Tage im Juni- Betrachtungen

Der 17. Juni 2021 war ein Tag brütender Hitze. Während man in anderen Zeiten über dieses Wetter schimpfte und sich beschwerte, ist man heute freilich erleichtert, endlich wieder im Freien unterwegs sein zu dürfen nach Monaten der Entbehrung. Bereits am 16. Juni verspürte ich bei einem mehrstündigen Filmdreh auf dem Gelände der Bundesgartenschau diese Erleichterung und Freude der Menschen. Egal, ob ein Wort des Dankes für die BUGA, ein erhobener Daumen oder ein nettes Kopfnicken – alle Besucher, die mir begegneten, waren froh endlich wieder so etwas wie Normalität erleben zu dürfen.
Doch zurück zum 17. Juni – einem Tag von ganz besonderer historischer Bedeutung, erhoben sich doch am selben Tag im Jahr 1953 zuerst die Bauarbeiter auf der Stalinallee in Berlin und der Protest gegen die willkürliche Normerhöhung in der ganzen DDR.  

Denen, die für ihre Freiheit demonstrierten und für diesen einfachsten und menschlichsten Wunsch von Panzern niedergewalzt wurden, gedachten wir auch in diesem Jahr in tiefer Verbundenheit. Dieser Tag, der sich tief ins kollektive Gedächtnis der Deutschen eingebrannt hat zeigt: Emanzipation, demokratische Teilhabe und die schlichte Einforderung des Rechts als Mensch unveräußerliche Rechte zu haben, lässt sich nicht in Repression und Einschüchterung ersticken.

Am 17. Juni gehen mir immer wieder die Schlusspassagen des großen Romans „Fünf Tage im Juni“ von Stefan Heym durch den Kopf. In ihnen spricht die Hauptperson zu seiner Sekretärin die Sätze: „Es wird nun in den nächsten Tagen viel von Schuld die Rede sein, aber wie mächtig wird der Feind, wenn man alle Schuld nur beim Feind sucht?“ In diesen fast prophetischen Worten Heyms stecken viele Gedanken, die mich mein ganzes Leben lang begleitet haben – die Frage nach den Perspektiven der „Anderen“, nach den Grundlagen unseres Zusammenlebens, aber auch nach der Sinnlosigkeit von bestimmten Schuldzuweisungen. Gerade letzteres ist – auch mit Blick auf den anstehenden Bundesparteitag meiner Partei DIE LINKE. – eine Erkenntnis, die wir auch in der Gegenwart beherzigen sollten. Wer immer nur die Schuld beim Anderen sucht, verstellt sich selbst den Weg in die Zukunft.

In den letzten Wochen wurde viel gestritten. Die Meldungen über den von einzelnen Genossen beantragten Parteiausschluss von Sahra Wagenknecht legen davon ebenso Zeugnis ab wie die schwierigen Auseinandersetzungen zwischen Oskar Lafontaine und Thomas Lutze an der Saar. Schuldzuweisungen und eifersüchtiges gegenseitiges Belauern haben allerdings noch nie die Welt zum Guten verändert. Aber genau dafür – eine Gesellschaft der Solidarität und Gerechtigkeit – haben wir uns vor 16 Jahren aus zwei Quellorganisationen auf den Weg gemacht, eine neue Partei aus der Taufe zu heben – DIE LINKE.  Benjamin-Immanuel Hoff, mein Thüringer Weggefährte, fragte im Jahr 2014 einmal in einem kleinen Büchlein danach, ob DIE LINKE. eine Partei „neuen Typs“ sei. Mit „neuen Typen“ ist es sicherlich immer eine schwierige Sache, klar ist aber: DIE LINKE. war und ist eine Partei, die ganz konkret der Wunsch nach Veränderung des Bestehenden antreibt. Sie darf niemals sich selbst genügen und nie zum reinen Selbstzweck mutieren. Sie musste und muss täglich auf’s Neue beweisen, dass sie einen konkreten, einen greifbaren Nutzen für die Menschen in diesem Land hat, die sich nicht mit Minirenten, Rassismus, rechter Hetze und sozialer Kälte abfinden wollen. Genau das und nicht etwa Aus- und Abgrenzungen müssen unser Antrieb sein, Politik aktiv – Hand in Hand mit den Menschen, die uns vertrauen – zu gestalten.

