Zehn Jahre – zu wenige Konsequenzen

Alle Erinnerungen an die schlimmen Stunden heute vor zehn Jahren sind auf einmal wieder da, als ich gestern früh bei Radio Frei zu einer Sendung über den Amoklauf am Gutenberg-Gymnasium bin. Wir haben original Zeitungsberichte von damals vor uns und die Geschehnisse sind unglaublich präsent. Es ist auch heute noch unfassbar.

Vom Radio geht es in den Landtag zur Fraktionssitzung, wo wir die Landrats- und Bürgermeisterwahlen auswerten. Dabei wird auch die gemeinsame Erklärung von LINKE und SPD vorgestellt, die deutlich macht, dass es sich lohnt gemeinsam gegen planlose CDU-Kommunalpolitik vorzugehen. Unsere Kandidatinnen und Kandidaten sollten wirklich von jedem Bürger wählbar sein – sogar von Sozialdemokraten ;-). Am Nachmittag war dann Bürgersprechstunde im Wahlkreisbüro, die wir extra in der Zeitung angekündigt hatten. Generell sind die Bürgerinnen und Bürger aber immer zum Gespräch eingeladen. Einfach einen Termin ausmachen und schon geht’s los.

Abends treffe ich mich noch mit Angehörigen des Gutenberg-Amoklaufs. Es ist kaum zu glauben, dass es zehn Jahre her ist. Wir sprechen auch über das Interview, dass Gerlinde Sommer für die TLZ mit mir geführt hat. Für die Tagebuchleser hier der Text in voller Länge:
 
TLZ: Wie haben Sie den 26. April 2002 in Erinnerung?

Dieser Tag ist für mich wie eine Endlosschleife tief in der Seele abgespeichert. Ich kann mich an den 26. April 2002 so erinnern, als ob dieser Freitag in diesem Moment stattfindet. Landtagssitzung: ein Minister spricht, ein Staatssekretär nimmt mich zur Seite. Er sagt: Es hat Schüsse gegeben. Zu diesem Zeitpunkt war von 13 Toten die Rede. Irgendwann brechen wir gemeinsam die Sitzung ab. Um den Landtag herum sind nur noch Martinshörner zu hören. Eine Kollegin, deren Kind an der Schule war, erhält eine Nachricht per SMS. Ich erinnere mich gut, wie die damalige Erfurter Landtagsabgeordnete und Stadtratsfraktionsvorsitzende Tamara Thierbach zu einer der zentralen Figuren wurde, um zu helfen, Wege zu ebnen, sofortige Begleitung zu organisieren. Das war auch in den darauffolgenden Tagen so: Sie sorgte dafür, dass Kinder und Jugendliche und andere Betroffene sich begegnen konnten.

Und sie ist nur ein Beispiel für den beherzten Einsatz. Damals wurden auch ganz schnell die Kirchentüren geöffnet. Warum war das so wichtig?

Ohne die offenen Kirchentüren wäre die akute Traumatisierung nicht behandlungsfähig gewesen.

Mit welchen Gefühlen sehen Sie diesem zehnten Jahrestag des Amoklaufs am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt entgegen?

Es ist normal und notwendig, dass alte Wunden an einem solchen Tag immer wieder ein Stück weit aufgehen. Ich bin aber auch froh, dass es im Verlauf der zehn Jahre Wege der Heilung gegeben hat, wobei manches gut und manches gar nicht gut gelaufen ist. Es waren quälende Wochen nach dem 26. April. Es kam zur schleppenden Aufarbeitung.

In Erinnerung geblieben ist sicherlich vielen die große Trauerfeier auf dem Domplatz.

Da hat das offizielle Erfurt sehr schnell und sehr gut gehandelt.

Aber?

Es gab diese entsetzliche Tat. Dass der Täter tot war, entlastete dann offenbar manche bei den Umständen, die dringend zu durchleuchten gewesen wären. Ich will keine Beteiligten denunzieren, mir geht es vielmehr darum, die Fehlerquellen zu analysieren und daraus Schlüsse zu ziehen. Es gab bei der Aufarbeitung Strategien der Verschleierung und der Leugnung von Umständen, die bei so einer Tat eigentlich mit zu beleuchten sind.

