebnis der GDL erläutert. Sicher werden viele Menschen darunter leiden, wenn die Lokführer sich entscheiden, zu mehrtägigen Streiks den Eisenbahnverkehr faktisch zum Erliegen zu bringen. Das werden Einschränkungen für die Bahnnutzer, ganz sicherlich. Aber ist es nicht notwendig, über die Arbeitsbedingungen aller Bahnbediensteten genauso neu nachzudenken, wie wir über unsere Mobilität insgesamt neu nachdenken müssen?

Es ist wahrlich kurios, dass die Bahn auf Strom und Diesel genauso Steuern zahlen muss, wie für die Benutzung der Schienenkilometer selbst. Sogar auf die Fahrkarten kommt noch der Mehrwertsteueraufschlag – bis 50 km je 7 %, darüber hinaus 19 %. Diese Steuern fließen alle an den Staat, der wiederum der Eigentümer des ganzen Bahnsystems ist und den das Grundgesetz verpflichtet, die Bahn so aufzustellen, dass sie für alle Bürger in diesem Land gut funktionierend zur Verfügung steht.

Dabei erwarte ich als Fahrgast natürlich, dass das Personal pünktlich Feierabend machen kann. Auch eine Arbeitszeitverkürzung könnte zur Attraktivitätssteigerung führen, aber nur, wenn die damit verbundene Arbeitszeitsouveränität auch gewährleistet wird. Zeitsouveränität wird der Schlüssel der zukünftigen Arbeitsverträge werden, denn die Menschen leiden darunter, permanent in einer Arbeitsgesellschaft zur Verfügung stehen zu müssen, obwohl sie selbst ihren Teil der Zeit souverän verplanen wollen.

Die gleiche Problematik betrifft die Beschäftigten in den Krankenhäusern und in der Pflege. Im Tarifvertrag des Krankenhauses in Eisenberg ist Arbeitszeitsouveränität mittlerweile Realität geworden.

Am Montag begann der Tag für viele Autofahrer in Berlin beinahe mit einem Debakel. Tausende von Traktoren rollten in die Hauptstadt, da die „Ampel“-Regierung“ aktuell in großer Hektik dabei ist, Sparmaßnahmen einzuleiten, die direkt und unmittelbare Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen der Landwirte, der Ernährungswirtschaft und auch der Gartenbaubetriebe haben werden.

Das Ganze läuft unter dem Kampfbegriff „Subventionsabbau“. Er soll offenbar suggerieren, dass die Betroffenen über lange Zeit irgendwelche Privilegien gehabt hätten. Nein, ursprünglich war einmal der Plan, mit Agrardiesel den strukturellen Nachteil unserer landwirtschaftlichen Betriebe auszugleichen. Um es anhand von Zahlen zu verdeutlichen: Diesel sollte mit 47 Cent besteuert werden, während die EU-Mitbewerber im landwirtschafts- und ernährungswirtschaftlichen Bereich lediglich mit 10 Cent/Liter Diesel belastet werden. Was ist daraus geworden?

Nunmehr soll die KFZ-Steuerbefreiung für landwirtschaftliche Betriebe entfallen und die CO2-Bepreisung vorzeitig wieder ansteigen. Auch die Netzentgelte für die Stromautobahnen werden aus der Entlastung genommen werden.

Das heißt in Summe, dass für alle Betriebe der Landwirtschaft, der Ernährungswirtschaft, aber auch des Gartenbaus die Primärenergiefinanzierung massiv teurer wird – eine wirkliche Katastrophe, nicht nur, weil dieser Schritt der Ampel urplötzlich kommt, sondern auch, weil er die Betriebe in einer Lage trifft, in der sie durch Veränderungen der EU-Finanzmittel-Ausschüttung schon an anderer Stelle massiv belastet werden.

Betrachtet man dann noch, wie die landwirtschaftlichen Flächen zu Spekulationsobjekten geworden sind und damit die Bodenpreise drastisch nach oben gehen, dann versteht man, dass Pachten aufgrund solcher Spekulationsfantasiepreise immer weiter steigen werden.

