Der Osten – das ist mehr als seine Städte

Gestern ging ein Interview durch die Medien, nach der Prof. Gropp, der das Institut für Wirtschaftsforschung Halle „IWH“ leitet, vorschlägt, einfach mal einige ländliche Räume „aufzugeben“. Der MDR zitierte meine erste Reaktion auf Twitter, dass sich der Thüringer MP darüber sehr empört habe. Und ja, es hat mit außerordentlich empört. Morgen soll eine Publikation des IWH unter dem Titel: „Vereintes Land – Drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall“ erscheinen und vorgestellt werden.

Es gibt in Thüringen nichts aufzugeben, es gibt nur etwas zu gewinnen, nämlich die Zukunft.

Deswegen bin ich irritiert, ja ich fühle mich an die unsägliche „Töpfchen“-Debatte erinnert. Mir fällt zu dem gehörten Interview ein, man soll den Kakao nicht auch noch saufen, durch den man gezogen wird. Ich störe mich an dem Wort „aufgeben“.

Im ländlichen Raum wohnen und leben Menschen, die ihre Heimat lieben. Was sollen denn bitte diese Menschen aufgeben? Und was kommt danach? Wüstungen?

Aber um seine These von den Ballungsräumen versus ländlicher Raum mal näher zu beleuchten, hier einige Beispiele aus Thüringen.

Im ländlichen Raum gibt es bei uns hochmoderne, hochproduktive und sehr innovative Betriebe, wie gesagt nur einige Beispiele aus Nord/Süd/Ost/West Thüringen, ich könnte noch stundenlang vortragen. Prüfen Sie selbst:

  • Heberndorfer Leistenfabrik
    (Das Unternehmen produziert Fußbodenleisten für fast alle Markenanbieter, digitalisierte Produktion, Rechenzentrum mit angeschlossener Säge.)
  • Lauscha Fiber
    (Kein Auto auf der Welt mit Start/Stopp Automatik fährt ohne den Glasfaserunterbrecher dieser Firma.)
  • Datwyler – Carlisle – Contitech Waltershausen
    (1.250 Arbeitnehmer arbeiten hier. Das Unternehmen ist Weltmarktführer. Fast 80% aller Tunnel unter Flüssen, Meeren oder Bergen bekommen ihre Gummidichtungen aus diesem Unternehmen)
  • bluechip Computer AG in Meuselwitz
    (Das Unternehmen produziert Notebooks, PC und Server.)
  • Meuselwitz Guß Eisengießerei GmbH
    (Das Unternehmen produziert Gussteile, speziell Groß- und Schwerguss.)
  • Maschinenfabrik Herkules Meuselwitz GmbH
    (Das Unternehmen produziert Werkzeugmaschinen.)
  • Gummiwerk Meuselwitz GmbH
    (Das Unternehmen produziert Profile, Schläuche usw.)
  • MSB Meuselwitzer Stahlbau GmbH
    (Das Unternehmen ist im Stahl-, Anlagen-,  und Sondermaschinenbau tätig.)
  • Hans Glass GmbH & Co. KG Meuselwitz
    (Das Unternehmen. Autoeinlegematten.)
  • Firma Louis Renner GmbH & Co. KG Flügel und Klaviermechanik Meuselwitz
    (Kaum ein Flügel in der Welt kommt ohne die Hämmer aus dieser Firma aus.)
  • Neuhaus-Schierschnitz
    (Der Ort hat gerade 2.400 Einwohner und dabei 1.200 Industrie Arbeitsplätze darunter die Firma KumaTec führend in der Wasserstofftechnik.)
  • Schmölln
    (Beispielhaft genannt seien die Firmen Indu-sol Software Entwickler, Burkhardt Feinkost (Ketschup, Senf und Saucen für Lidl und Kaufland) oder KTS Kunststoff Technik.)
  • Firma Ospelt Apolda
    Das Unternehmen ist wohl der größte Pizza Ofen Deutschlands, Dr.Schär GmbH mit Glutenfreie Backwaren, die den ganzen deutschsprachigen und englischen Markt versorgen
  • Firma Wago Sondershausen
    (1.200 Menschen arbeiten hier, die Standards auf dem Weltmarkt setzen Hier arbeitet man so produktiv und kann damit selbst ausgelagerte Produktion aus China zurückholen.)
  • Firma Piko Spielzeugeisenbahnen Sonneberg,
  • Leyco Wassertechnik (Das Unternehmen ist im Aufbereitung von Ab- und Brackwasser für den Schiffbau tätig.)
  • H2 Well Sonneberg
  • Simba-Dickie-Group Sonneberg
  • GB Neuhaus/Rennweg
    (Das Unternehmen ist tätig im Bereich der Nano-Technik un engagiert sich in der Initiative „obenauf-Thüringen“, um Fachkräfte für Thüringen zu gewinnen.)
  • Firma Wiegand Glas Großbreitenbach
    (Das Unternehmen platzt aus allen. Es produziert Glasflaschen für Weine und Flakons für edle Parfüms.)

