Soziale Grundgewissheiten nicht weiter kaputt gehen lassen

Sigmar Gabriel hat am Wochenende zum wiederholten Mal ein Sozialpaket gefordert. Klar war die Verknüpfung dieser Forderung mit den fiskalischen Belastungen durch die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen verunglückt. Aber ich unterstelle ihm nicht, dass er Deutsche und Flüchtlinge gegeneinander ausspielen wollte, wie es ihm von der Union vorgeworfen wird. Und wir sollten auch nicht so tun, als ob in Deutschland alles in bester Ordnung gewesen wäre, bis die Flüchtlinge kamen. Ja, dieses Land ist wirtschaftlich stark, und es wird immer stärker. Aber dieses Land ist auch sozial gespalten, und die Lücke zwischen denen ganz oben, der immer kleiner werdenden arbeitenden Mitte und denen, die als Erwerbslose, Armutsrentner oder Niedriglöhner vom Wohlstandszuwachs abgehängt sind, wird immer größer.
 
Allzu vielen Menschen sind in den vergangenen Jahren Grundgewissheiten abhandengekommen. Sei fleißig, und du kommst voran. Sei sparsam und vertraue auf die Solidargemeinschaft der Sozialversicherung, dann wirst du keine Armut leiden, wenn du krank oder alt wirst. Sorge für die Bildung deiner Kinder, und es wird ihnen besser gehen als dir. All das galt einmal. Diese Grundgewissheiten waren die Grundfesten unseres Sozialstaats. Heute haben viele den Eindruck, dass diese Gewissheiten nur noch so lange gelten, wie sie nicht den Profiterwartungen großer Unternehmen widersprechen. Ein unbefristeter Job ist für Menschen unter 30 wie ein Lottogewinn. Eine schwere Krankheit auch nur eines Lohnempfängers bringt selbst Mittelschichthaushalte schnell in existenzielle Bedrängnis. Die Rentenerwartung ist selbst für Durchschnittsverdiener jämmerlich, auch dann wenn sie bis 67 durchhalten. Eine Lebensversicherung hält für viele nicht mehr, was sie ursprünglich mal versprach. Und wer sein Kind in ein verwittertes Schulgebäude bringen muss, das neben einer glänzend renovierten Bankfiliale steht, fragt sich auch mit Recht, ob die Prioritäten richtig gesetzt sind, wenn das Geld besser untergebracht ist, als die Kinder.

Weil wir diese Grundgewissheiten brauchen, habe ich schon im Oktober letzten Jahres von Bundeskanzlerin Merkel eine Sozialgarantie gefordert – auch, weil ein Gegengift zur rechten Angstmache dringend notwendig ist. So verstehe ich jetzt auch Sigmar Gabriel. Deutschland ist stark genug, die Aufnahme und Integration der Flüchtlinge zu schultern und in den sozialen Zusammenhalt zu investieren. Das ist kein Widerspruch. Ganz im Gegenteil: der soziale Zusammenhalt ist das Fundament, in dem eine gelungene Integration erst wirklich gedeiht.