Auf dem Fundament Verantwortung Brücken bauen
Am 18. September durfte ich anlässlich des Gedenkens im Rahmen des 83. Jahrestages der Verschleppung der ersten polnischen Menschen in das KZ Dachau in der dortigen Versöhnungskirche eine Gedenkrede halten, in der ich insbesondere die Notwendigkeit des verantwortungsbewussten Erinnerns für eine gelebte Kultur des „Nie wieder“ betont habe. Meine Rede:
„Verantwortung – Verantwortung zu übernehmen, wie es der Bundespräsident gesagt hat, setzt voraus, Verantwortung anzunehmen, setzt voraus, das zu besprechen, was zu besprechen ist. Wir haben Zeitzeugen gehört. Wir haben Prof. Zukowski gehört. Er beschreibt, was sein Leben geprägt hat. Wir haben gehört aus vielen Gesprächen mit Zeitzeugen, dass ihr Leben nach der Befreiung aus den KZs nie mehr so war, wie die Hoffnung eines Lebens davor gewesen ist.Das bedeutet jedoch, sich auseinanderzusetzen mit denen, die die KZs bauten, die die Befehle erteilten, die das Geld verdient haben an der Vernichtung derer, die ermordet wurden. Das heißt, sich auseinanderzusetzen mit unserer Geschichte. Das heißt Verantwortung zu übernehmen.
Unsere Geschichte ist die Geschichte eines Deutschlands mitten in Europa mit allen seinen Zerissenheiten. Deswegen will ich sehr persönlich sagen, dass mein Urgroßvater noch Fischereimeister an den Masurischen Seen war. Meine Großmutter (väterlicherseits) lebte noch an den Masurischen Seen. Mein Vater ist in Wehrmachtuniform am 01. September 1939 in Polen mit einmarschiert. Mein Großvater (mütterlicherseits) war frühes NSDAP-Mitglied, weil er kaisertreu war und die von ihm wahrgenommene Unordnung des Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg nicht ertrug. An ein demokratisches Land hat er sicher nicht geglaubt. Jedenfalls hatte er große Schwierigkeiten mit ihm. All diese Menschen sind Teil meiner Familie und Teil dessen, was wir zu besprechen haben.
Und wenn ich heute mit Zeitzeugen zusammen bin, dann weiß ich aber auch, dass an jedem Tag, den Gott werden lässt uns ein wertvoller Mensch, ein Zeitzeuge, verlorengeht.
Was bleibt, ist die Frage der Verantwortung, die wir übernehmen müssen, wenn wir auf das schauen, was passiert ist. Denn es passierte nicht auf einem fernen Planeten oder war von Menschen verbrochen worden, die mit einem Raumschiff kamen.
Wir sind hier in Dachau, dem Muster – KZ, der Mutter aller KZs. Das sage ich als Thüringer Ministerpräsident. In meinem Bundesland liegt die Gedenkstätte Buchenwald – Mittelbau Dora. Wir haben außerdem die Gedenkstätte „Topf und Söhne“. Das heißt, dass alle Menschen auf der Welt, die sich mit dem Holocaust auseinandersetzen, immer auf das Markensignet aus Erfurt stoßen werden – die Muffelöfen von „Topf und Söhne“, deren Patente bis heute im Deutschen Patentamt hinterlegt sind. Und das KZ Buchenwald stand unter der Adresse „KZ Buchenwald“ im Telefonbuch. Wenn also irgendwer erzählt, er habe gar nicht gewusst, was passiert, man konnte es nicht einmal ahnen, dem empfehle ich einen Besuch in Warschau im Ringelblum-Archiv, in dem die Geschichte zusammengetragen worden ist, von all denen, die im Warschauer Ghetto gewesen sind und unter Lebensgefahr alles bewahrten, was dort geschah. Dort ist von der systematischen Vernichtung,dem Auslöschen, die Rede, nicht von einem Betriebsunfall. Hier in Dachau ist das vorgedacht und entwickelt worden, was danach im ganzen europäischen Machtbereich der Nazis angewandt wurde. Ja, man hat den Massenmord ausgelagert. Deshalb kann ich nicht akzeptieren, wenn in Deutschland von >polnischen KZs< gesprochen wird. Es gibt nur deutsche KZs, die auf polnischem Boden oder dem Boden anderer Nationen errichtet worden sind. Es gibt eine deutsche Verantwortung. Selbst die Deutsche Reichsbahn hat jeden einzelnen Gefangenen abgerechnet – egal auf welcher Linie, ob nach Buchenwald, nach Dachau oder ins Vernichtungslager Auschwitz.
