Gastbeitrag: Prof. Walter Homolka über den Mai 1989 in Leipzig

Über Geschichte habe ich in den letzten Tagen sehr viel gesagt und geschrieben. Heute, zum Tag der deutschen Einheit, möchte ich in meinem Tagebuch gern die Festrede von Rabbiner Prof. Walter Homolka, Rektor des Potsdamer Abraham Geiger Kollegs, als Gastbeitrag veröffentlichen. Walter Homolka war im Sommer 1989 als westdeutscher Austauschstudent zu Gast an der Theologie in Leipzig. In seiner Rede zitiert er aus seinem Tagebuch von damals:

„Vor 25 Jahren – mit 25 Jahren – erhielt ich die Gelegenheit, während meiner Promotion ein Sommersemester an der Sektion Theologie der Karl-Marx-Universität Leipzig zu verbringen. Der Deutsche Akademische Austauschdienst hatte mich ausgewählt, im Mai 1989 zu den ersten 150 Jungwissenschaftlern zu gehören, die im Rahmen des Kulturabkommens mit der DDR ein Austauschprogramm absolvieren. Es war mein erster Aufenthalt in der Deutschen Demokratischen Republik. Es war meine Gelegenheit, aus erster Hand eigene und ganz persönliche Erfahrungen mit dem Leben in der DDR zu machen.

An der Sektion Theologie einer staatlichen Universität, am Lehrstuhl des auch in der Bundesrepublik bekannten und respektierten Kirchenhistorikers Kurt Nowak, befand ich mich gleichzeitig im Schnittpunkt zwischen Kirche und Sozialismus, zwischen Dissidenz und Konvergenz mit dem Arbeiter- und Bauernstaat.

Ich habe dabei Menschen kennengelernt, die durchaus Säulen des Systems gewesen sind, und gleichzeitig Menschen, für die dieses System keine Verwendung hatte oder die diesem Staat misstraut haben.
Vor allem habe ich die DDR in der Normalität des Alltags erlebt. Und dafür bin ich noch heute dankbar.

Damals war nicht absehbar, dass es sich um die letzten Monate der DDR handeln sollte. Ich erlebte diesen Staat im Abgesang. Und doch war mir irgendwie klar, dass ich mich in einem sehr außergewöhnlichen Abschnitt meines Lebens befinde. Deshalb habe ich ein Tagebuch geführt.

7. Mai Tag der Kommunalwahl
Alles redete schon Tage vorher über die Wahl und die Höhe der gültigen Nein-Stimmen. Umso ernüchternder das offizielle Ergebnis: 98 % Ja.
Jeder meiner Freunde hat mit viel mehr Enthaltungen und Nein-Stimmen gerechnet. Am Abend erste Tumulte an der Nicolaikirche.

8. Mai
Gegen 18 Uhr treffe ich im Hause der Führers ein (Michael Führer, der Bruder von Pfarrer Christian Führer von Nicolai) war mein Betreuer an der Universität. Abendessen ist angesagt, danach Konzert in der Thomaskirche.
Stattdessen schickt mich Michaels Frau Caritas gleich in die Stadt zurück. Ich treffe Michael an der Ecke Ritterstrasse. Wir gehen mehrmals um den Nicolaikirchhof und betrachten die Ansammlungen von Staatssicherheit und Bereitschaftspolizei. Es ist Friedensgebet in Nicolai!

Mindestens 10 Lastwagen Bereitschaft, rings um die Kirche mindestens 150 bis 200 Stasi-Leute, die mit ihren Schirmen und in ihre Einkaufstüten sprechen.
Nach Gottesdienstende bleiben die Beter noch auf dem Platz, um miteinander zu reden. Die Stimmung ist gespannt.

Wegen des harten Vorgehens der Sicherheit am Sonntag will man der der Konfrontation aus dem Weg gehen. Aber die Haltung der Polizei ist provokativ-demonstrativ.

Dr. Führer und ich begegnen vielen bekannten Gesichtern, die ebenfalls „spazierengehen“: Studenten vom kirchlichen Seminar und von der theologischen Sektion, den Superintendenten der Thomaskirche…und andere.

Trotz geladener Stimmung scheint alles friedlich abzugehen. Wir gehen die Ritterstrasse Richtung Leuschnerplatz nach Norden, um die dort offen bereitstehenden Mannschaften der Bereitschaftspolizei zu betrachten. Da werden wir schon von ca. 60 Mann überholt: die Ansammlung von Betern hat sich nämlich in Bewegung gesetzt, um den Nicolaikirchhof zu verlassen.

Blitzschnelles Eingreifen der Bereitschaftspolizei macht den ausgeklügelten Einsatzplan deutlich: alle Zugänge zum Platz werden abgesperrt. Die eingekesselte Menge staut sich.
Michael und ich haben es nicht mehr auf die „andere Seite“ geschafft. Wir bleiben also Beobachter. Seitlich kann sich die Stasi durchschleusen, dann ist die Mauer dicht.
Heftiges „Hey, hey,hey-„Rufen – verbunden mit rythmischem Klatschen – ist die Antwort der eingeschlossenen Menge.