Worum geht es Ihnen konkret?

Ich sehe mehrere Aspekte. Zum einen ist da die Familie des Schülers, der zum Mörder wurde. Aber es geht auch um das Versagen der Schule und weiterer Bildungsinstitutionen. Da ist der Schulverweis, der nicht korrekt behandelt worden ist. Und es geht um den Bereich Waffenrecht und Waffe.

Welche Fragen stellen sich mit Blick auf die Familie von Robert S.?

Sie wollen nicht gemerkt haben, dass er nicht mehr zur Schule geht. Sie wollen nicht gemerkt haben, dass er nicht mehr in den gut funktionierenden Schützenverein Domblick geht, den ich ausdrücklich loben will für seine Arbeit. Dieser Sportverein hat mit dem weiteren Tatgeschehen nichts zu tun. Dieser Verein ist nur missbraucht worden von jemandem, der die Lücken im Waffenrecht genau durchdrungen hatte und der dann erlebt hat, dass die zuständigen Behörden weggeguckt haben und die Familie nichts hat merken wollen. Klar ist: Robert S. hatte mittlerweile jede Menge Waffen und Munition – und zwar zu Hause.

Aber Familie S. verhielt sich immerhin nicht so wie jüngst die Eltern Böhnhardt aus Jena, die die ganze Schuld für das Abgleiten ihres Sohnes Uwe, der auch zum Vielfach-Mörder wurde, beim Staat sehen…

…statt die Frage nach der eigenen Verantwortung zu stellen. Ich will aber jenseits der politischen Einordnung auch darauf hinweisen: Wir reden über die gleiche Zeit, die gleichen Umstände. Es ist der gleiche Mechanismus, der es erlaubte, dass sich junge Menschen auf einmal bewaffnen konnten. Ich sehe da bei den Familien S., Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe Vergleichbarkeiten.

Was ist mit dem Staat, was ist mit der Schule?

Der Staat ist für Teile des Geschehens verantwortlich. Bei der Schule geht es um die Frage: Was ist falsch gelaufen beim Zusammenspiel mit der Familie? Was ist falsch gelaufen an der Schule selbst? Ich ziehe die Konsequenz daraus, dass ich sage: Meine Bildungsinstitution der Zukunft basiert darauf, dass Eltern, Schüler und Lehrer gemeinsam an dem Projekt Schule arbeiten. Wenn das so wäre, würde man das Fehlen eines Gliedes merken. Aber im Fall von Robert S. haben weder Eltern noch Schule etwas bemerkt. Es wurde administriert.

Robert S. hat in kurzer Zeit sehr gut schießen gelernt – und offenbar muss es einen Dritten gegeben haben, der ihn dabei unterstützt hat. Was wissen Sie über diesen Sachverhalt?

Die Frage ist: Wo ist Robert S. so scharf gemacht worden, dass er gezielt Menschen töten konnte? Klar ist: Es gab Erwachsene, die ihm gezeigt haben, wie die Glock 17 zu handhaben ist. Es gab mindestens einen Erwachsenen, der regelmäßig mit ihm auf diese privat geführten Schießplätze gegangen ist. Das belegen Schießbücher. Da hat Robert S. lernen können, mit dieser Waffe oder auch mit der Pumpgun umzugehen. Dieser Punkt ist bis heute nicht aufgearbeitet, die Begleitpersonen sind nie näher untersucht worden. Aus diesen Umständen nährt sich auch der Mythos des zweiten Täters. Ich sage bewusst: Mythos, denn ich habe nie eine solche Spur gesehen. Ich weiß aber auch, dass demnächst wieder Filme gezeigt werden, die diesen Mythos in den Mittelpunkt stellen werden.

Es gibt also keinen zweiten Täter, aber…

…zumindest eine zweite Person, die wissentlich und willentlich mit Robert S. zum Training mit der Glock 17 gegangen ist.

Ist diese Person denn namentlich bekannt?