Ich bin alt genug, um mich noch sehr genau an ein PDS-Plakat aus dem Jahr 2005 zu erinnern, auf dem der so einfache wie wahre Satz geschrieben stand: „Hartz IV ist Armut per Gesetz.“ Das war ein Markenkern der PDS. Hinzu gesellten sich schließlich die Kolleginnen und Kollegen der Wahlalternative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit, die sich mit der Armutslogik, die die Schröder’sche Hartz IV-Politik unter Rot-Grün auf die Spitze getrieben hatte, nicht abfinden wollten.

Das Ziel, Hartz IV abzuschaffen, haben wir noch nicht erreicht. Dafür gilt es weiter zu kämpfen. Und die Konstellationen haben sich verändert. Sie eröffnen uns neue Perspektiven, die wir mutig erkennen und anpacken müssen. Grüne und SPD haben in den vergangenen Jahren ebenfalls Lernprozesse durchlaufen. Mit ihnen gemeinsam müssen wir ein Angebot unterbreiten, wie wir die Bundespolitik ohne diejenigen neoliberalen Vordenker gestalten können, die in den vergangenen Jahrzehnten die Axt an unseren Sozialstaat gelegt haben.
Es ist an uns, Schutzmechanismen zu entwickeln, die auch bei den unkalkulierbaren Wechselfällen des Lebens sicherer Hafen sein können und nicht Millionen in der Armutsfalle abhängen. Es ist an uns, auch die bitteren Lehren, die COVID19 uns beschert hat, zu ziehen. Wir brauchen eine Grundabsicherung für Freiberufler, für Künstler und für Selbstständige nach dem sog. Unternehmerlohn. Und ja, wir brauchen auch endlich ein durch einen Sockelbetrag armutsfest gemachtes Kurzarbeitergeld. Beides muss sich – und das ist meine Forderung seit Langem – an der Höhe des Pfändungsfreibetrages des Staates orientieren, damit Menschen, die Hilfe benötigen, nicht erst ihre letzten Rücklagen aufbrauchen müssen, um nach Lebensunwägbarkeiten plötzlich mit leeren Händen dazustehen. Armutsfestigkeit und die Gestaltung eines Lebens in Würde gehören zu unseren Kernaufgaben als Partei. Daran müssen wir uns messen lassen.
 
Es liegt an uns, um Bundestagswahlkampf folgendes deutlich zu machen:
 
1.            Die LINKE will im Herbst eine Bundesregierung ohne CDU/CSU.
2.            Wir werben für ein Regierungsbündnis aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der LINKEN.
3.            Die Union abzulösen heißt nicht, über Regieren zu diskutieren, sondern Lust auf gutes linkes Regieren zu haben.
4.            Wahlkampf mache ich als Ministerpräsident einer rot-rot-grünen Koalition nicht gegen Grüne und SPD, sondern gegen rechts.
5.            Eins ist ganz klar: Wäre die PDS bereits 1998 Teil von Rot-Grün gewesen – wofür ich mit der Erfurter Erklärung (http://www.spw.de/9701/erfurt.html ) immer gekämpft habe – hätte es Hartz IV nicht gegeben.
6.            Deshalb gibt es sozial gerechte Regierungspolitik nur mit den LINKEN.

