Verlieren wir nicht unsere Menschlichkeit!

COVID19 stellt uns vor gigantische politische, soziale und ökonomische Herausforderungen. Das wird niemand bestreiten. Darüber hinaus allerdings ist die aktuelle Pandemie auch eine schwere ethische, und ja, auch moralische, Prüfung – für jeden Bürger, aber eben auch für uns Politiker. Wir müssen in dieser Zeit Entscheidungen treffen, für die es keinerlei Vorbilder gibt.

Es war und ist mir als Mitentscheider nicht möglich, Schablonen aus einer Schublade zu kramen, sie aufzulegen und dann alles passend zu machen. Wie schön wäre das. In einem Interview mit „ZEIT Christ und Welt“ habe ich die vielfältigen moralischen Dilemmata dargestellt, in denen man sich heute aufgrund eben dieser Singularität befindet. Denn beide Faktoren – der Schutz des Lebens und die vielfältigen Freiheitsrechte – sind nicht nur zwei Sphären, die man mit kühlen Rechtsverordnungen nach sorgfältigem Abwägen auf die eine oder andere Weise miteinander zur Deckung bringen müsste – sie sind auch immer eine Frage, die eine der fundamentalsten Dimensionen des menschlichen Seins berührt – die Würde.

Wir haben in den vergangenen Wochen und Monaten zum Schutz des Lebens vieler Menschen Maßnahmen ergriffen und ergreifen müssen, die hart waren – Maßnahmen, die man nicht im Vorbeigehen ergreift, weil man genau weiß, dass sie Gesundheit schützen, aber in der Konsequenz zu immensen Verwerfungen führen können. Kinder, die nicht in die Schule gehen können, verlieren über Nacht ihren physischen sozialen Bezugsrahmen. Ältere  und kranke Mitbürger, die in Pflege- und Altenheim in Isolation leben müssen, haben über lange Wochen ihre Angehörigen nicht sehen dürfen. Und ja, das habe ich auch deutlich in dem Interview gesagt: In den letzten Wochen sind Menschen einsam gestorben, ohne Angehörige und ohne Trost. Das war würdelos, auch wenn wir zu diesem Zeitpunkt glaubten, dass die getroffene Entscheidung unumgänglich war.  Wer das liest, aber noch mehr, wer das mit entscheidet und ein Herz hat, den kann das nicht ohne Zweifel zurücklassen. Ich habe in den letzten Monaten nicht selten gezweifelt. Waren unsere Maßnahmen immer richtig? Waren sie immer verhältnismäßig?

Im Interview mit Herrn Löbbert haben wir in diesem Zusammenhang viel über den Begriff des Weichenstellens geredet und ich habe dazu gesagt:

„Wenn man an der Weiche steht, wünscht man sich oft ein Drehkreuz herbei, um den Zug einfach zurückfahren zu lassen. Doch das hat man nicht. Stattdessen muss man sich für den einen oder den anderen Weg entscheiden und weiß zugleich: Keiner ist richtig, beide sind steinig.“

Diese Worte beschreiben die Situation in der COVID19-Pandemie sehr gut. Stellen wir uns die Weichen einmal plastisch vor: Auf der einen Würde, auf der anderen Infektions- und Gesundheitsschutz. Das ist – so hart es klingen mag – ein moralisch und ethisch nicht zu gewinnendes Spiel. Wer würde sich hier anmaßen, eine zeitlos richtige Entscheidung zwischen Freiheit und nacktem Leben treffen zu können? Ich tue das nicht. Wir treffen Entscheidungen und wir handeln – wir sind aber nicht Gott und wir müssen uns das immer wieder bewusst machen. Wer an dieser Stelle nicht unsicher ist, der macht mich misstrauisch.

