Bekenntnisrituale

Alle Jahre wieder sehe ich mich der gleichen Debatte ausgesetzt. Solange ich Vorsitzender einer Gewerkschaft war, wurde mir die Frage nie gestellt. Fast so, wie mein Bekenntnis zum Glauben als evangelischer Christ, denn auch danach wurde ich zu früheren Zeiten nie gefragt. Erst als ich Mitglied der PDS wurde, sah ich mich immer wiederkehrend der gleichen Frage ausgesetzt und die lautet zugespitzt: „Wie hältst du es mit dem Unrechtsstaat?“ Obwohl ich ebenso konsequent seit 20 Jahren ehrlich und klar darauf antworte, wiederholt sich diese Frage fast rituell immer wieder. Die Fragenden mögen sich wandeln, und die Schärfe an Kommentierungen anschließend mal spitzer und mal lauter oder eher genervt leiser ausfallen, jedenfalls bleibt meine Erklärung dazu genauso gleich, wie die Verurteilung Selbiger immer auf dem Fuße folgt. Meistens geschieht dies sogar durch das Medium, welches mich fragen ließ. Und mein Eindruck wiederholt sich auch immer, dass die Fragen so gestellt werden, weil man weiß, wie die Antwort ausfällt. Ein Ritual halt.

Tatsächlich ist aber zu meiner Freude etwas neu hinzugekommen. Das Wissen über die Person Fritz Bauer, den mutigen Generalstaatsanwalt aus Hessen, ist gewachsen und ein wunderbarer Dokumentarspielfilm „Der Staat gegen Fritz Bauer“ hat seit seiner Entstehung im Jahr 2015 zu einem enormen Zuwachs an Wissen über sein Leben und Wirken geführt. In der Zwischenzeit hatten wir auch die große Fritz-Bauer-Ausstellung im Thüringer Landtag und ein weiterer Dokumentarfilm hat sehr eindrucksvoll das Leben von Fritz Bauer zurück in den öffentlichen Raum geholt. Ich bin glücklich darüber, dass endlich dieser Teil der westdeutschen Geschichte im Nachkriegsdeutschland ebenso dem Vergessen entrissen wurde, wie mit großer Aufmerksamkeit und zu Recht das Unrecht in der DDR immer wieder beleuchtet und auf die Tagesordnung gehoben werden muss. Bevor ich aber im Einzelnen meine Sicht auf die Dinge einordne und mit historischen Fakten verbinde, möchte ich mich allgemeinen Bekenntnisritualen zuwenden.

Die DDR bezeichnete sich selbst als „antifaschistischer Staat“ und zur Staatsdoktrin gehörte wie selbstverständlich der Internationalismus. Buchenwald war in der DDR als Mahn- und Gedenkstätte nicht nur der authentische Ort der Erinnerung an die Gräueltaten des Nationalsozialismus, sondern es war auch ein Ort der praktizierten Bekenntnisrituale. Immer wieder, wenn ich solche Themen anspreche, werde ich dafür in meinem politischen Umfeld kritisiert. Ganz so oder so, wie ich sagen würde, wäre es nun doch nicht gewesen. So sei es doch gut gewesen, die Schulabschlussfahrt oder die Jugendweihefahrt nach Buchenwald durchzuführen, weil man dort doch moralisch gestählt worden wäre, um immun zu sein gegen Neofaschismus. So wünschenswert dies sein mag, so sehr ist das ein Mythos. Die politische Intensität und die Gesamtwirkung des Konzentrationslagers Buchenwald bricht sich spätestens dann, wenn das Speziallager Nr. 2, das die Sowjetunion innerhalb des Konzentrationslagers Buchenwald errichtet hat, unerwähnt bleibt, wo richtige und falsche Nazis interniert wurden. Diese Internierung hatte weder etwas mit Aufarbeitung zu tun, noch sicherte sie ein Mindestmaß an rechtsstaatlichen Standards. Die schrecklichen Ereignisse um die Greußener Jungs sollte man einfach nachlesen und auf sich wirken lassen, wenn man verstehen will, wie schnell und wie leicht es war, einfach Menschen mit der Behauptung anzuschwärzen, sie seien nationalsozialistische Werwölfe. Das allein reichte, um ins Gefängnis bzw. in eins dieser sowjetischen Internierungslager innerhalb der Konzentrationslager verbracht zu werden. Oft endete dieser Weg in einem Lager in Sibirien und meist war den Angehörigen über den Verbleib der Verhafteten nichts bekannt. Bei den Jungs von Greußen reichte die Behauptung und sie verschwanden für Jahre hinter Gittern. 24 von den Jungs von Greußen verstarben und nur 14 kamen erst 1950 wieder frei. Im Zuge der ersten Verhaftungswelle flüchteten 40 Jugendliche in die westlichen Besatzungszonen und konnten sich so vor den willkürlichen Verhaftungen retten. Obwohl schon früh erkennbar war, dass die gesamte Anklage, die erzwungenen Geständnisse komplett auf Lügen basierten und einer der Urheber der Lügen identifiziert werden konnte, hat keiner der Verantwortlichen in Staat und Partei das Unrecht beendet. Wie gesagt 24 verstarben und ihr Leben war verwirkt ohne eine Chance auf Hilfe oder Rettung. Die Denunziation reichte.