Ich habe ihren Namen damals den zuständigen Stellen gesagt. Aber passiert ist nichts. Das ist auch in die Berichte nicht eingegangen. Und diese ganze Fragestellung ist nie weiter untersucht worden.

Warum?

Ich verstehe das bis heute nicht. Denn eigentlich müssten auch alle Sportschützen ein Interesse daran haben, zu erfahren, ob da jemand die Grauzonen ausgenutzt und überschritten hat und damit geholfen hat, dass aus einem Loser…

…also einem Verlierer…

…ein Killer wird.

Wie ist es zu erklären, dass beispielsweise in diesem Punkt nicht weiter nachgegangen wurde?

Es gab einige gerade auch unter den Hinterbliebenen, die genauere Untersuchungen wollten. Aber ich erinnere mich auch sehr genau daran, dass denen Knüppel zwischen die Beine geworfen wurden.

Gilt das nur mit Blick auf die Ausbildung von Robert S. zum Killer?

Nein, das gilt auch für den ganzen Polizeieinsatz am Gutenberg-Gymnasium, der bis heute mehr Fragen aufwirft als er Antworten gibt. Auch da hat man es sich leicht gemacht. Man hat dem Einsatzleiter alle Pannen in die Schuhe geschoben. Aber es steht doch eine ganz andere Frage: Wieso hat das Lagezentrum nicht selber die Aufgabe übernommen? Das wäre doch die Pflicht dieses Lagezentrums gewesen. Aber dann wären Minister und Staatssekretäre mit in der Verantwortung gewesen. Ich erinnere mich, dass sie auf dem Gelände waren – aber die Verantwortung beim Polizeieinsatzleiter belassen haben.

Von welchen Pannen reden wir denn?

Da sind beispielsweise die Handys nicht koordiniert worden. Die einlaufenden Informationen sind nicht abgeglichen worden. Man hat über Stunden hinweg wegen der Eigensicherung der Polizei die Schüler im Schulhaus festgehalten. Zu diesem Zeitpunkt war der Täter schon tot und es stand sogar ein Polizist vor der Tür, hinter der er lag…

Es gab auch immer wieder die Frage, ob alles getan worden ist, um die Angeschossenen zu retten. Wie sehen Sie das?

Als die Notärztin versuchte, zu diesen Menschen – darunter der Lehrer Lippe und die Lehrerin Dettke – zu kommen, hat man sie daran gehindert. Die schwerstverletzte Lehrerin ist vom Schulhof nicht geborgen worden, obwohl es gepanzerte Fahrzeuge gab…

Es hieß später: Diese Angeschossenen hätten sowieso keine Überlebenschance gehabt…

Das mag ja sein. Aber die Frage ist doch: Hätten nicht beide Lehrkräfte ein Recht gehabt, dass jemand beim Sterben bei ihnen gewesen wäre?! Das sind Fragen, die sich auf den Einsatz, die Polizeitaktik beziehen. Aber diese Fragen durften gleich nach dem 26. April, so war der Eindruck, damals noch nicht einmal formuliert werden. Aber mit dem Abstand von Wochen und Monaten hätte ich mir gewünscht, dass genau hier intensiver hingeschaut worden wäre, damit auch die Beteiligten sich mit ihren Sorgen hätten ernst genommen fühlen können.

„Hilfe“ schrieben Schüler an diesem Tag auf Zettel und hängten sie ins Schulfenster. Sie waren nach dem Amoklauf stundenlang eingesperrt. Wie schätzen Sie das ein?

Das war für mich eine fehlerhafte Entscheidung. Aber auch das laste ich nicht dem Einsatzleiter an. Ich weiß aber nicht, ob die politisch Verantwortlichen und die Zuständigen für solche Großlagen inzwischen die richtigen Konsequenzen gezogen haben. Es gibt Einsatzpläne an den Schulen und die Notrufknöpfe und alles – aber was nutzt das alles, wenn man glaubte, solche Fragen im Laufe der zehn Jahre dem hochwachsenden Gras zuzuordnen?!

