Im Zeitraffer durchs halbe Leben

Im Rückblick kommt mir das Wochenende wie eine Zeitreise durch mein halbes Leben vor. Am Freitagabend war ich in Marburg zu einer Veranstaltung des DGB zum Thema Berufsverbote, Verfassungsschutz-Schnüffelei und die Folgen. Der Saal war bis auf den letzten Platz besetzt. Auf dem Podium saß neben mir u.a. Silvia Gingold, die all die Widrigkeiten und Einschüchterungen beschrieb, die sie erlebt hat, weil sie einer aktiven antifaschistischen Familie entstammt. Sie hat sich zum Kommunismus als Philosophie und als erträumte Realität positiv verhalten und erlebte dadurch die Nicht-Einbürgerung, ein Berufsverbot und dann noch einen CDU Kreisverband, der gegen sie als Lehrerin hetzte und Eltern gegen sie in Stellung brachte.

Auch Renate Bastian war mit auf dem Podium und berichtete über das Berufsverbot von Herbert Bastian und wie die Familie plötzlich ohne Einkommen dastand, nur weil Herbert zum DKP-Stadtverordneten in Marburg gewählt wurde. Immerhin war es dann mit Walter Trötsch ein Landtagsabgeordneter der CDU, der dann 1990 den kalten Krieg beendete und beim Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker erfolgreich den Gnadenantrag stellte. Da waren zwei CDU Vertreter in der Lage gemeinsam Brücken zu bauen.

Renate Bastian erzählte aber auch, dass die DKP-Führung aus dogmatischen Gründen ihrem Mitglied Herbert Bastian den Gang nach Karlsruhe verbot. Um vermeintlich die DKP zu schützen, durfte Herbert seinen vollen Rechtsschutz nicht ausschöpfen. Renate sagt, dass es ein großer Fehler von ihnen gewesen sei, sich diesem Dogmatismus zu beugen.

Da auf dem Podium Berufsverbote-Opfer und Zeitzeugen saßen, erläuterte ich in meinem Beitrag auch, dass in dem Staat, für den sich die Mitglieder der DKP so sehr einsetzten, Unrecht und Willkür systemimmanent waren. Der kalte Krieg wirkte im Osten und Westen sehr unangenehm, aber das System MfS war eine wirkmächtigere Institution und konnte mehr als nur Biografien zu beeinträchtigen. In der alten Bundesrepublik konnten wir Solidarität öffentlich üben, ich konnte nach 30 Jahren Bespitzelung mit 20 Prozessen in 10 Jahren Prozessdauer mein Recht durchsetzen. Menschen in der DDR, die nicht angepasst sein wollten, die konnten das wirklich nicht. Deshalb werden wir mehr reden müssen, so wie vor zwei Wochen in Weimar und am Freitag in Marburg.

Am Samstag fuhren wir von Marburg nach Mainz, Blitzbesuch bei meiner Tante. Sie ist fast 93 Jahre alt, lacht mich an und fragt, wann denn nun endlich die Wahl im Landtag wäre. Klar sprechen wir dann auch über meine Kindheit und unser Dorf  in Rheinhessen. Sie erzählt mir, dass nun wirklich niemand mehr aus der Familie Fresenius im Stammort Nieder-Wiesen lebt. Mit dem Wegzug meiner Tante ging der letzte Vertreter unserer Familie weg, die seit 1750 dort ansässig war.

Samstagabend waren wir dann zurück in Erfurt und verbrachten den Abend im Redroxx. Germana und ich waren schon vor zehn Jahren bei der Eröffnung dabei also kommen wir natürlich auch zum zehnten Geburtstag. Auf dem Heimweg vom Redroxx steht dann vor einem Lokal eine alte Kollegin, mit der ich vor 25 Jahren die HBV in Erfurt aufgebaut habe. Sie raucht vor der Tür und sagt: „Die Anderen sind drin.“ Also treffen wir spontan noch Gewerkschaftskollegen aus Thüringen, die unsere Freunde geworden sind. Freitagabend die HBVler aus Marburg, Samstagabend dann die Mitstreiter aus Thüringen. Ich werde ja diesen Monat 40 Jahre Mitglied sein, aber dass mir Kolleginnen und Kollegen aus allen 40 Jahren in zwei Tagen begegnen, war wirklich beeindruckend. Eine schöne Zeitrafferreise durch mein Gewerkschaftsleben.