Wenn man diese Betriebe besucht und spürt, wie hochmotiviert die Arbeitnehmer und die Unternehmensleitungen zusammen Hand in Hand arbeiten, dann stell ich mir jetzt mal die These von Prof. Gropp vor und führe aus, man möge mehr in Ballungszentren investieren und in die ländlichen Räume einfach nicht mehr. Welche „aufzugebende Räume“ in Thüringen könnte er gemeint haben? Ich weiß es nicht, denn unser Markenkern der Transformation bestand darin, dass Thüringen sehr stark nach der Wende deindustrialisiert wurde. Das war Ergebnis der Politik der Treuhand und die Menschen verstanden, dass ihnen ihre Arbeit genommen wurde. Obwohl ein Teil der Betriebe für westdeutsche Unternehmen zu DDR Zeiten gefertigt haben. Ob Apolda-Strick oder Schuhe und Schreibmaschinen in Erfurt, ob Büromaschinen in Sömmerda oder Möbel in Zeulenroda, um nur mal einige Orte und Produkte zu nennen. An den Produkten kann es also nicht gelegen haben. Deshalb hat sich auch bei vielen Menschen der Eindruck verfestigt, dass über die Treuhandentscheidungen eben auch lästige Konkurrenz vom Markt geräumt wurde. Das Kaliwerk Bischofferode und das Kugellager Werk Zella-Mehlis seien stellvertretend genannt. Bei der Kali-Fusion gab es Milliarden als direkte und indirekte Geschenke dazu und die Firmenzentrale ist natürlich im Westen.

Mit dem Verlust der Produktion und der Arbeitsplätze ging dann ein sehr starker Abwanderungsprozess einher. 100.000 junger Leute gingen „rüber“, gingen dahin wo es Arbeit und bessere Bezahlung gab.

Ich nenne diese Menschen immer die Aufbauhelfer West, aber ehrlich gesagt vermissen Eltern und Großeltern diese Menschen und wir haben extra eine Agentur gegründet, um genau diese Menschen anzusprechen, ob wir endlich etwas passendes zur Rückkehr anzubieten haben. Denen möchte ich nicht entgegenrufen, aber bitte nicht in ländliche Räume.

Dann kommen wir nun zu der zweiten zentralen Aussage von Prof. Gropp. Von 500 Konzernzentralen liegen 464 im Westen und 36 im Osten Deutschlands. Auch die von mir aus dem ländlichen Raum aufgezählten Betriebe sind überwiegend davon geprägt. Hoch motivierte Mittarbeiterinnen und Mitarbeiter, eine sehr produktive und konkurrenzfähige Produktion, aber die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung erfolgt immer in der Konzernzentrale.

Da wo die letzte Schraube, oder die letzte Dienstleistung erbracht und die Unternehmenssteuer abgerechnet wird, da wird auch Wert und Pro-Kopf-Produktivität errechnet. Ohne große Mühe kann man aber ahnen, da sind dann nicht mehr die großen Zahlen der Arbeitnehmer dabei, sondern die wirklich gut verdienenden Vorstandsetagen und das Management. Wie leisten die „Brot und Butter“ Produktion, sind im internationalen Wettbewerb leistungsfähig im Markt, aber die innerdeutsche Statistik ist geprägt von 464 zu 36.

