Gedanken im Nachgang zum 11. September

Der 11. September 2023 ist für mich ein besonders denkwürdiger Tag. An ihm treffen unterschiedliche Ereignisse zusammen, die zum Teil weit in der Vergangenheit liegen, aber dennoch auch in meine Gegenwart ausstrahlen.

Da ist der 11. September 1973 in Chile, der 50. Jahrestag des Putsches von Pinochet gegen die demokratische Regierung von Salvador Allende. Der gewaltsame Tod von Allende oder Victor Jara, das Töten, das Foltern und natürlich die Erkenntnis, welche unselige Rolle in diesem grauenhaften Geschehen die Colonia Dignidad und damit mittelbar auch die Bundesrepublik Deutschland spielte.

Genau aus diesem Grund war ich im vergangenen Jahr als Bundesratspräsident in Chile und habe auch bewusst die Colonia Dignidad besucht, um mit den Bewohnern, aber auch mit den Opfern ins Gespräch zu kommen. Der Besuch im Kartoffelkeller, in dem die Menschen nachts gefoltert und totgeschlagen worden sind, ist mir eindrücklich in Erinnerung. Das seltsame Verhalten des  Auswärtigen Amtes allerdings weckt in mir das ungute Gefühl, dass selbst noch heute in bestimmten Behörden Menschen wirken, die nicht aufzuklären gewillt sind, was unter deutscher Beteiligung mit Hilfe des BND in der Colonia wirklich geschehen ist. Wohin wollen wir? Möchten wir eher die Kumpanei und das Totschweigen, für das wohl Franz-Josef Strauß gestanden hat oder stehen wir in der Tradition von Norbert Blüm, der auf sehr drastische Art in Chile Haltung gezeigt hat? Es ist eben nicht einfach nur CDU oder CSU, sondern es ist eine Frage der Haltung.

All das bewegt mich nicht zuletzt, weil ich am gleichen Tag hören muss, was Frau Weidel im Fernsehen zum 8. Mai gesagt hat. Die epochemachende Rede von Richard von Weizsäcker wird einfach ins Lächerliche gezogen. Für mich war es so beeindruckend, was Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 im Bundestag ausgeführt hat, was es heißt, dass der 8. Mai 1945 nicht einfach der Tag des Kriegsendes oder gar der Niederlage war.

war, sondern dass Deutschland befreit wurde von den Verbrechen des Hitlerfaschismus. 38 Jahre später lese ich an diesem 11. September Tweets, in denen Menschen sich auf Frau Weidel beziehen und die Behauptung aufstellen, Deutschland sei bis heute gar nicht befreit worden. Die Überlebenden der Konzentrationslager würden hierzu deutlich und zurecht eine dezidiert andere Sicht formulieren.

Am Abend des diesjährigen 11. September erlebte ich eine sog. Montagsdemo in Ilmenau, bei der Personen mit russischen Fahnen in der einen und mit der Friedenstaube in der anderen Hand ohne jede Anmeldung durch die Stadt liefen, es völlig ignorierten, dass es ein Ordnungsamt gibt und dass man öffentliche Aufzüge zumindest aus Gründen der Verkehrssicherheit anzumelden hat. Diese Menschen behaupten, es gäbe keine Meinungsfreiheit in Deutschland, um sich gleichzeitig vor die Veranstaltung, auf der ich auftreten soll, mit lauten Hupen, massiven Trommeln und anderen Lärminstrumentarien zu platzieren, um mir die Freiheit, mich frei zu äußern zu beschneiden.

Picasso würde sich übrigens im Grab herumdrehen, würde er die Kombination aus seiner Friedenstaube und der Fahne eines Landes sehen, das gerade einen Nachbarn mit Krieg überzieht und damit für einen chauvinistischen, militaristischen Aggressor steht.

