Sonneberg und „der Osten“

In meinen letzten beiden Tagebucheinträgen habe ich versucht, das Ergebnis der Landratswahl in Sonneberg vor unterschiedlichen Hintergründen einzuordnen. Einerseits legte ich den Schwerpunkt auf die lokalen Verwerfungen und Erosionsprozesse, die exemplarisch (und freilich nicht allein) am Beispiel der Südthüringer CDU dargestellt wurden, andererseits beleuchtete ich die Frage, wie auch im dritten Jahrzehnt der Einheit bundespolitisch relevante Themen noch immer aus einer spezifisch westdeutschen Perspektive be- und abgehandelt werden ohne dabei die besonderen Erfahrungs- und auch Ideenhorizonte der östlichen Länder auch nur zu berücksichtigen und dabei Gräben vertieft werden, die zu großer Bitterkeit führen und damit genau solche Wahlergebnisse (neben vielen anderen Faktoren) ermöglichen.

Heute möchte ich u.a. noch einmal Fragen nach politischen Einstellungen und sich daraus ergebenden Ambivalenzen thematisieren, aber auch nach Problemfeldern suchen, auf denen die Bereitschaft zu mehr bürgerschaftlichem, sich selbst ermächtigendem, Engagement einen Weg aus der wahrgenommenen Politikverdrossenheit weisen kann.

Bleiben wir zunächst bei Sonneberg. Vor geraumer Zeit – lange vor der Landratswahl – wurde berichtet, dass im Landkreis knapp 44 Prozent der Arbeitnehmer nur Mindestlohn bezögen – ein negativer Spitzenwert in der gesamten Bundesrepublik. Nun wäre aus meiner Sicht u.a. erst einmal zu fragen, was das im Konkreten heißt, aber auch, welches langen Weges es bedurfte, um überhaupt erst einmal zu so etwas wie einem verbindlichen Mindestlohn in ganz Deutschland zu kommen. Klar ist aus meiner Sicht: auch der gesetzliche Mindestlohn ist – gerade in Zeiten der Inflation – zu niedrig und kaum ausreichend. Doch was kann die Lösung sein? Klar, zunächst könnte man darauf vertrauen, dass die Bundesregierung die Probleme schon löst. Aber und viel besser: ein Gegenmittel für zu niedrige Mindestlöhne, an dem jeder einzelne Bürger partizipieren könnte, wären starke Gewerkschaften, die Hand in Hand mit ihren Mitgliedern und Beschäftigten für faire Tarifverträge kämpfen. Hier ist jeder Einzelne gefragt, betriebliche Demokratie zu nutzen, um für seine Interessen einzustehen. Das wäre auch ein Weg sich selbst aus dem Ohnmachtsgefühl zu befreien, das man mit Blick auf politische Entscheidungen manches Mal empfinden kann. Demokratie lebt vom Engagement der Vielen. Und als Gewerkschafter habe ich in zahlreichen Tarifauseinandersetzungen unfassbar viele Menschen erlebt, die ihr Schicksal selbst in die Hand genommen haben und am Ende ihr Recht erstritten. So entsteht Selbstbewusstsein und Stolz auf das Erreichte.

Demgegenüber konstatiert allerdings eine neue Studie, das Policy Paper, der Universität Leipzig, dass über 60 Prozent der Befragten in Ostdeutschland latent oder manifest den Aussagen:

„Was Deutschland jetzt braucht, ist eine starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert.“

oder

„Wir sollten einen Führer haben, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert.“

zustimmten.

Freilich – es wäre zu fragen – ob den Befragten, der Unterschied zwischen dem Wunsch nach „Autorität“ und demjenigen nach „Autoritarismus“ im Sinne einer antidemokratischen, antipluralen Staats- und Gesellschaftsordnung tatsächlich bewusst war. Aber dennoch: in diesen Zahlen spiegelt sich eine Vorstellung von Demokratie, in der der Einzelne den Rahmen seiner eigenen Mitwirkungsmöglichkeiten als viel zu eng wahrnimmt oder einschätzt.

