Zum Andenken an meine Lehrerin und Freundin Stefanie „Steffi“ Wolf

Das Leben ist mehr als eine gerade Linie zwischen zwei Punkten, die Geburt und Tod eines Menschen markieren.

Von eben diesem Leben – also der Zeit „dazwischen“ – möchte ich heute reden – aber nicht von irgendeinem Leben, sondern von dem unserer Freundin Stefanie Steffi Wolf, geb. Schulte. Das Licht der Welt erblickte sie am 19. Juli 1947 in Düsseldorf-Lehe. Gestorben ist sie viel zu jung am 28. November 2020 um 1:45 Uhr im Universitätsklinikum in Marburg.

Heute trauern wir mit Steffis Sohn, mit Philipp und seiner Frau Saskia, den Kindern Greta, Steen und Jonte, aber auch mit ihrem Lebensgefährten und Freund Heiner Haudorf und seiner Familie. Mit uns trauert Herbert Wolf, den sie am 1. Juni 1973 heiratete und der den Weg von Düsseldorf nach Marburg mit ihr gegangen ist, in Marburg schließlich Philipp ins Leben begleitet hat.

Zu Steffis Leben gehört die Grundschule ab 1953 in Düsseldorf, dann das Überwechseln auf das Mädchengymnasium und schließlich das Abitur im Jahr 1966. Dem schloss sich ein Studium der Volkswirtschaftslehre in Köln an, das sie 1973 abschloss. Nach der Hochzeit mit Herbert folgte der Umzug nach Marburg und dort der Beginn eines pädagogischen Aufbaustudiums mit dem Ziel, Berufsschullehrerin zu werden. Ihr Referendariat absolvierte sie in Kirchheim und das Studienseminar besuchte sie in Kassel. Steffi war nach ihrem Referendariat in Kirchheim nach Marburg gekommen und wurde Lehrerin an den Kaufmännischen Schulen am Ortenberg, wo sich unsere Wege das erste Mal kreuzten und sich im Laufe der kommenden Jahre miteinander verschlingen sollten. Ich war Schüler an der Fachoberschule und Steffi war meine Politiklehrerin.

Erst in der Rückschau wird mir klar, in welch besonderer Zeit wir einander begegneten und wie sich diese von unserer Gegenwart unterschied. Bei aller Fantasie mit der Du, liebe Steffi, uns ein enormes Wissen vermittelt hast – in den 1970ern wäre Dir wohl kaum die Idee gekommen, dass es in Deutschland einmal eine regierende Dreierkoalition oder gar einen Ministerpräsidenten, der einer Minderheitsregierung vorsteht, geben könnte. Gleichwohl hast Du im Jahr 1976/77 uns junge Fachoberschüler motiviert, systematischer über politische Probleme im Speziellen und Politik im Allgemeinen nachzudenken und uns damit eine ganz neue Welt zu erschließen.

Dass Du, liebe Steffi, Gewerkschafterin mit Herz und Seele warst, war uns allen schnell klar. Ich erinnere mich sehr dankbar an die wichtigen und kontroversen Gespräche zurück, die Du gestandene Gewerkschafterin mit dem Jungspund Ramelow, der gerade begann, sich in der HBV zu engagieren, geführt hast. Du hast mich Vieles gelehrt, von dem ich bis heute zehre und profitiere.

Zu gerne würde ich heute noch einmal mit Dir darüber reden, was du von dem aufmüpfigen Schülersprecher gehalten hast, der mit der Organisation des größten Schülerstreiks in der Marburger Stadtgeschichte nicht nur bewies, wie wichtig Bildungsnotstand und der Kampf um bessere Ausbildung auch damals schon waren, sondern auch in die Praxis umsetzte, was er in Deinem Politikunterricht gelernt hatte: „Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt.“ Diesen unseren Wahlspruch verbinde ich bis heute mit Dir.

Und weil Leben niemals geradlinig verlaufen, wir durch zahllose Irrungen und Wirrungen im Weg das Ziel finden, konnten wir auch nicht ahnen, dass wir schon einige Zeit später wieder Seit‘ an Seit‘ schreiten würden.

Bevor wir diesen Weg jedoch gemeinsam begannen, nahm Dein Leben noch eine ganz besondere Abzweigung – nämlich die Geburt Deines Sohnes Philipp, der am 05. Juni 1978 das Licht der Welt erblickte. Er war bei so mancher 01.Mai-Demo als kleiner Sonnenschein im Kinderwagen mit dabei.

Der Zufall wollte es, dass ich in der Marburger Liebigstraße Filialleiter beim Lebensmitteldiscounter Jöckel  wurde. Kein Zufall war es hingegen, dass ich mit der angestrebten Betriebsratswahl und dem Organisieren der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Gewerkschaft HBV kurze Zeit später mit meinem Arbeitgeber über Kreuz geriet und kurzerhand für mein Engagement die fristlose Kündigung präsentiert bekam. Was für ein Glück, dass ausgerechnet Du in dieser Zeit im Haus nebenan mit Deiner Familie eingezogen warst. Ein Solidaritätskomitee war durch Dein Mittun schnell ins Leben gerufen und die Kündigung wurde dank des immensen Druckes schnell wieder rückgängig gemacht. Momente, wie diese waren es, in denen Du ganz existenziell in mein Leben eingegriffen hast.