Sachsenhausen war ein Ort des Schreckens geworden wie auch das Speziallager Nr. 2 in Buchenwald ein solcher war. Mir, der ich Ende der Achtziger Jahre das erste Mal in Buchenwald war, begegnete dieser Widerspruch erst Anfang der Neunziger, als der Film über die roten Kapos entstand und sich viel Streit darüber entzündete, ob die Autorin Ute Gebhardt als Tochter eines Buchenwald-Häftlings einen solchen Film überhaupt hätte machen sollen. Durch diese Filmarbeiten kam ich auf diesen DDR-Pathos, der mir nicht präsent war. Wenn man entlang der Gedenkstelen vom Glockenturm hinab steigt, findet man die Gedenksteine mit den Nationalangaben der Länder, aus denen die Ermordeten kamen. Es sind die Stellen, an denen die Asche beigesetzt wurde. Jene Asche, die aus den Verbrennungsöfen der Erfurter Ingenieure von Topf & Söhne übrig blieb. An diesen Erinnerungssteinen störte mich dann zum ersten Mal, dass die ethnische und rassistische Mordwelle gegenüber den jüdischen Mitbürgern mit keiner Zeile, mit keiner Schrift und mit keinem Stein gewürdigt wurde. Auf mein Nachfragen wurde mir erläutert, man habe Israel ja nicht erwähnen können, weil zu dem Zeitpunkt der Ermordung habe es ja noch kein Israel gegeben und die Tatsache, als Jude umgebracht worden zu sein, sei ja keine räumliche Zuordnung und deshalb hätte man den jeweiligen Herkunftsländern die Erinnerungssteine gewidmet, aber jüdisch sein sei ja kein Herkunftsland. Diese Sicht mag irgendwie logisch sein, aber ist spätestens dann nicht stimmig, wenn man auf die Tatsache sieht, dass Israel genau aufgrund dieser Verbrechen entstanden ist und beim Entstehen von Israel die Sowjetunion eine nicht unerhebliche Rolle gespielt hat.

Eine zweite Merkwürdigkeit ist in Stein gemeißelt. Wenn man zu den Gedenksteinen geht, kommt man an den Gedenkstelen vorbei, auf deren Rückseite sich Texte aus Gedichten von Johannes R. Becher finden. Diese Gedichtform würdigt den tapferen Kampf der Soldaten in der Sowjetarmee und es stimmt, dass diese Soldaten und die Zivilbevölkerung in der Sowjetarmee schon rein zahlenmäßig die höchsten Opfer und den höchsten Blutzoll leisten mussten, den die nationalsozialistischen Aggressoren, also die Deutsche Wehrmacht und alle ihre Helfershelfer an Mord und Totschlag ausgeübt haben. Wenn aber in Buchenwald in der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte der DDR das Wort Jude oder der Staat Israel nicht sichtbar werden, die Sowjetarmee aber gewürdigt wird und an gleicher Stelle aber die US-Armee, die die Befreiung von Buchenwald vorgenommen hat, ebenso nicht gewürdigt wird, kam mir das doch als ausgesprochen merkwürdig vor. Wie gesagt das waren die Diskussionen Anfang der Neunziger Jahre und es dauerte, bis im Bewusstsein von vielen Menschen ein neuer Blick auf Buchenwald entstanden ist. Buchenwald bleibt der Ort des Grauens und er bleibt der Ort des Bruchs sämtlicher humanitären Regeln. Aber er bleibt auch der Ort der falschen Inanspruchnahme, denn immerhin waren unter den Buchenwaldhäftlingen die größte Anzahl an noch lebenden Kommunisten und eine ebenso große Gruppe von Sozialdemokraten, die sich dem Terror durch kleine und große Maßnahmen entgegengestellt hat. 28.000 Häftlinge waren schon auf Todesmärsche geschickt worden kurz bevor die US-Armee auf das Lager vorrückte und die bewaffneten Häftlinge übernahmen zur selben Zeit die Türme, auf denen vorher immer die verhassten Bewacher rücksichtslos von der Schusswaffe Gebrauch machten. Unmittelbar nach der Befreiung wirkten die Häftlingskomitees von Buchenwald in den umliegenden Dörfern daran mit, zivilgesellschaftliche Strukturen aufzubauen.