Damit erweist sich die angebliche Produktivitätslücke eben auch als ein statistischer Effekt. In Kölleda produziert der Daimler-Konzern unter der Firmenbezeichnung „MDC Power“ hochwertige Motoren. Immerhin jeder dritte Motor im Hause Daimler kommt aus Thüringen. Aber abgerechnet wird der Teilschritt der Produktion, also die Zulieferstufe. Bei allen Firmen mit einem Hauptsitz außerhalb Thüringens ist das so. Wir haben mit klein- und mittelständischen Betrieben erfolgreich die Nischen besetzt und bei der volkswirtschaftlichen Betrachtung steht die Leistungsfähigkeit unserer Betriebe in Thüringen für den Erfolg des ganzen Unternehmens. Die Produktivität und die Steuerverteilung sollten also eher einer ganzheitlichen Logik folgen. Denn bei „MDC Power“ sei wieder beispielhaft erläutert, wieviel Steuern bekommt Thüringen aus der ganzen Wertschöpfung von Daimler und wieviel Lohn- und Einkommenssteuer zahlen die Arbeitnehmer bei uns. Betrachtet man diese Rechnung, springt einem doch ins Auge, dass das Unternehmenssteueraufkommen am Sitz der Konzernzentrale am höchsten ist. Also ein Nachteil im Verhältnis von 464 zu 36.

Dann sollte man als Wissenschaftler auch wissen, wie in 464 Zentralen über Forschung und Entwicklung entschieden wird. Wir nehmen viel Landesgeld in die Hand, um im Bereich „Forschung und Entwicklung“ wenigstens etwas dagegen setzen zu können. Die Faserforschung in Rudolstadt oder die Keramikforschung am Hermsdorfer Kreuz. Ach ja, da sind wir wieder beim ländlichen Raum und der These vom „aufgeben“.

Hohe Einkommen rund um die Konzernzentralen, geringere Unternehmensnamen F&E Gelder und eine Eigensteuerquote erhöhen wir gerade von 64% auf 67%. Dies sind alles Konsequenzen auch aus den Weichenstellungen der Treuhandpolitik. Auch ein Grund, warum ich mir da eine ehrlichere Debatte und mehr Forschung wünschen würde.

Wie halt mit der Verteilung der Bundesbehörden. Im Durchschnitt gibt es auf 1000 Einwohner 2,2 Bedienstete von Bundesbehörden und wieviel sind es in Thüringen? Thüringen ist das Schlusslicht mit 0,7 Bediensteten pro 1.000 Einwohner. Im Einigungsvertrag steht was anderes, als zu erfüllende Zielstellung.

Wenn wir aber auf der Einnahmenseite schon so einen gravierenden Nachteil in Kauf nehmen müssen, dann sollte man den neuen Ländern diese Nachteile nicht auch noch um die Ohren hauen. Weniger Steuern und schlechte Produktivität kann man halt nur attestieren, wenn man Äpfel und Birnen vergleicht.

Vom IWH in Halle hätte ich erwartet, dass man nicht nur oberflächliche statistische Effekte betrachtet, sondern vor allem hinterfragt.

Solche Thesen, wie die um 20% niedrigere Produktivität der Arbeitnehmer könnte man schnell überprüfen. Bitte nicht Statistiken allein vergleichen, sondern konkrete Produktionen und zwar vergleichbare. Wago Klemmen in Sondershausen ist so stark digitalisiert, dass man dort sogar Massenproduktionen aus China zurückholen kann. Die Lohn-/Stückkosten sind das Herzstück eines zulässigen Vergleiches. Offensichtlich sind unsere Betriebe darin so erfolgreich, dass immerhin 62 Betriebe aus Thüringen Europa und Weltmarktführer sind.