Unsere Gesellschaft muss sich fragen, ob sie landwirtschaftliche Produktion im ländlichen Raum weiterhin erhalten möchte, ob sie Regionalität als Markenzeichen und Qualitätsmerkmal ganz praktisch fördern will, ob sie deutlich machen will, dass z. B. Schulessen regionaler Herkunft einen Wert an sich darstellt und finanziell besser unterstützt werden kann.

Wenn also billige Nahrungsmittel zollfrei über die Weltmeere geschippert werden, dann empfinden das die Bauern bzw. unsere Thüringer Agrarbetriebe als bodenlose Frechheit. Wir haben zum Thema Ackerland jetzt einen Gesetzesentwurf vorgelegt, in dem wir zumindest sicherstellen wollen, dass in Thüringen endlich eine Antispekulationsklausel die Agrarflächen davor beschützt, einfach von Kapitalgesellschaften aufgekauft zu werden. Andererseits braucht es hier einen weitreichenderen Paradigmenwechsel. Landwirtschaftsbetriebe dürfen nicht mehr als normale Gewerbebetriebe deklariert werden, die einfach nur wie jeder Industriebetrieb behandelt werden. Produktionsbetriebe der Landwirtschaft, der Ernährungswirtschaft und des Gartenbaus sind ein Beitrag, um den ländlichen Raum zu stabilisieren und Dörfer lebendig zu halten.

Was ist uns der ländliche Raum wert? Und könnten wir nicht am Beispiel des Schulessens einen größeren Schritt machen? Was wäre, wenn regionale Produkte schulortnah zu Schulessen verarbeitet werden würden, anstatt Schuläpfel mit europäischen Geldmitteln aufwendig zu subventionieren? Was wäre, wenn auf dieses standortnah erzeugte Schulessen gar keine oder nur eine 7-prozentige Mehrwertsteuer anfiele?

Am Ende dieser Fragenkaskade steht natürlich diejenige nach der Schuldenbremse, die angeblich das alles ausgelöst hätte. Karlsruhe hat entschieden, dass 60 Milliarden Euro in einem Sonderfonds unzulässig sind, wenn sie gegen den Wortsinn der Schuldenbremse am Kreditmarkt aufgenommen worden sind. Diese Entscheidung war zu erwarten. Schon 2009 habe ich in meiner Abschiedsrede im Deutschen Bundestag auf dieses Desaster aufmerksam gemacht. Als Kaufmann weiß ich, dass der Investitionsbegriff mit der sogenannten Schuldenbremse nicht kompatibel ist. Schulden sind nicht einfach Schulden, sondern es muss abgeprüft werden, ob sie konsumtiv entstanden sind, also ob Geld aufgenommen wird, das einfach nur verbraucht wird, oder ob man Geld aufnimmt, um Sportanlagen, Schulen, Straßen, Infrastruktur etc. zu bauen. Mit solchen Investitionen, die sich gebäude- und infrastrukturtechnisch abrechnen lassen, könnte man begründen, warum man Kredite aufnimmt und die Kreditbewirtschaftung nicht zu Schulden, sondern zu einer Verbesserung der Vermögenslage der gesamten Gesellschaft führt.

Betrachten wir dies, wird man schnell feststellen, wie ungerecht das Verhältnis des Staates zur Bahn ist. Bei der Bahn gehört das Schienennetz dem Staat, die darauf rollenden Züge müssen Schienenentgelt als Nutzungsgebühr zahlen. Alle Privatautos fahren auf den Straßen ohne solche Entgelte. Der deutliche Unterschied: der PKW, der in der Regel von einer einzelnen Person gefahren wird, emittiert pro Kopf der transportierten Menschen wesentlich mehr als eine Bahn – und das Ganze ohne Nutzungsgebühren. Wenn man jetzt schon Gelder einsparen will, um den notwenigen Finanzbedarf des 60 Milliarden-Fonds aufbringen zu können, muss man sich tatsächlich politisch Gedanken machen, welche Widersprüche bis heute nicht aufgelöst wurden, aber durch falsche Sparsignale bei den Menschen das Gefühl der Wut und der Ohnmacht schüren.

