Wie Schwester Agnes bayrisch wurde

Mein Angebot, einmal über das Wahlergebnis in Sonneberg unter dem Aspekt der fortgesetzten Verletzungen des Nicht-Wahrnehmen-Wollens gesellschaftlicher Entwicklung im Osten Deutschlands nachzudenken:

Am Beispiel von Schwester Agnes versuche ich immer, einige der grundsätzlicheren Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland darzustellen. Ostdeutsche Menschen kennen die Kultfigur von Agnes Krause, die mit ihrer „Schwalbe“ als legendäre Gemeindekrankenschwester ganze Generationen geprägt hat. Westdeutsche können sich weder unter der Schauspielerin noch unter der dargestellten Tätigkeit der Gemeindekrankenschwester irgendetwas vorstellen. In dem Dorf in Rheinhessen, in dem ich meine Kindheit verlebt habe, kannten wir Gemeindeschwestern. Allerdings bestand deren Aufgabe darin, die soziale Betreuung älterer Personen im Dorf zu begleiten und entsprechende Aktivitäten zu organisieren. Die medizinische Versorgung in unserem Dorf sicherte der Landarzt ab, der zwei Mal in der Woche auch zur Haussprechstunde in unser Dorf kam. Man versammelte sich in der Küche eines Privathauses und wartete, bis man dort vom Arzt untersucht wurde. Eine Runde waren die Patienten, die dort in der Küche gemeinsam warteten und danach wurden die bettlägerigen Patienten zuhause besucht. Dabei wurde auch das ausgestellte Rezept gleich eingesammelt und später zur Apotheke in die Kreisstadt gebracht. Am darauffolgenden Tag konnte man dann in diesem Privathaus in der selbigen Küche wiederum seine Medikamente abholen. Heute alles undenkbare Verfahren, aber damals gängige Praxis auf dem Dorf.

Eine Krankenschwester war jedenfalls mit unserem Landarzt nicht verbunden. Die bei ihm beschäftigte Sprechstundenhilfe und seine Ehefrau waren das gute Team, das alles auf den Dörfern am Laufen hielt. Die Gemeindekrankenschwester in der DDR allerdings war verbunden mit einem Landambulatorium oder einer polyklinischen Einrichtung und diese konnte auf den Dörfern eigenständig medizinische Versorgung so durchführen wie eine Krankenschwester es in einem Krankenhaus auch leisten durfte. Die Krankenschwester im Krankenhaus, die auch ausgebildet ist, Spritzen zu geben und in einer Wechselwirkung mit einem Arzt gemeinsam Patienten versorgt, ist also in Westdeutschland im Krankenhaus gut angesehen, in Ostdeutschland aber eine legendäre Figur, der wiederum mit der Schauspielerin Agnes Krause ein bleibendes Denkmal als Schauspielerin gesetzt wurde.

Im Rahmen der Ost-Ministerpräsidenten-Konferenz in Chemnitz diskutierten wir unlängst sehr intensiv unter den Ost-Ministerpräsidenten, wie sich die Krankenhauslandschaft in ganz Deutschland verändern müsste. Dazu hatten wir schon vor einigen Wochen eine gemeinsame Sondersitzung mit dem Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach. Immer wieder habe ich darauf hingewiesen, dass zwei große Blockaden im Raum stehen, wenn wir die medizinische Versorgung im ländlichen Raum absichern wollen. Die eine Blockade ist die Trennung zwischen ambulanter und stationärer Abrechnung sowie die Fallpauschalabrechnung der Krankenhäuser, die so genannten DRG‘s. Wir haben in Thüringen Krankenhäuser, die im ländlichen Raum medizinische Versorgungseinrichtungen vorhalten, für die es nicht genügend stationäre Patienten gibt. Als Beispiel sei genannt eine Radiologie in einem kleineren Krankenhaus, das leider keinen freien Arzt zugeteilt bekommen hat und somit selbst nicht genügend Patienten hat, um einen Klinikarzt dort zu beschäftigen und sich letztlich entschieden hat, die Radiologie stillzulegen. Wir haben also in dieser Kreisstadt eine stationäre Einrichtung, die sich als ambulante Versorgungseinrichtung öffnen könnte, wenn sie denn diese Leistung auch abrechnen dürfte.