Die Häftlingszeitung aus dieser Zeit zeigt eindrucksvolle Belege, mit welcher Kraft und mit welcher Intensität die Häftlinge von Buchenwald die Leitlinien ihres Schwurs von Buchenwald umsetzen wollten. Umso merkwürdiger bleibt es, dass nach der Volkskammerwahl von 1950 die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) als Organisation der Verfolgten des Nazi-Regimes noch 15 Abgeordnete entsenden konnte und schon 1953 die Leitungsgremien der SED die besondere Organisation der VVN zwar nicht verboten hat, aber letztlich auflöste. Im antifaschistischen Staat DDR gab es ab 1953 keine Organisation der VVN mehr, nur noch ein machtloses Komitee der Antifaschisten. Es ist müßig darüber zu grübeln, was denn die moskautreue SED an den Buchenwaldkommunisten gestört hat. Richtig ist aber, dass es Briefwechsel gab zwischen den Buchenwaldhäftlingen in allen vier Besatzungszonen, denn die VVN organisierte sich im gesamten Deutschland und aus diesen Briefen konnte man deutlich zur Kenntnis nehmen, dass sowohl die Gründung der SED durch Zwangsfusion nicht favorisiert wurde und auch alles unterlassen werden sollte, was zur Teilung der Sektoren und damit einer Wiedervereinigung im Weg stehen würde. Möglicherweise waren Überlebende von Buchenwald unangenehme Kronzeugen, wenn es darum ging, die Grundlagen des Schwurs von Buchenwald zur Tagespolitik in ganz Deutschland machen zu wollen. Da hat sich dann doch in der DDR ein sehr instrumentelles Verhältnis herausgeprägt, bei dem der Begriff Antifaschismus über alles gelegt wurde, aber beim genaueren Hinsehen der Prüfung nicht standhält. In Westdeutschland war es zu dieser Zeit genau andersherum. Denn dort versuchte man, gleich alles unter den Teppich zu kehren, damit ja nichts an die NS-Zeit erinnert. Die KZ-Außenstelle von Buchenwald in Stadtallendorf wurde komplett geschleift und erst im Zuge der Schüleraufrufe von Bundespräsident Richard von Weizsäcker erinnerte man sich im Marburger Land daran, dass in Stadtallendorf mörderische Zwangsarbeit in den Munitionsfabriken der NS-Wehrmacht geleistet werden musste. Daran sollte nicht mehr erinnert werden, aber dazu werde ich an anderer Stelle noch einmal ausführlicher Erläuterungen geben.

Wie sehr mich der antifaschistische Bekenntnisstaat stört, möchte ich an zwei weiteren Beispielen erläutern, die jetzt erst in neuerer Zeit deutlicher in die Öffentlichkeit gedrungen sind. Die Kindereuthanasie während der NS-Zeit fand in Stadtroda statt. Im psychiatrischen Klinikum, das bis heute existiert, wurde systematisch Kindereuthanasie betrieben. Das nach NS-Gesetzen unwerte Leben wurde von Ärzten und medizinischem Fachpersonal ausgesucht, um es systematisch zu vernichten. Die Ideologie sah vor, dass der deutsche Volkskörper gesunden würde, wenn man sich diesen lästigen Kranken nicht mehr stellen bräuchte. Genügend Juristen haben mitgemacht, die Gesetze dazu zu schreiben. Und genügend Mediziner und Psychiater waren bereit, willig das umzusetzen. So auch in der Psychiatrie in Stadtroda. Einer der darin aktiv Verstrickten war der deutsch-ägyptische Kinderarzt Prof. Jussuf Ibrahim. Nach ihm waren Straßen und Kindergärten benannt und er war ein großer bedeutender Kinderarzt in der DDR. Erst im Jahr 2000 drang in die Öffentlichkeit vor, wie tief er in das mörderische Regime der NS-Zeit verstrickt war. Ein Riss ging durch die Stadt Jena, weil die einen erschüttert waren, dass sie mit einem anderen Ibrahim sozialisiert wurden, und wieder andere waren erschüttert, dass sie nichts von dem wussten, wie viel Verantwortung er getragen hat. Tatsache ist, dass das Ministerium für Staatssicherheit sämtliche Akten aus Stadtroda gesichert hatte und es zwischenzeitlich dazu auch eine Ausstellung gibt, wie viel in der Nachkriegs-DDR an Kenntnis vorhanden war über Personen und Persönlichkeiten, die man mit ihrer Verantwortung zu Taten in der NS-Zeit nicht mehr konfrontierte.