Auf unserem gemeinsamen Weg durch die Höhen und Tiefen, die fruchtbaren Täler und die Durststrecken, war Dein Philipp immer ein konstanter Wegbegleiter. Damit war natürlich ausgemacht, dass ich dem kleinen Wuschelkopf wo immer es möglich war, die Welt erklären musste – und ja, ich gebe zu: manchmal etwas zu fantasievoll und nicht immer ganz nah an der Wirklichkeit. Ich hoffe, lieber Philipp, dass Du mir verzeihen kannst, dass nichts von dem, was ich Dir über Sternbilder erzählt habe, wirklich gestimmt hat. Steffi lachte immer darüber. Ein herzliches Lachen. Ein Lachen, das ermunterte und Kraft spendete.

1979 eine weitere Abzweigung unseres verschlungenen Weges: der Beginn des Vorermittlungsverfahren gegen Herbert Bastian, unseren Freund, der leider auch nicht mehr unter uns weilt. Herbert, dessen einziges Vergehen darin bestanden hat, seit 1974 immer wieder erfolgreich für die DKP für das Marburger Stadtparlament kandidiert zu haben, sollte deshalb aus dem öffentlichen Dienst als Postbeamter entfernt werden. Für Steffi als Gewerkschafterin ein unglaublicher Vorgang. Und so engagierte sie sich schon sehr früh im Komitee gegen Berufsverbote und vertrat dort die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Ab 1981 war ich selbst hauptamtlicher Gewerkschaftssekretär und das Berufsverbotsverfahren ging in ein förmliches Ermittlungs- und dann Disziplinarverfahren über.

Just in der letzten Woche bekam ich von Renate Bastian und Bernd Wannemacher Fotos, die Dich, liebe Steffi, Herbert und mich zusammen zeigen. Ich merke, wie ich mich wieder zurück erinnere an die Fassungslosigkeit, die uns geprägt hat. Die Fassungslosigkeit, dass der eigentlich von vielen so verehrte Willy Brandt einen Erlass ins Werk gesetzt hat, den er später als einen schweren politischen Fehler bezeichnete – den sogenannten Radikalenerlass. Damit verbunden waren Berufsverbote, Existenzvernichtungen und der Versuch, nach links eher mit der Keule der Einschüchterung zu arbeiten als mit dem Verständnis, mehr Raum für soziale Gerechtigkeit zu schaffen. Der Bundeskanzler, der mehr Demokratie wagen wollte, löste den Schock bei uns aus, die Demokratie an den Stellen zum Einsturz zu bringen, wo Menschen sich die Freiheit genommen hatten, weit über das Bestehende hinaus nach mehr Gerechtigkeit Ausschau zu halten.

Auch wenn wir heute wissen, dass dabei Einiges illusionär und unausgereift war, müssen wir uns doch immer wieder die Frage stellen: Wie soll man ohne Visionen für eine gerechte Sache kämpfen?  Die Trauerannonce Deiner GEW-Kollegen ist übertitelt mit dem Satz von Che Guevara: „Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche! Warum sollten wir nicht das Unmögliche jedenfalls denken und darauf hoffen?“ So hast Du es uns jedenfalls beigebracht.

Und wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass das Leben alles andere als geradlinig verläuft, so hätte man als idealtypisches Beispiel das Auf und Ab heranziehen können, das Herbert Bastian durchlebt, ja, durchlitten, hat. Wir beide kämpften mit ganzer Kraft dafür, dass das Berufsverbotsverfahren nicht so endete, wie es schließlich doch zu Ende ging.

Das Foto, auf dem wir zusammen bei der Solidaritätskundgebung neben dem Hortenkaufhaus stehen, muss wohl aus dem Jahr 1983 stammen. Es war dieses das Jahr, in dem mich das Bundesamt für Verfassungsschutz in sein Herz – Verzeihung – in seine Akten aufzunehmen begann. Wie sangen wir immer im Chor Marburger Gewerkschafter? „Die Gedanken sind frei-lich in unserer Kartei.“

 Oder wie sagten wir?  „Wir haben nichts zu verlieren außer unseren Akten.“

Erst 30 Jahre später endete diese unliebsame Liebesbeziehung mit dem BfV als das Bundesverfassungsgericht am 17.09.2013 entschied, dass zu keiner Zeit ein Anlass für meine Überwachung bestanden habe.

Leider haben wir gemeinsam, Steffi, Renate, Herbert und ich, diesen Erfolg nicht mehr zusammen feiern können. Aber gemeinsam haben wir in all den Jahren zusammen dafür gekämpft, dass gewerkschaftliches und politisches Engagement nicht mit Berufsverbot geahndet werden darf.