Die Trennung zwischen ambulant und stationär ist eine, die in Westdeutschland jahrzehntelang sich zur Heiligen Kuh entwickelt hat, weil damit vermeintlich niedergelassene Ärzte ihren Schutz erhalten bekämen. Da wir aber feststellen, dass im ländlichen Raum zunehmend Ärzte als Rund-um-die-Uhr-Versorgung nicht mehr zur Verfügung stehen wollen und auch keine Bereitschaft mehr besteht, dem klassischen Prinzip des Landarztes als niedergelassenem Arzt immer weniger junge Menschen folgen, erleben wir jetzt, dass wir die Veränderung im Krankenhausbereich so denken müssten, dass wir kleinere Krankenhäuser im ländlichen Raum öffnen als polyklinische Leiteinrichtung, die wir verbinden mit genau dem, was auch Schwester Agnes als Figur verkörpert hat. In diesem Fall geht es aber nicht um das Spielen einer Figur, sondern um das Absichern medizinischer Versorgung für Patienten im ländlichen Raum, die nicht mehr so mobil sind. Um hier keinen Druck auszuüben und auch den ökonomischen Zwang nicht zu verstärken, dass diese Patienten erst eingeliefert werden müssen ins Krankenhaus, um dann abgerechnet zu werden, könnte man das Thema abändern, indem die Trennung zwischen ambulant und stationär aufgehoben wird und schlicht medizinische Leistung abgerechnet wird. Einerseits wären das dann die notwendigen Ärzte, die sich die Arbeitszeiten einteilen könnten und andererseits würden die Gemeindeschwestern, die in der DDR jeder kannte, zu einer normalen Institution werden und in der Rückkopplung jederzeit in der Lage sein, mit einem Arzt Kontakt aufzunehmen, wenn man vor Ort unterwegs ist.

Diese Form von Gemeindeschwestern oder Schwestern, die im ländlichen Raum als Krankenschwestern unterwegs sind, kennen wir, bezeichnen sie heute allerdings als VERAH. Betrachtet man sich die Abkürzung VERAH kommt man auf den Begriff der „Versorgungsassistentin in der Hausarztpraxis“ und dies sind erfahrende medizinische Fachangestellte, die sogar eine Zusatzqualifikation erworben haben, da sie selbständig draußen beim Patienten unterwegs sind, aber eine Rückabsicherung brauchen durch eine Ärztin oder einen Arzt, den sie auch jederzeit erreichen können. Ich bin vor einiger Zeit mit einer VERAH in Unterwellenborn unterwegs gewesen und habe mich von der Leistungsfähigkeit eines solchen Modells überzeugen können. Auch meine allererste Corona-Impfung habe ich von einer sehr engagierten VERAH erhalten, denn ich wollte gleichzeitig medial auch auf diese Hausarztassistenten im ländlichen Raum aufmerksam machen.

Aber warum ist die Gemeindeschwester nun bayrisch geworden? Dies ist eine seltsame Geschichte. Bei der Diskussion in der Ost-MPK habe ich mich sehr darüber geärgert, dass jetzt die große Krankenhausreform in Berlin so angelegt ist, dass ein Begleitgremium aus den Bundesländern sich dabei mit engagieren soll. Man hat schlicht und ergreifend den Osten vergessen. Man ist nicht einmal auf die Idee gekommen, die neuen Bundesländer zu fragen, ob wir für diesen Veränderungsprozess nicht eine ganze Menge an Erfahrung einbringen könnten. Das ist umso bedauerlicher, da wir gerade als Ost-MPK mit Karl Lauterbach diese Diskussion sehr engagiert geführt haben, dass die ihn begleitenden Beamten bei der Frage, wer wäre denn zu beteiligen, der Osten komplett ausgeblendet wurde. Hier wollten wir mit unserem Beschluss jetzt deutlich machen, dass dies ein schwerer Fehler ist. Man beschwert sich immer darüber, dass der Osten so sonderbar sei und merkt gar nicht, wie man durch solche Verfahren die Gräben immer weiter vertieft.