An anderer Stelle kommt die genannte Studie zu dem Ergebnis, dass in Thüringen 30,6 Prozent der Befragten, ausländerfeindlich seien, in Sachsen sogar 32,7 Prozent – bei einem realen Ausländeranteil von knapp 8 Prozent. Fragt man hingegen – wie in vielen anderen Umfragen und Erhebungen immer wieder geschehen – die Wirtschaft in Ostdeutschland zu ihren drängendsten Problemen, bekommt man vor allem eine Antwort: der Arbeits- und Fachkräftemangel. Hier scheint eine deutliche Ambivalenz auf: wir werden in Zukunft Wohlstand nur mit Arbeits- und Fachkräften aus dem Ausland sichern können. Gleichzeitig lehnt aber ein nicht unerheblicher Teil der Befragten, Menschen aus anderen Ländern in ihrem Nahfeld ab. Das ist kaum zusammenzubringen.

Gleichzeitig werden Umfrageergebnisse wie die oben zitierten, allzu schnell medial als ostdeutsche Spezifika bezeichnet, und damit das für Grautöne und historische Bedingtheiten blinde Bild des „braunen“ Ostens gezeichnet. Ich muss einmal sagen: in meiner westdeutschen Heimat der 1960er-Jahre waren skeptische und feindliche Haltungen gegenüber sog. „Ausländern“ an der Tagesordnung. Menschen mit italienischer Herkunft wurden mit immens verletzenden Bezeichnungen versehen, im Marburg der 1970er-Jahre existierte eine offene und verdeckte Feindschaft gegen türkischstämmige Menschen. Nicht selten resultiert diese Haltung – ob „skeptisch“ oder „feindselig“ – aus dem „Nicht-Kennen“ oder der Vorsicht gegenüber dem vermeintlich „Unbekannten“. Diese Haltungen muss man aufbrechen durch eine Perspektive der Vielfalt und Solidarität, aber nicht, indem man pauschal Ostdeutschland abqualifiziert. Letzteres führt zu einer Wagenburgmentalität, in die die AfD genüsslich vordringt, und nicht zu mehr Offenheit und Vielfalt.

Schließlich – und das zeigt sich in Sonneberg, aber auch anderswo in Deutschland – blühen insbesondere seit der Coronapandemie, die sehr vielen Menschen viel abgefordert hat, allerorten Verschwörungserzählungen, für die immer mehr Menschen anfällig werden. Das schlägt sich dann auch statistisch nieder. Die Sterblichkeit an und mit Corona war in Sonneberg so groß, wie in wenigen anderen Regionen der Republik. Diese Zahl bettet sich passend ein, in die recht niedrige Impfquote in Thüringen (ca. 65 Prozent) und Sachsen (ca. 60 Prozent). Ich bin der Meinung: die Frage, ob man sich impfen lassen sollte oder nicht, ist vorrangig eine, die man mit seinem Arzt klären sollte und nicht mit Politikern oder Verschwörungsideologen.

All meine Tagebuchbeiträge der letzten Tage zusammengenommen, ergibt sich m.E. ein sehr differenziertes Bild der Lage in Sonneberg. Ja, es braucht auch weiterhin kluge Analysen zur Frage, wie wir Demokratieverdrossenheit bekämpfen und Menschen zur Teilhabe an unserem demokratischen Gemeinwesen ermächtigen können. Die holzschnittartige Vereinfachung und die schlagzeilenlastigen Negativ-Framings helfen niemandem.

Und noch eine letzte Bemerkung zum Thema Selbstermächtigung. Was sie ist und wie sie funktioniert, beweisen gerade die wirklich sehr erfolgreichen Tarifkämpfe der NGG bei der ostdeutschen Süßwarenindustrie, bei den Mineralbrunnen, aber auch die Kämpfe der IGM um Sozialtarifverträge in Thüringer Betrieben. Hut ab vor der Motivation und der Kampfbereitschaft. Neben Hightech-Betrieben und Weltmarktführern haben wir eben auch selbstbewusste Arbeitnehmer und Betriebsräte.

Auch auf meiner aktuellen Sommertour spüre ich die Kraft der Ehrenamtlichen, die sich um Sport, Kultur und Freizeit tagtäglich kümmern. Und schließlich gibt es noch das, was ich das Wunder von Stelzen nenne. Inklusion pur und keinerlei West-Ost-Differenzen. Nur gemeinsame Lebensfreude und Lust auf Neues! Das alles ist auch Thüringen!