Ein zweiter Themenkomplex ist das Entjudungsinstitut in Eisenach. Auch hier haben sich die Amtskirchen, die sich am Entjudungsinstitut beteiligt haben, mit viel Schuld tief in das NS-Regime hinein begeben. Auch nach 1990 dauerte es, bis mit einer Schülerausstellung des Luther-Gymnasium aus Eisenach zum ersten Mal die Hintergründe und die Verwicklungen deutlich wurden. Verwundert war ich allerdings, als ich mir die Schülerarbeiten angeschaut habe und feststellen musste, dass die Namen und die Verantwortlichen des Entjudungsinstituts, die Verwicklungen und die Verstrickungen alle dem Ministerium für Staatssicherheit bekannt waren und der Teil, der nicht in den Westen geflüchtet war, unbescholten in der DDR weiter leben konnte. Sie mussten sich offensichtlich zu keiner Zeit ihrer Verantwortung stellen, weder in der Kirche, noch vor DDR-Gerichten. Der eine oder andere war wohl als IM angeworben worden, um in der Kirchenleitung die Abteilung „Horch und Guck“ mit präsent zu haben. Auch hier bin ich froh, dass seit diesem Jahr die große Präsentation und Ausstellung zum Entjudungsinstitut für alle sichtbar vorhanden ist und auch in der Georgenkirche in diesem Jahr endlich die Bibeltexte entfernt wurden, die durch das Entjudungsinstitut über den alten Bibeltexte angebracht wurden. Auch hier war es ein langer Weg, bis der Mantel des Schweigens Ost und West überwunden wurde.

Zum Internationalismus sei noch angemerkt, dass zu dieser Staatsdoktrin selbstverständlich weder Ausländerfeindlichkeit noch Rassismus gepasst hat. Tatsächlich haben aber in den Achtziger Jahren ganz offen agierende Nazigruppen Andersdenkende oder Andersaussehende angegriffen. Der Kriminalpolizeimitarbeiter Bernd Wagner hatte diese Dinge alle für die Partei- und Staatsführung dokumentiert und immer wieder thematisiert. Besonders spannend fand ich, als jemand der jetzt 30 Jahre in Erfurt leben, dass mir niemals die Dinge begegnet sind, die 1975 in unserer schönen Stadt Erfurt passiert sind. Man kann es unschwer bei Wikipedia finden unter „Ausschreitungen in Erfurt 1975“ und es ist klar zu erkennen, dass es ausländerfeindliche pogromartige Ausschreitungen waren, die sich vom 10. bis zum 13. August direkt gegen algerische Vertragsarbeiter ereigneten. Erst wurden diese Vertragsarbeiter geholt, um sie in die Betriebe zu integrieren, denn Arbeit war genug da, aber zu viele Menschen waren gegangen. Diese Algerier wurden dann durch die Erfurter Innenstadt gejagt und mit Eisenstangen und Holzlatten attackiert. Selbst im Angesicht der Ereignisse von Rostock-Lichtenhagen viele Jahre später, haben Erfurter Freunde von mir diese Ereignisse nicht erwähnt. Nicht, weil sie darüber schweigen wollten, sondern weil es überhaupt nicht bekannt war. Gerüchteweise oder da wo Augenzeugen da waren, ja, die hätten es erzählen können. Aber der Sicherheitsapparat der DDR und die Staatsdoktrin taten ihr Übriges, denn es konnte nicht geschehen sein, was nicht sein darf. Insoweit bricht sich der antifaschistische Staat und der vermeintliche Internationalismus an den konkreten Dingen, die man überprüfen kann und bei denen man feststellt, gemessen an dem Tatsächlichen war alles andere nur ein Bekenntnis und die stete Wiederholung ein Bekenntnisritual.