In unserem Interview kamen Herr Löbbert und ich auch auf die Worte Wolfgang Schäubles zu sprechen, der vor kurzer Zeit feststellte, dass die Würde des Menschen unantastbar sei, aber gleichzeitig klar sein müsse, dass Menschen stürben und es einen absoluten Schutz des Lebens nicht geben könne. Der Satz ist meiner Meinung nach sehr klug. Menschenwürde ist immer mehr als das bloße, nackte Leben. Menschenwürde umfasst auch immer das Bedürfnis des Menschen nach Trost, nach Halt und nach dem Gefühl der Geborgenheit. Das können und dürfen wir niemals ignorieren. Gerade deshalb frage ich mich auch ganz selbstverständlich, ob aus der Rückschau manche Maßnahme den Pfad der nötigen Balance nicht doch verlassen hat. Bis zu welchem Punkt ist es verantwortlich Gotteshäuser geschlossen zu halten? Kann ich es mit meinem Gewissen vereinbaren – und wenn, ja, wie lange – Menschen in Pflegeeinrichtungen zu isolieren? Diese und so viele weitere Fragen machen zu schaffen – schwer.

Und nicht zuletzt fordert uns COVID19 auch als empfindsame Individuen heraus. Ich habe in meinem „Christ und Welt“ – Interview davon berichtet, wie meine Frau und ich bei einer Beerdigung – aber als nicht offizieller Teil der Trauergesellschaft – einer Nachbarin auf dem Friedhof anwesend waren. Sofort titelten diverse Medien: „Ramelow bricht eigene Verordnung“ und so fort. Abgesehen davon, dass ich nicht davon ausgehe, Regeln gebrochen zu haben, möchte ich doch einmal einen Appell an uns alle richten: Die Zeiten sind schwer und wir stoßen hier immer und immer wieder an unsere eigenen moralischen Grenzen. Das ist nicht falsch – verbieten kann man es ohnehin nicht – und zutiefst menschlich. Lassen wir uns von COVID19 nicht unsere Menschlichkeit rauben. Für Heldengeschichten jenseits der vielen wunderbaren Menschen, die unsere Versorgung, unsere Sicherheit und unsere Gesundheit garantieren, ist die Corona-Zeit ohnehin nicht gemacht. Warum? Herrn Löbbert habe ich das wie folgt erklärt:

„All dieses Gerede von der neuen Gemeinschaft und ihren Helden – das sind doch nur Überhöhungen, die dem Ganzen einen Sinn geben sollen. Doch das Virus kennt keinen Sinn. Es hat keine Botschaft an uns. Wenn überhaupt, wird durch diese Krise nur deutlich, was schon vorher falsch gelaufen ist.“

Mit dem in Rede stehenden Beispiel wollte ich lediglich die moralischen Dilemmata noch einmal plastisch werden lassen, die uns alle gerade prüfen. Ich wollte meine inneren Zweifel, die mich bei mancher Entscheidung umtreiben, fassbar machen. Nicht mehr und nicht weniger. Dieser Spannungsbogen zieht sich durch das gesamte ZEIT-Interview, dessen Lektüre ich noch einmal nachdrücklich empfehle, um den herausgelösten Satz im Kontext sehen und verstehen zu können. Die konkrete Situation vor Ort habe ich auch noch einmal der TA dargestellt – es handelte sich um einen öffentlichen, also für jedermann zugänglichen, Friedhof unter freiem Himmel, den ich mit meiner Frau mit Mund-Nasen-Schutzbedeckung betreten habe – mit ausreichend Abstand zur Familie der Verstorbenen.

Meine vielen Kolleginnen und Kollegen und ich arbeiten täglich hart, um die Pandemiesituation bestmöglich zu bewältigen. Es ist ein Kampf gegen die Infektion, es ist aber auch ein täglicher Kampf mit uns selbst. Und bei aller Ungewissheit ist uns eines heute schon klar: Spurlos wird diese Zeit an keinem von uns vorübergehen. Können wir mit der Verantwortung, mit den vielen Fragen, die ich aufgeworfen habe, leben? Werden wir uns nach COVID19 noch im Spiegel anschauen können? Ich glaube: Ja. Aber nur dann, wenn wir mit Demut und dem Bewusstsein für unser aller Fehlbarkeit menschlich miteinander umgehen. Das wünsche ich mir und das wünsche ich den Debatten dieser Tage.

Vor allem aber wünsche ich mir eines: dass Sie alle behütet und vor allem gesund bleiben.