Robert S. hatte es auf Lehrerinnen und Lehrer abgesehen. Dazu gibt es eine Vorgeschichte.

Beim Lehrer Hans Lippe, das ist der Genosse, bei dem ich dann die Trauerrede gehalten habe, bleibt für mich die Frage: Warum ist die Vorbedrohung nie ernst genommen worden. Hans Lippe hatte, nachdem Robert S. auf einer Klassenreise mit seinen Fingern wie mit einer Pistole auf ihn gezielt hatte, seiner Frau von dem eiskalten Blick erzählt, der ihn tief in der Seele getroffen habe. Das wurde zum Gegenstand einer Lehrerversammlung. Aber ich habe den Eindruck, letztlich ist das unter den Teppich gekehrt worden – und zwar ebenso wie die Verantwortung des Schulamtes für einen Schulverweis, der verwaltungstechnisch nicht richtig war.

Und welche Rolle spielt in diesem ganzen Geschehen die Direktorin?

Ich will ihr nicht zu nahe treten, aber richtig wäre gewesen, wenn es einen kompletten Wechsel in der Schulleitung gegeben und Frau Alt eine andere Position bekommen hätte. Sie muss über Jahre für den späteren Amokläufer eine Hassfigur gewesen sein. Und nach der Tat war klar, dass auch an der Schule bestimmte Fragen – gerade auch nach dem Warum – nicht zugelassen waren. Denn hinter diesen Fragen stand unausgesprochen immer auch: Bist du für oder gegen Frau Alt? Ich habe Frau Alt keine Ratschläge zu erteilen, aber bei Traumaarbeit gilt: Stelle ich mich auch selbst den Fragen, die im Raum stehen?

Ich bemerke an mir, dass ich zehn Jahre lang gezögert habe, das, was die Rolle von Frau Alt betrifft, öffentlich auszusprechen, obwohl ich diese Fragen damals schon hatte.

Damals wurde ein Meer von Blumen vor dem Gutenberg-Gymnasium abgelegt. Inzwischen sieht die Schule durch die vorgelagerte Treppe ganz anders aus…

Ich finde diese Treppe monströs. Diesen Vorbau gibt es auch, damit die Schule nicht sofort mit dem identifiziert wird, was geschehen ist.

Was bleibt schulpolitisch als Aufgabe?

Einiges: Es wurden bei der Bildungsentwicklung zu wenig Konsequenzen aus der Tat gezogen. Die Prüfung am Ende der zehnten Klasse entspricht nicht dem, was nötig wäre. Es bleibt für mich die Forderung nach längerem gemeinsamen Lernen an der Schule als Lern- und Lebensort, an dem Eltern, Lehrer und Schüler, aber Hausmeister, Putz- und Küchenfrauen alle gemeinsam zum Bildungsprozess gehören. Damals war das anders und vielleicht wäre es heute noch so: Bei der Traumaarbeit sind anfänglich die Küchenfrauen vergessen worden, weil sie zu einem anderen Träger gehörten und damit nicht als Betroffene wahrgenommen wurden. Das sagt doch alles.

Oder nehmen wir die Horte: Erst kürzlich galt ihre Kommunalisierung wieder mal als Sparargument…

Die Schule, von der ich spreche, sieht nicht nur den Lehrer als Gegenüber der Kinder. Am besten wäre es, wenn jeweils zwei Pädagogen zum Unterricht gehören würden. Aber noch nicht einmal die Klassenleiterstunde ist bisher eingeführt worden…

Es gab damals den „Schrei nach Veränderung“ durch junge Leute…

…und es war gut, dass diese Schülerinitiative so massiv einen Teil der Traumaarbeit übernommen hat. Wichtig war auch die Schülergruppe, die sich um das Thema Waffenrecht gekümmert hat. Die Schüler haben wichtige Akzente gesetzt, aber als sie ihre Fragen immer zugespitzter formulierten, sind sie nicht ernst genommen worden. Da war dann doch der Nimbus des Gutenberg-Gymnasiums als Eliteschule wichtiger als der pädagogische Aufbruch, den man hätte wagen sollen.