Der Überfall auf Polen am 01. September 1939 war ein systematischer Akt der Aggression. Es sollte dort kein Krieg geführt werden, sondern es sollte vernichtet werden, um sog. „Lebensraum“ für deutsche Siedler zu schaffen, das hieß auch, unter dem Stichwort AB – „außerordentliche Befriedungsaktion“ – unmittelbar nach dem deutschen Einmarsch die polnische Elite gefangen zu nehmen und zu vernichten. Dieses „Außerordentliche Befriedungsaktion“ ist so ein Begriff, der verdreht und umwertet und vor allem ablenkt vom tatsächlichen Gehalt des Wortes. Vernichtung ist Vernichtung und Krieg ist Krieg.
Mich erinnert dieses aber noch an etwas anderes.Ich war gerade zum Staatsbesuch in Polen und dort wurde mir sehr deutlich gesagt, dass es nicht nur den Einmarsch der Deutschen, sondern auch den der Sowjetunion gegeben habe. Beide Mächte haben die Auslöschung Polens als Staat betrieben, um es unter sich aufzuteilen. Der einzige Grund: es sollte fremd besiedelt werden. Das hieß dann, die polnische Bevölkerung zu vernichten oder zu versklaven.
Alles, was wir von Prof. Zukowski gehört haben, geht einem tief unter die Haut. Man spürt und weiß: ein System, dass die Unmenschlichkeit zum Handlungsprinzip erhebt, das andere vernichten will und für >vernichtbar< hält, ist in der Lage unaussprechliches Leid zu erschaffen. Wenn wir das wissen, müssen wir uns unserer eigenen Verantwortung stellen. Polen war das erste Land, das von Deutschland überfallen wurde. 6 Millionen Polen wurden ermordet – ein Ausmaß an Vernichtungswut und – willen, das die Worte fehlen lässt.Und deshalb fällt es mir mehr als schwer zu ertragen, wenn auch ein Thüringer Politiker von einer 180 Grad-Wende in der Erinnerungskultur redet oder ein anderer Politiker behauptet, die NS-Zeit sei doch nur ein >Vogelschiss< in der Geschichte. Verantwortung zu übernehmen heißt doch, sich an dieser Stelle grade zu machen und zu sagen: „Nein, nur wenn wir diesen Teil der Geschichte als Verantwortung übernehmen, können wir über andere Dinge in Deutschland ebenfalls reden.“
Wer also über das KZ Buchenwald nicht reden will, der braucht auch Goethe nicht im Munde zu führen und sollte zu letzterem einfach schweigen. Denn die Konzentrationslager waren der verbrecherische Ausdruck des chauvinistischen Wunsches danach, dass >am deutschen Wesen die Welt genesen< solle. Und gerade deswegen, meine sehr verehrten Damen und Herren, sage ich klar wie gut und wichtig es ist, dass hier in Dachau an die polnischen Opfer erinnert wird. Dass deutlich gemacht wurde, dass heute vor 83 Jahren die ersten polnischen Opfer des Massenmordes hierher deportiert wurden.
Und ja, es stimmt, dass die Zehntausenden Toten, die es hier zu betrauern gibt, im Verhältnis zur Vernichtungsmaschine in Auschwitz in keiner Relation stehen. Aber niemand solle sagen, er hätte es nicht gerochen. Und deshalb möchte ich noch einmal aus der Perspektive Erfurts und Buchenwalds sprechen: die Techniker des Todes – Angestellte der Firma Topf und Söhne – sahen ihre Arbeit jeden Tag an ihrem Arbeitsplatz, wenn sie von den Reißbrettern auf den Schornstein von Buchenwald schauten. Und sie wussten bei jeder Patentschrift, die sie einreichten, um was es ging: darum, geschundene, ausgemergelte, ermordete Menschen in Massen zu verbrennen. Und Paul Celan sagte deshalb klar: >Der Tod ist ein Meister aus Deutschland.<
Verantwortung übernehmen heißt, in Deutschland über diese Dinge zu reden und aus dieser Perspektive auf die Nachbarn zuzugehen – auch auf Polen und ausdrücklich zu bekennen, dass sich davor keiner in Deutschland drücken kann. Und eine Geschichtswende oder eine Revision dessen, was passiert ist, darf es nicht geben, genauso wenig wie ein Ausgrenzen oder Auseinanderdividieren der Opfer. Es gibt nicht >mehr jüdische< oder >mehr polnische< Opfer, sondern es gibt nur die Opfer, für die wir die Verantwortung übernehmen müssen. Deswegen stehen wir hier zusammen.
Und deswegen, meine Damen und Herren, trifft es mich, wenn ein Mensch in Deutschland seine Kippa vom Kopf geschlagen bekommt oder wenn Menschen wegen ihrer Hautfarbe oder ihrer sexuellen Orientierung geschlagen werden. Dazu nicht zu schweigen, hinzusehen und nicht beiseite zu stehen, das heißt auch, Verantwortung zu übernehmen.Ich danke für diese Veranstaltung, die deutlich macht, dass wir für das, was vor 83 Jahren hier geschah, die Verantwortung übernehmen müssen – und ein >Nie wieder< ein >Nie wieder< bleibt.
Ich danke Ihnen.