Du selbst hast Dich in all diesen Jahren niemals einschüchtern lassen, sondern warst eine, die denen beigestanden hat, die Hilfe und Unterstützung brauchten. In Marburg in der Friedensarbeit warst du aktiv engagiert. Der Kampf zum Beispiel um die Umbenennung des Friedrichsplatzes in Friedensplatz war eines der Themen, mit denen Du Dich beschäftigt hast. 1989 die Diskussion um ein Denkmal für die Wehrmachtsdesserteure hat mich jedenfalls motiviert, dieses Thema mit nach Thüringen zu nehmen. Heute steht das Denkmal für den unbekannten Wehrmachtsdeserteur in Erfurt auf dem Petersberg an der Stelle, an der die Desserteure erschossen worden sind.

Es ist Dir und vielen anderen Steffis an unterschiedlichen Orten zu verdanken, dass die Unrechtsurteile der NS-Zeit gegen diese tapferen Menschen endlich aufgehoben wurden. Deserteure waren keine Kriegsverbrecher – im Gegenteil. Sie waren diejenigen, die sich der verbrecherischen Politik des NS-Staates aktiv verweigerten und dafür mit dem höchsten aller denkbaren Preise – nämlich ihrem Leben – bezahlten.

Für diese Friedens- und Antikriegsarbeit – immer mit klarer Kante und antifaschistischem Koordinatensystem – stand Steffi bis zum Schluss ein. Keine Demo, auf der man sie nicht treffen konnte.

Als allzeit engagierte Gewerkschafterin war für Dich klar, dass Du nach deiner Pensionierung nicht in den gemächlichen Ruhestand verfallen würdest – im Gegenteil. Du begannst eine unfassbar produktive Zeit im „Unruhestand“, die dich – wieder auf den verschlungenen Pfaden, die Dein Leben durchzogen – in viele Länder führte. Dabei warst Du aber nie eine klassische Urlauberin, sondern immer Aktivistin – eine, die nie still daneben stehen konnte, sondern immer den inneren Auftrag zum Zupacken empfand.

Wenn ich in den letzten Jahren als Ministerpräsident im Marburger Land bei Veranstaltungen zu Gast war, brauchte ich nur einmal durch den Saal zu schauen und wusste, dass ich irgendwo dieses Lächeln sehen würde. Und genau das ist es, was bleibt. Das Lächeln eines Menschen, der nie weggeschaut, sondern auf eine sehr einfühlsame Art immer wieder den Finger in die Wunde gelegt hat.

In dem Film von der Legende von Paul und Paula heißt es in dem Song der Puhdys: „Jegliches hat seine Zeit. Steine sammeln, Steine zerstreuen, Bäume pflanzen, Bäume abhauen, Leben und Sterben, Frieden und Streit.“ Du hast Steine gesammelt und wenn es sein musste, auch wieder zerstreut. Du hast Bäume gepflanzt und wenn es sein musste, wurden sie auch wieder abgeholzt.

Ist das widersprüchlich? Ja. Ist das manches Mal auch verworren gewesen? Natürlich. Aber genau das war es, was Dein wunderbares Leben auszeichnete. Es war immer mehr als eine gerade Linie. Es war ein Leben mit Windungen, mit Schmerzen und Freuden, mit Hoffnungen und Engagement. Ein Leben, das Spuren hinterlassen hat bei denen, die zu Deiner Familie gehören, aber auch bei vielen Menschen, die heute hier sind. Und deshalb habe ich gerne den Wunsch von Philipp erfüllt, heute noch einmal über Dein Leben zu sprechen, auch wenn ich viel lieber mit Dir ein Glas Wein trinken möchte. Aber Jegliches hat seine Zeit und heute ist die Zeit, mit Philipp, Saskia, Greta, Sten und Jonte zu trauern, mit all denen zusammenzustehen, mit denen Du einen Weg gegangen bist oder die mit Dir einen Weg gegangen sind. Ich will aber auch Dank sagen, ausdrücklich Dank sagen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Universitätsklinikum, die Dir bis zur letzten Sekunde beigestanden haben und die es Philipp und Heiner ermöglicht haben, auch bis zur letzten Sekunde bei Dir sein zu können. Ich weiß, was das in Corona-Zeiten heute heißt. Steffi, wir alle trauern, aber eines ist doch klar: Der Mensch stirbt erst, wenn keiner mehr an ihn denkt. An Dich denken nicht nur heute sehr Viele, sondern Du bleibst in unseren Herzen.

Steffi, ich danke Dir für die Kraft, die Du Renate gegeben hast, die Intensität, mit der du Herbert begleitet hast. Als gescheiterter Schüler weiß ich, wie viel Kraft Du mir gegeben hast, das Vertrauen auf Schule und Bildung wieder entwickeln zu können und zuzulassen, dass ich mit meinen eigenen Schwierigkeiten umgehen lernte. Du hast in mir einen Samen gepflanzt, der bis heute trägt und der mir die Kraft gibt, meine Arbeit zu machen. Philipp hast Du nicht nur das Leben geschenkt, sondern die Fähigkeit, sein Leben zu leben. Deshalb will ich am Ende einfach nur „Danke“ sagen. Danke im Namen von uns allen. Danke, dass es Dich gegeben hat. Danke, dass Du uns so viel gegeben hast.