Verantwortungsbewusste Solidarität

In den vergangenen Wochen und Monaten haben wir die wahrscheinlich größte Herausforderung in der Geschichte unseres Freistaates seit der deutschen Einheit durchlebt. COVID19 hat uns große Aufgaben auferlegt, schwere Entbehrungen ertragen lassen und auch die Landesregierung veranlasst, Entscheidungen zu treffen, von denen niemand glaubte, sie jemals treffen zu müssen. Mit einer großen Kraftanstrengung haben wir für die Gefährlichkeit des Erregers sensibilisiert und die nötige Zeit gewonnen, um unser Gesundheitssystem für den Notfall zu rüsten. Das Virus hat uns  verändert und nein, die Gefahr ist nicht vorbei und alles, was wir uns bis jetzt an Vorsichtsmaßnahmen und Alltagspraktiken aneignen mussten – vom Hygieneplan bis zum Mund-Nasen-Schutz – bleibt nach wie vor wichtig und sinnvoll.

Krisenhafte Situationen wie die aktuelle setzen Menschen und Gesellschaften unter immensen Druck. Sie greifen unseren Alltag an und stellen alte Gewissheiten infrage. Diese Verunsicherung bewegt und polarisiert. Sie treibt das Innerste von Gesellschaften ans Tageslicht, sowohl im Positiven wie im Negativen. Deshalb habe ich mit Sorge beobachtet, wie Verschwörungstheorien um sich griffen, wie einige den Blick für ihren Nächsten verloren und nur die eigene, individuelle Lage im Blick hatten. Entsolidarisierungstendenzen gehören zu Krisen. Sie werden allerdings dann wirklich bedrohlich, wenn sie Mehrheiten erfassen und wenn der Ellenbogen zum Gemeingut wird. Umso wichtiger sind die unzähligen Zeichen gelebter Solidarität und Verantwortungsbewusstseins, die wir gegenwärtig sehen. Ich spreche von all denen, die täglich für unsere Gesellschaft arbeiten – von den Fußpflegern, Podologen und Frisören ebenso wie von den Polizisten und den Ehrenamtlichen, die Einkaufsdienste für Ältere aus Risikogruppen organisieren. Ich spreche aber auch von überhaupt allen, die – trotz der Doppelbelastung von (Kurz-)Arbeit und Kinderbetreuung etc. – die Verordnungsregeln mitgetragen haben, die wir brauchen, um in dieser nach wie vor mechanischen Phase der Infektionswegunterbrechung erfolgreich die Gesundheit unserer Mitbürger zu schützen. Ihnen allen und so vielen Menschen mehr ist es zu verdanken, dass uns Bilder wie diejenigen aus Bergamo oder den USA bislang erspart geblieben sind.

Im Vertrauen auf diese Mehrheit der Bevölkerung, die sich in verantwortungsbewusster Solidarität übt, möchte ich jetzt weitere Schritte gehen, um den allgemeinen Lockdown zu beenden. Ich werde deshalb in der kommenden Woche dem Kabinett Vorschläge unterbreiten, wie wir ab dem 06. Juni auf allgemeine Schutzvorschriften verzichten können und hin zu einem Konzept des Empfehlens und der lokalen COVID19-Bekämpfung bei wieder ansteigenden Infektionszahlen kommen. Das Motto soll lauten: „Von Ver- zu Geboten, von staatlichem Zwang hin zu selbstverantwortetem Maßhalten.“ Im Kern wird es darum gehen, dass bereits vor dem Erreichen des Grenzwertes von 35 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner im Gesundheitsministerium ein Alarmsystem ausgelöst wird und sofort Unterstützungsmaßnahmen für betroffene Städte und Kommunen veranlasst werden, um neue Infektionsherde einzudämmen und eine optimale medizinische Versorgung zu gewährleisten. Dafür sind wir gerüstet. Klar muss dann freilich auch sein, dass in akuten lokalen Infektionszonen Zwangsmaßnahmen schneller und deutlicher ergriffen werden müssen, um ein überregionales Ausgreifen neuer Infektionen zu verhüten.

Diese Lokalisierung des Pandemiemanagements und die Rückführung der verordneten Schutzmaßnahmen bietet aus meiner Sicht auch neue Chancen für die umfassende Wiederaufnahme des regulären Kita- und Schulbetriebes. All den Familien, die bis jetzt so starken Belastungen ausgesetzt waren, soll ermöglicht werden, wieder in den Alltag zu starten. Um hier jedoch vorankommen zu können, sehe ich es als unumgänglich an, dass der Freistaat, der seinen Lehrerinnen und Lehrern, seinen Erzieherinnen und Erziehern gegenüber eine Fürsorgepflicht hat,  gewährleistet, dass diese die Möglichkeit bekommen, sich auf COVID19 testen zu lassen, auch ohne eindeutige Symptomatik. Für diese Testreihen sind im Sondervermögen, das wir gerade im parlamentarischen Prozess diskutieren, knapp 25 Millionen Euro eingeplant. Hier müssen wir schnellstens zu Lösungen gelangen. Auch deshalb appelliere ich an alle demokratischen Kräfte im Landtag, sich jetzt nicht in unnötig langen Debatten um Nachtrags- oder Doppelhaushalte zu verlieren. Das Parlament ist der Ort der Diskussion und des Meinungsstreites. Und natürlich sollen hier unterschiedliche Lösungsansätze etc. auch in der gebotenen Ausführlichkeit besprochen werden. Doch wir alle müssen uns disziplinieren in der gegenwärtigen Situation nicht  aus den Augen zu verlieren, wie wichtig jetzt ein ebenso schnelles wie umsichtiges Agieren ist.

Wir werden – das muss uns bewusst sein – auch ohne Verordnung oder möglicherweise geänderte Abstandsregeln in nächster Zeit nicht wieder so leben können, wie wir das vor dem März 2020 konnten. Die Situation ist nach wie vor fragil. Wir müssen lernen, diese Fragilität zu akzeptieren, ohne uns in Fatalismus oder dem Gefühl von Sinnlosigkeit zu verlieren. COVID19 ist keine Naturkatastrophe, der wir schutzlos ausgeliefert sind. Und nein, ich kann hier und heute nicht versprechen, dass es nicht wieder zu einem Infektionsgeschehen kommen kann, das Einschränkungen notwendig macht. Ich schöpfe aber Kraft aus der Gewissheit, dass wir den Schlüssel selbst in der Hand haben. Er heißt verantwortungsbewusste Solidarität. Er ist wichtiger als jede noch so wasserdicht erscheinende Verordnung. Deshalb bitte ich Sie alle, weiterhin ein Herz für Ihre Nächsten zu haben, zu wissen, dass heute jeder von uns mit seinem Tun und Unterlassen zählt.