Ziel der Aktion: Zerstreuung der Menge und Einschüchterung. Ich bemerke Kameras auf den umliegenden Dächern, fotografierende Stasi, Michael und ich sind gleich mehrfach drauf. Kamerateams undefinierbarer Herkunft. Die ARD war an der Stadtgrenze zurückgewiesen worden. Es muss sich also um DDR-Aufklärer handeln. Dafür spricht, dass ihre Arbeit unbehelligt bleibt.

Taktik der Zerstreuung der Menge: Durch die Theaterpassage können peu a peu die Menschen den Platz verlassen, schließlich öffnen sich einige Absperrungen wechselweise; alles scheint einem Plan zu folgen. Es ist 19 Uhr geworden. Wir denken, alles mitbekommen zu haben. Aber ich zögere noch, zur Thomaskirche zu gehen. Da sehe ich einen flüchtigen Bekannten am halb geöffneten Cordon der Polizei an der Löwenapotheke gegenüber dem Fürstenerker: er ist Student am Seminar und spricht mit einem der Polizeioffiziere. Als der Wortwechsel abbricht, gehe ich zu ihm. Seine Fragen nach Leitung und Grund des Einsatzes waren unbeantwortet geblieben. Und noch jemand anderer geht auf den Offizier zu, fragt, warum man auf solche Nachfragen keine Antwort bekommt.
„Provozieren Sie doch nicht immer“ ist die Entgegnung.

Ganz schnell eskaliert die Situation: mein Bekannter mischt sich ein, wird daraufhin gepackt und zur grünen Minna geschleift. Daraufhin setzt sich der andere vor den Wagen und andere setzen sich solidarisch dazu. Bevor die Gruppe von Polizei umzingelt wird, trete auch ich in den Kreis. Vielleicht kann meine Beteiligung Schlimmes abwenden, jedenfalls wedele ich mit meinem Ausweis des Ministeriums für Hoch- und Fachschulwesen. Ein Lastwagen wird gerufen und wir Sitzstreikenden gewaltsam aufgeladen. Michael ruft, dass er sich um alles kümmern werde. Aber dann lässt man mich doch schließlich zurück.

Der Lastwagen bahnt sich einen Weg durch die eingeschüchterte Menge. Wir bleiben wie begossene Pudel zurück. Einer ruft noch „Solche Kindereien“. Aber Proteste werden jetzt schnell mundtot gemacht. Später erfahren wir, dass die Verhafteten eine ganze Nacht im Gang stehend auf ihre Freilassung warten mussten.

Ich fühle mich hilflos und wütend. Wieder werden wir fotografiert. Michael Führer springt auf den Mann zu und bittet keck um einen Abzug.
Meine Analyse von damals: Menschen bedrückt hier nicht mangelnde Versorgung. Es ist die mangelnde Freiheit, seine Meinung zu äußern, es ist die Wut über den dreisten Wahlbetrug, es ist die Angst, bald auch nicht mehr nach Ungarn reisen zu können, wenn dort die Grenzanlagen abgebaut werden.

9. Mai
Den ganzen Vormittag in der Deutschen Bücherei verbracht und Leihscheine ausgefüllt. Am Nachmittag dann Thomas S. im Leiterkreis der FDJ Lindenau getroffen, wir tagen im Haus der Volkskunst. Auch dort wird Unmut über den Wahlausgang laut. Man ist frustriert über die offensichtliche Stimmfälschung. Nach der Sitzung gehe ich mit Thomas nach draußen. Ich sage ihm, wie aufgebracht ich bin über mein Erlebnis an der Nicolaikirche. Und daß ich ihn nicht verstünde, wie man SED-Mitglied sein könne angesichts der diktatorischen Zustände hier.
Thomas gibt zurück: er wisse, dass die DDR eine Diktatur sei. Und fort ist er mit dem Rad.

Soweit meine Aufzeichnungen aus dem Mai 1989.
Ich hatte sie Jahrzehnte lang nicht mehr zur Hand genommen. Zum Tag der Deutschen Einheit nach 25 Jahren macht mir dieser Erfahrungsbericht aber klar, was wir morgen feiern.

Die DDR war eine Nation in der UN. Aber sie ist untergegangen. Sie ist gescheitert an ihren eigenen Widersprüchen. Mit ihrer Willkür gegenüber den Menschen konnte diese Diktatur niemanden mehr überzeugen.
Wir sind heute hier zusammengekommen, um den Rechtsstaat zu feiern, die Freiheit jedes Einzelnen von uns und die glücklich gewonnene Einheit des deutschen Volkes.“

Festrede zum Tag der Deutschen Einheit
Nicolaikirche zu Potsdam, 2. Oktober um 19 Uhr
Rabbiner Professor Walter Homolka PhD DHL