Aber es muss auch klar sein, dass die Ereignisse vom 5. Februar 2020 mit der Wahl von Herrn Kemmerich und dem aktiven Zusammenwirken von AfD und CDU einen Tabubruch in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland markieren. Jetzt muss man sich fragen, wie glaubwürdig die Brandmauer nach rechts wirklich steht, von der Christian Hirte als CDU-Landesvorsitzender so vollmundig am Wahlabend der Sachsen-Anhalt-Wahl sprach.
Beinahe zeitgleich meldete der MDR auf seiner Website, dass AfD und CDU im Thüringer Landtag gemeinsam den Rücktritt des Thüringer Präsidenten des Verfassungsschutzes, Herrn Stephan Kramer, verlangen. Die Begründung war, dass Herr Kramer sich zu Äußerungen des ehemaligen Bundesverfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen verhalten hatte und in der Analyse zu der Feststellung kam, dass Herr Maaßen immer wieder rechtspopulistische und antisemitische Chiffren benutze. Zur Krönung twitterte Herr Maaßen an diesem Wochenende ACAB sei die Übersetzung für den vollen Namen von Frau Annalena Baerbock. Was gab es für ein Geschrei, als angeblich die Thüringer LINKE mit ACAB nicht sorgsam umgegangen sei? Wie viele Forderungen hat die CDU in unsere Richtung formuliert und wie laut war das Getöse, als ACAB auf einem Foto als Graffito an einer Wand erschien, vor der drei Fraktionsvorsitzende standen von Rot-Rot-Grün? Wenn also Herr Maaßen ACAB twittert, dann doch nur, um Frau Baerbock persönlich herabzuwürdigen. Wenn die Brandmauer nach rechts aber steht, warum schweigt Herr Hirte so ohrenbetäubend zu den  gemeinsamen CDU- und AfD-Forderungen nach der sofortigen Entlassung von Herrn  Kramer?
Und wo ist der Aufschrei der CDU an jenen Tagen im Juni, wenn im Kreistag von Hildburghausen ein einschlägig bekannter Rechtsextremer mit einem T-Shirt erscheint, auf dem die Zahlenkombinationen 18 (für „Adolf Hitler“) und 88 (für „Sieg Heil“) prangen und der Vorsitzende der CDU-Kreistagsfraktion besagtem Rechtsextremen sein Jacket leiht, damit die Kreistagssitzung in Ruhe weitergehen kann, während unter eben diesem CDU-Jacket rechte Symboliken verdeckt werden?
Die Krönung freilich war die Demonstration des sonst so zurückhaltenden CDU-Landesvorsitzenden vor dem Thüringer Landtag für Neuwahlen diese Woche.
„Wieso demonstriert Herr Hirte gegen seine eigene Fraktion?“, frage ich mich verwundert, ist es doch die CDU, die die notwendigen Stimmen nicht beizubringen vermag.

Und das letzte Mysterium, das mich umtreibt, ist die Aussage von Herrn Kemmerich für die FDP, dass die FDP nun Klarheit zu Neuwahlen von Rot-Rot-Grün und der CDU verlangt. Herr Kemmerich verlangt das? War da nicht was? Ja, am 6. Februar 2020 meldete die Süddeutsche Zeitung, dass Herr Kemmerich angekündigt habe, als gerade gewählter Ministerpräsident dem Landtag einen Antrag auf Auflösung zuzuleiten, um damit zu Neuwahlen kommen zu können. Auf diesen Antrag wartet der ganze Thüringer Landtag seitdem vergeblich und offenkundig kann sich Herr Kemmerich nicht mehr daran erinnern, dass er genau dies höchstpersönlich angekündigt hat.
 
So ist es, wie es ist. Wort halten ist eine Tugend, derer sich Politik immer und immer wieder besinnen muss. Das gilt nicht nur für die Auflösung des Thüringer Landtages. Es gilt eben auch für das Versprechen, dass wir als Partei DIE LINKE. seit 2007 unseren Wählern geben – für eine Welt zu kämpfen, in der sich ein 05.02 nicht wiederholen kann und in der Gerechtigkeit kein Wort zum Sonntag, sondern gesellschaftliche Realität geworden ist.