Wenn man Ostkompetenz in der Frage Polyklinik und Gemeindeschwestern schlicht ignoriert, dann wundern sich Menschen im Osten darüber, wie arrogant und überheblich „der Westen“ über Lebensrealitäten hinweggeht. Dies haben wir dann in unserem Beschlusstext sehr deutlich formuliert. Wir wollen nicht nur „irgendwie“ beteiligt sein, sondern dass gesehen wird, dass viel Kompetenz im Osten gibt, um einen Verbesserungsprozess der gesamtdeutschen Krankenhausentwicklung leisten zu können.

Im Zuge dieser Diskussion machte mich ein Beamter, der mit dem Thema sehr vertraut ist, darauf aufmerksam, dass es in Berlin vor kurzem eine Versammlung gab, auf der man neue Lösungskonzepte vorstellen wollte. Dort wurde dann dem staunenden Publikum das Modell einer Gemeindeschwester vorgestellt, die allerdings aus Bayern kam. Die engagierte Person kann nichts dafür, denn sie ist gut ausgebildet und ein bayrischer Arzt war klug genug, dieses Modell aufzugreifen. Dass es allerdings bei uns in Thüringen Normalität ist und dass man es bei uns im ländlichen Raum schon an vielen Stellen antreffen kann, auf diese Idee kam man bei der kompetenzvermittelnden Veranstaltung in Berlin überhaupt nicht. Spätestens hier habe ich bemerkt, wie wenig Kenntnis im West-Ost-Dialog vorhanden ist. Das, was wir zu einem gelingenden Prozess der Deutschen Einheit allerdings brauchen, ist das Verständnis dafür, dass aus der DDR mehr übriggeblieben ist als grüner Pfeil und Sandmännchen. Längeres gemeinsames Lernen gehört dazu, das Verständnis, Kindern einen ordentlichen Kindergartenplatz anzubieten und die Fähigkeit, im ländlichen Raum neue Wege zu gehen, um auf drängende Fragen der heutigen Zeit Antworten zu geben, die aus bestimmten Notsituationen der DDR schon sehr praktisch beantwortet worden sind. Warum nur muss ich immer wieder feststellen, wenn man sich aus Ostdeutschland zu Wort meldet, dass es nur um angebliches Gemeckere geht oder man unbotmäßig Geld haben möchte. Nein, wir haben viel einzubringen, was uns allen helfen kann und Lösungen anschieben könnte, die für ganz Deutschland von großer positiver Bedeutung wären.

Nichts gegen eine bayrische Gemeindeschwester, die als Hausarztassistentin unterwegs ist, aber dass man Schwester Agnes im Westen nicht kennt, macht deutlich, wie weit Deutschland Ost und Deutschland West auch im 34. Jahr des gemeinsamen Weges auseinanderliegen. Jetzt wäre es Zeit, sich nicht nur über seltsame Wahlumfragen zu echauffieren, sondern die Verletzungen auch zu erkennen, die letztlich zur aktuellen Lage geführt haben.

Die Deutsche Einheit ist mehr als nur ein gesamtdeutscher Soli. Es lohnt sich auch, auf die Stärken der neuen Länder zu schauen. Deutschlands Osten hat bei der Fernwärme weit die Nase vorn. Hier wollen wir gemeinsam eine Kraftanstrengung mit der Bundesregierung unternehmen, um Geothermie und Tiefengeothermie zu nutzen, um eine CO²-neutrale Wärmeversorgung auf den Weg zu bringen. Allein in Erfurt könnten 70.000 Menschen über Tiefengeothermie CO²-neutral versorgt werden. Lasst uns zusammen die Ärmel aufkrempeln, damit aus diesen Erfahrungen ein Mehrwert auch für München oder Stuttgart, Hamburg oder Bremen entstehen könnte. Agnes oder VERAH für den Pfälzer Wald oder das Teufelsmoor, wo ich geboren wurde. Und Kindergärten, die 10 oder 11 Stunden Servicezeit am Tag absichern für alle Kinder in ganz Deutschland. Darüber würde sich auch Friedrich Fröbel freuen, der den Kindergarten als das entwickelt hat, was er heute auf der ganzen Welt ist. Eine besondere Form der guten Begleitung, um Kindern einen besseren Start ins Leben zu ermöglichen.