Viele von denen sind im ländlichen Raum. Dazu dann eine weitere Betrachtung. In Ballungsräumen können Arbeitnehmer fast nicht mehr die Miete zahlen. Jetzt überlegen Unternehmen weitere Produktion nach Thüringen zu verlagern. Die eigentliche Frage ist nicht, ob es „Billiglohn“ gibt, sondern ob Kindergartenplätze und Wohnungen da sind und natürlich auch Kunst und Kultur. Die Einpendler in Sonneberg, Neuhaus/Rennsteig oder Neuhaus-Schierschnitz zeigen, wir sind auch für Bayern eine attraktive Region. Die Firma Vacom in Grosslöbichau hat deshalb den ersten Betriebskindergarten eingerichtet und wirbt damit erfolgreich in ganz Deutschland junge Familien mit Kindern an. Die Obenauf-Thüringen Initiative macht auch solche Erfahrungen. In Bayern auf Messen zu werben mit Kindergartenplätzen, guter Kinderbetreuung, Schulen und bezahlbaren Mieten, da wird auch der ländlichste aller Räume hochinteressant. Das Gegenteil ist richtig, nicht ländliche Räume aufgeben, sondern die örtlichen Kooperationen von Wirtschaft und Kommunen stärken und Infrastruktur ausbauen. Zum Beispiel 5G an jeder Milchkanne heißt die Devise, denn auch unsere Landwirtschaftsbetriebe sind sehr modern, digital und ein starker Träger im ländlichen Raum. Wer mal ein High Tech Melkkarussell sehen will, zu dem die Fachleute aus der ganzen Welt kommen, um das technische Wunderwerk zu besichtigen, dem sei der Besuch in Remda-Teichel empfohlen. Die Agrargenossenschaft investiert Millionenbeträge in HigTech und Tierwohl. Ingenieurarbeit und Landwirtschaft sind eben kein Gegensatz.

Aber um am Schluss noch einen Vergleich anzustellen. Vergleicht man alle 28 Europäischen Staaten wirtschaftspolitisch und im erarbeiteten BIP, dann stellt man erfreuliches fest. Die Region Mitteldeutschland, also Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen zusammen sind so stark und liegen auf Platz 13. So betrachtet müsste man in Halle sich doch verdutzt die Augen reiben. Immerhin sind wir in Thüringen mit den Mittel und Osteuropäischen Staaten in der Produktion stark vernetzt. Der stärkste Partner Thüringens ist zum Beispiel Ungarn. Und ja, unsere Drehscheiben Funktion zum gesamten Mittel- und Osteuropäischer Raum ist auch geprägt durch Handelshemmnisse nach Russland und Debatten über Nord Stream 2.

30 Jahre nach der friedlichen Revolution müssen die neuen Länder sich immer neu erfinden. Einfach nur auf Statistiken schauen reicht da nicht. Unseren KMUs zu helfen, selbst Konzernzentralen zu werden und regionale Kooperationen zur Verbesserung der Wertschöpfungskette, darum geht es unserer Landesregierung. Im ländlichen Raum neue Wege gehen, die manchem DDR sozialisierten Bürger irgendwie bekannt vorkommen, das wäre auch hilfreich für ländliche Räume in Westdeutschland. Gemeindeschwester Agnes und Landambulatorien heißen jetzt halt „Vera“ und „MVZ“, aber wie es letztlich heißt ist mir egal, Hauptsache wir können eine gute medizinische Versorgung im ganzen ländlichen Raum anbieten. Immerhin machen bei unserem Modellprojekt 26 solcher Praxen schon mit. Kinderbetreuung in Kindergärten 10 Stunden Service anbieten, ist bei uns gesetzlich garantiert. Und was wäre so falsch, wenn längeres gemeinsames Lernen in Ganztagsschulen mit Hörten und gekochtem Mittagessen ein Angebot wären? Wir debattieren gerade darüber und den Schulcampus in Greußen kann man gerne besuchen. Da könnte nach 30 Jahren Deutscher Einheit auch mal hingeschaut werden, was wir in unser Deutschland einzubringen haben. Eben viel mehr als Sandmännchen und Grüner Pfeil. Aber wir erwarten auch eine differenzierte Debatte, eben nicht nur über Töpfchen und mangelnde Produktivität.

PS: Warum kam mir eigentlich das Thema „Ostquote“ in den Sinn, als ich das Interview mit Prof. Gropp sah? Nein jetzt fange ich auch nicht „Westbashing“ an und bin weiter gegen eine „Ostquote“, denn es kommt wirklich nicht auf den Geburtsort an, wie man die Dinge bewertet, sondern ob man hinter die Dinge sehen will.