Ein denkwürdiges Weihnachtsfest im Wendejahr ´89
Vor einigen Wochen fragte mich die deutsche Zeitung Watson an, ob ich über meine ganz persönlichen Erinnerungen berichten könne, die ich mit dem Weihnachtsfest verbinde. Um es vorweg sagen: Grundsätzlich ist jedes Weihnachtsfest im Kreise meiner Liebsten für mich bislang ein besonderes Erlebnis gewesen. Als Christ freue ich mich an Heiligabend natürlich über die Geburt des Jesus-Kindes und als Familienmensch darüber, dass nach immer stürmischer und schnelllebiger werdenden Jahren, diese eine Zeit am Jahresende reserviert ist, in der die ganze Familie zueinander findet und ganz bewusst die Uhr für ein paar Tage anhält – bewusste Entschleunigung heißt das wohl im Zeitalter der Ratgeberliteratur.
Es war also durchaus nicht ganz einfach für mich, aus den vielen schönen Erinnerungen eine herauszugreifen – und doch nimmt das Weihnachtsfest des Jahres 1989 in meinem Leben einen herausgehobenen Platz ein.
Am 23.12.1989 – der Fall der Mauer in Berlin war kaum zwei Monate her – packten meine Söhne und ich das Auto für eine Reise zu unserer Verwandtschaft in die Altmark, die damals auf DDR-Territorium lag. Es war nicht unser erster Aufenthalt im zweiten deutschen Staat und dementsprechend hatten wir uns auch gründlich vorbereitet. Denn Vorbereitung – die Älteren der Lesenden werden es noch lebhaft in Erinnerung haben – war Alles, wenn man möglichst ohne Komplikationen die innerdeutsche Grenzen passieren wollte. Großes und 48-Stunden-Visum inklusive Stempelkarte gehörten beim Trip nach „Drüben“ zur Grundausstattung und die obligatorische, nicht eben freundliche Fahrzeug- und Personenkontrolle war uns genauso vertraut, wie das Ritual des Geldumtausches. Es gehört im Nachhinein sicherlich zu den sonderbarsten Paradoxien der Geschichte, dass zwei Staaten, die doch sehr viel gemein hatten und die man ohne große Mühe via Autofahrt von der jeweils anderen Seite hätte erreichen können, einander in vier Jahrzehnten so fremd geworden sein konnten. Jede Fahrt in die DDR wirkte deshalb wie ein Besuch in einem unbekannten Land. Das machte es für meine Söhne sicherlich immer wieder von Neuem aufregend. Ich zerbrach mir jedes Mal wieder den Kopf über diese eigentümliche Situation und mir gleich taten es Generationen von Intellektuellen und Feuilletonisten, die die „Deutsche Frage“ mal mehr, mal weniger innovativ zu beantworten suchten.
Dieses Mal jedoch war alles anders. Schon als wir uns der Grenzen näherten stutzten wir als wir sahen, wie sich ganze PKW-Kolonnen aus der DDR in Richtung Westen wälzten. Wer die bisher äußerst rigiden Ausreiseregelungen für DDR-Bürger kannte, der wusste, dass hier etwas sehr Ungewöhnliches geschah. Vollends sprachlos machte uns allerdings die Situation am Grenzübergang. Dort, wo einstmals eine große Schranken den Weg versperrte und ebenso unfreundliche wie autoritäre Grenzer die Autos der Besucher nach jeder unsachgemäß angebrachten Schraube filzten, herrschte eine sonderbare Stimmung. Die Uniformierten saßen gelangweilt in ihrem Postenhäuschen und beobachteten den langsam vor sich hinplätschernden Verkehr in Richtung DDR. Als ich geübt mein großes Visum zückte, winkte der Bedienstete nur ab und bedeutete uns, weiterzufahren. Wir waren noch keine 20 Meter weit gekommen als mich meine Söhne von hinten völlig überrascht, beinahe schockiert, fragten: „Warum sind wir nicht kontrolliert worden? Was ist das los? Irgendwas stimmt hier nicht.“ Entgeistert legte ich den Rückwärtsgang ein, ließ das Fenster herunter und fragte den Uniformierten, warum wir nicht kontrolliert worden seien. Die lapidare Antwort: Zwar würde der Visumszwang formal erst zum 01.01. enden, angesichts der Weihnachtszeit habe man sich allerdings entschieden, bereits jetzt stillschweigend keine Visa mehr zu kontrollieren.
In der Altmark angekommen, berichtete ich sofort meiner Verwandtschaft von den sonderbaren Vorgängen an der innerdeutschen Grenze. Dass nichts mehr war wie vorher – oder wenigstens so anders, dass es mich immer wieder auf´s Neue überraschte – wurde auch im Heimatort meiner Verwandten überdeutlich. Am Heiligabend besuchten wir den Weihnachtsgottesdienst in einer kleinen Feldsteinkirche, die die anderen Häuser des 90-Seelen-Örtchens Bühne überragte. Die Kirche war – für DDR-Verhältnisse eigentlich undenkbar – brechend voll. Ich sah in die friedlichen und andächtig lauschenden Gesichter von vielen Menschen, die wahrscheinlich zum ersten Mal in ihrem Leben einem Gottesdienst beiwohnten. Organisiert wurde er vom Kirchenältesten, der gleichzeitig der Nachbar meines Halbbruders war. Die Predigt, die im Übrigen kein Pfarrer, sondern ein Katechet hielt, werde ich nie vergessen. In feierlichen und ernsten Worten dankte der junge Mann all denen, die im Herbst `89 dafür mitverantwortlich waren, dass keine Schüsse fielen. In diesen Dank schloss er im Übrigen sowohl die Uniformierten als auch die Demonstrierenden ein, die unter dem Moto „Keine Gewalt“ friedlich mit der Kerze in der Hand demonstrierten.
Auch wenn in den folgenden Jahren nach der Deutschen Einheit schnell klar wurde, dass echte und gerechte Einheit mehr braucht, als ein kleines Weihnachtswunder, werde ich diesen 24.12.1989 immer als das in Erinnerung behalten, was er war – ein Zeichen dafür, dass das Rad der Geschichte sich zu drehen begonnen hatte – angeschoben durch die Menschen im Osten unseres Landes.
In diesem Sinne: Ihnen allen ein gesegnetes, friedliches und vor allem gesundes – obgleich dieses Jahr sehr stilles – Weihnachtsfest! Bleiben Sie behütet und vor allem gesund!