Im Laufe des Tages hörte ich allerdings auch vom Tod Éva Fahidi-Pusztais, die im Alter von 97 Jahren verstorben ist. Eva Fahidi ist die Zeitzeugin, die mir deshalb so nahe ist, weil sie mit ihrem Lächeln immer gezeigt hat, dass sie freundlich auf Menschen zugeht, obwohl Menschen, in diesem Fall deutsche Menschen, ihr so viel Leid angetan und einen Großteil ihrer Familie ausgelöscht haben. Eva Fahidi war Überlebende des Konzentrationslagers Stadtallendorf, das eine Außenstelle von Buchenwald war. Ich selbst war als junger Gewerkschafter aktiv in Stadtallendorf und habe erlebt, wie die Rede von Richard von Weizsäcker vor 38 Jahren das Denken auch dort verändert hat. Der Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten war genau in dieser Zeit in Stadtallendorf Anlass für einen Lehrer, mit seinen Schülern die Spuren des KZ Stadtallendorf zu suchen. In dieser Zeit gab es keinerlei Spur mehr, kein Gebäude, kein Stacheldraht, nichts mehr, was an das Lager erinnert hätte. Eva Fahidi hat diesen Ort, an dem sie dem Tod so nahe war, nie vergessen. Dass aber alle Spuren ausgelöscht waren, war für sie schwer zu begreifen. Deshalb bin ich Richard von Weizsäcker so dankbar, dass er mit dem Geschichtswettbewerb die Prozesse in Gang gesetzt hat, wie mit dieser Spurensuche tatsächlich das Gedenken an das Grauen in Stadtallendorf wieder ermöglicht wurde. Der besagte Lehrer wurden damals angegriffen. Er sollte aufhören mit den Schülern nach den Dingen vor 1945 zu fragen, aber die städtische Gesellschaft hat sich auf der Seite der Schüler und der Lehrer bewegt und deutlich gemacht, dass es notwendig sei, die Fragen zu stellen, die in dem Geschichtswerkstattprozess angelegt waren. Heute steht wieder eine Gedenkeinrichtung in Stadtallendorf und es wird daran erinnert, welches Grauen hier stattgefunden hat.

Wenn also an diesem 11. September 2023 die letzte noch lebende Zeugin des Grauens ihren letzten Atemzug getan hat und am selben Tag die Rede von Richard von Weizsäcker politisch niedergemacht wird, ist das eine Verhöhnung der jahrzehntelangen Gedenkstättenarbeit und Erinnerungskultur in diesem Land.

Und wenn ich in diesem Kontext – auch am 11. September 2023 – lese, dass Herr Prophet in Nordhausen eine Stellungnahme vor einiger Zeit abgegeben, in der er von „Schuldkult“ redet und die Gedenkstättenarbeit meint, wird deutlich, was passiert, wenn wir keine Zeitzeugen mehr haben, die authentisch dagegenhalten können.

Ich erinnere mich noch gut, wie Christian Carius (CDU) als Thüringer Landtagspräsident sich am Holocaust-Gedenktag vor Herrn Höcke gestellt hat und ihn bat, den Plenarsaal zur Gedenkstunde nicht zu betreten, da es den Überlebenden der Shoah nicht zuzumuten sei, an diesem Tag einen Raum mit jemandem zu teilen, dessen Reden durchaus als Ruf nach der Abwicklung des Shoah-Gedenkens gelesen werden könnten.

Alles das geht mir an diesem 11. September 2023 durch den Kopf. Ja, an vielen Stellen wird jetzt versucht, zu vergessen und einen Weg in ein vermeintlich idyllisches Vorvorgestern einzuschlagen, das es so niemals gegeben hat. Wohin aber genau soll es gehen? In die 1950er? In die 1930er und 1940er? Haben der Faschismus und sein unseliges Nachleben in der Bundesrepublik ihren Schrecken verloren? Das kann nicht der richtige Weg sein.

Gleichzeitig sehe und spüre ich, dass genügend Menschen da sind, die wachsam sind und zusammenstehen, damit man nicht in die Knie geht vor denen, die meinen, das Gift des Hasses in unsere Gesellschaft einsickern lassen zu müssen. Dafür kämpfen wir gemeinsam – und daran denke ich gerade an einem 11. September.