Die Besteuerung von Agrardiesel steigt massiv an, während das Flugzeugbenzin Kerosin bis heute überhaupt nicht besteuert wird. Die KFZ-Steuer für landwirtschaftliche Betriebe soll eingeführt werden, während das Dienstwagenprivileg einfach unangetastet fortbesteht. Bei letzterem könnte man wenigsten eine Hubraum- bzw. KW-Obergrenze einführen, denn es geht nicht darum, den Dienstwagen der Pflegekraft, sondern die riesigen, protzigen Dienstwagenflotten zu besteuern. Und hier nähern wir uns nun dem springenden Punkt der Ungerechtigkeit. Je höher das persönliche Vermögen ist, desto geringer wird die individuelle Steuerlast. Alleine in 24 Fällen im vergangenen Jahr im Rahmen der Erbschafts- und Schenkungssteuer sind 1,43 Milliarden Euro Steuern an die Superreichen geschenkt worden. Eine leitende Beamtin des Bundesfinanzministeriums scheut sich nicht einmal, dies in einem Beratungsmeeting mit der entsprechend Betroffenen stolz zu erläutern. Der Fachbegriff resp. das Zauberwort heißt „Verschonungsbedarfsprüfung“.Hinter diesem nur vordergründig harmlosen Begriff versteckt sich eine riesige Steuerentlastung für vererbtes bzw. geschenktes Geld. Setzt man dagegen den Länderfinanzanteil für das Deutschlandticket, kommt man für alle 16 Bundesländer auf eine Summe von 1,5 Milliarden Euro, die der Bund im angesprochenen Fall einfach locker verschenkt. Während man also beim Agrardiesel von „Subventionsabbau“ spricht, verteilt man Subventionen an die Superreichen für Steuerentlastungen bei Erbschaften und Schenkungen.

Wir sehen: unsere Gesellschaft kann es sich nicht leisten, sich die Debatte um eine gerechte Besteuerung der Superreichen zu ersparen. Es wird Zeit, dass wir den GDL-Streik, die bevorstehenden Bauernproteste und den Klimastreik zusammendenken und uns auch klarmachen, dass das, was die sogenannten Klimakleber fordern, seine Berechtigung hat, wenn man es mit dem praktischen Leben verbindet. Ja, die vorhandenen Traktoren können derzeit nicht so ohne Weiteres auf grünen Wasserstoff umgestellt werden. Aber perspektivisch kann auch das möglich sein.

Trotzdem: wir müssen mit den Bauern zusammen die Frage erörtern, wie kurze Wege bei der Nahrungsmittelproduktion (- gerade mit Blick auf die Themen Schulessen, Versorgung in Krankenhäusern, Kindergärten etc.) erreicht werden können und das Prinzip „Regionalität“ in all seinen Facetten ausgestaltet werden kann.

Wir müssen fragen, wie wir eine alles durchdringende Vermarktlichung anhalten können, die am Ende – gerade in schlechten Zeiten – beinahe zwangsläufig dazu führt, dass der Staat mit Steuergeldern einspringen muss. Und genau in diesem Kontext muss es auch möglich sein, eine andere Form von Mobilität aufs Gleis zu setzen, jenseits des fossilbetriebenen Individualfahrzeuges. Ich bekämpfe kein Auto, sondern rege dazu an, weiterzudenken. Ich kämpfe nicht gegen die Mehrwertsteuer, frage aber, ob es nicht sinnvoll wäre, bei Schulessen die niedrige Mehrwertsteuer genauso anzuwenden wie beim Bahnverkehr. Solange wir aber Ungerechtigkeiten wie die oben aufgezählten zulassen, werden wir wachsenden Unmut und auch Gefühle der Ohnmacht produzieren

Deshalb verstehe ich die Lokführer, wenn sie streiken, die Bauern, wenn sie mit ihren Traktoren demonstrieren und die Fridays for Future, aber auch die Aktivisten im Klimastreik, die darauf hinweisen, dass unser Globus einen weiteren Temperaturanstieg nicht aushält. Nicht Wut, sondern Nachdenklichkeit brauchen wir.

Mit Goethe möchte ich das endende Jahr beschließen: „Aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man etwas Schönes bauen“. Lasst uns an einer sozialen und ökologischen Gesellschaft bauen. Das jedenfalls ist mein Weihnachts- und Neujahrswunsch!