Seit rund 20 Jahren beantworte ich die Frage nach dem Unrechtsstaat DDR immer dahingehend, dass ich betone, dass ich das begangene Unrecht und das erlittene Unrecht in der DDR nie bestritten habe und nie bestreiten würde. Trotzdem verweise ich immer wieder auf den Juristen, der in Deutschland überhaupt erst diesen Unrechtsstaat als juristischen Begriff in die Judikative eingeführt hat. Schon seit 1853 geistert der Begriff hinlänglich durch die politische Debatte. Aber zur juristischen Formel wurde er erst 1963 in Frankfurt/Main. Der Generalstaatsanwalt von Hessen, Fritz Bauer, der als überlebender Jude und Volljurist in Westdeutschland aktiv am Wiederaufbau mitgewirkt hat, dieser Fritz Bauer musste beobachten und erleben, wie um ihn herum das juristische Personal als Richter und Staatsanwälte alltäglich Recht gesprochen haben, obwohl sie tief in der Schuld des NS-Regimes verstrickt waren. Der Mantel des Schweigens sollte über alle Verstrickungen gezogen werden und die berühmten Persil-Scheine waren es, mit den man glaubte, zwischen Schuld und Verantwortung einen Schlussstrich ziehen zu können. Leider blieb dies in der Tradition für mich bis in die Endachtziger Jahre eine ungute Traditionslinie in Marburg. Die Universität Marburg wollte sich weder mit den Taten des Studentenkorps Marburg (StuKoMa) in Mechterstädt/Thüringen auseinandersetzen, noch gab es eine große Bereitschaft, die Mitverantwortung der juristischen Fakultät in die NS-Gesetze und der NS-Spruchpraxis aufzuarbeiten. Die erste Etappe der Aufarbeitung erfolgte so, dass die Namen der involvierten Professoren nicht voll ausgeschrieben in die Veröffentlichungen gehen durften. Vorname und Buchstabe des Nachnamens war die Vereinbarung. Und die Ausstellung zum StuKoMa wurde zuerst an der Fachhochschule Gießen und in Mechterstädt in Thüringen gezeigt, denn so schwer tat und tut man sich mit Schuld, Verstrickung und Verantwortung. Fritz Bauers Name ist eben auch verbunden mit dem Eichmann-Prozess in Israel. Offensichtlich hat Fritz Bauer den deutschen Gerichten nicht getraut und wie er es dann auch in Interviews erzählt hat zu Recht. Als dann Fritz Bauer Namenslisten von Auschwitz-Aufsehern zugespielt wurden, gab es die nächste Runde, um sich der juristischen Aufarbeitung und damit der konkreten Verantwortung zu entledigen. Lediglich der hessische Ministerpräsident Georg-August Zinn (SPD) stärkte Fritz Bauer den Rücken, aber er traf auf den Widerstand von Konrad Adenauer und seinem Chef des Bundeskanzleramtes, Hans Globke. Dass Adenauer, der unter den Nationalsozialisten gelitten hat, sich allerdings über viele Jahre Hans Globke an die Seite geholt hat, quasi als graue Eminenz des Nachkriegswestdeutschlands, bleibt ein merkwürdiger Vorgang, denn dieser Hans Globke war immerhin Mitautor der NS-Rassegesetze und all dem, was mit den schrecklichen Nürnberger Gesetzen an Voraussetzungen geschaffen wurde, um später jüdische Menschen ins Gas zu deportieren.

Da sich aktuell aber auch die FDP an mir abarbeitet und das Thema Unrechtsstaat für sich entdeckt, sollte ich noch erwähnen, dass der Bundesjustizminister von 1962 bis 1965 Ewald Bucher hieß und von der FDP gestellt wurde. Man kann sich fragen, was die Freien Demokraten 1962/63 getan haben, um Fritz Bauer zu unterstützen, oder ob sie es wie Adenauer gehalten haben, es lieber mit dem Mantel des Schweigens zu überdecken. Wie auch im Übrigen erwähnt sei, dass am 11. August 1990 die DDR-Blockpartei LDPD in die FDP aufgegangen ist und damit die heutige FDP ebenso rechtsidentisch für eine Blockpartei einstehen müsste.

Zurück zu Fritz Bauer, denn der Auschwitz-Prozess 1963 begann unter schwierigsten Umständen. Fritz Bauer sagte in einem Interview, dass immer, wenn er sein Amtszimmer im Gericht verlassen hat, er sich ins feindliche Ausland begeben habe. Die Richterkollegen um ihn herum waren nicht gewillt, offensiv an die Aufarbeitung und Wahrheitssuche heranzugehen. Er selber hat sich als jüdischer Bürger für befangen erklärt, damit ihm keine Rachsucht angedichtet werden kann und daraus Anfechtungsgründe für die Prozesse entstehen könnten. In diesen Prozessen wurde zum ersten Mal der juristische Begriff „Unrechtsstaat“ geprägt und von diesem juristischen Begriff spreche ich immer wieder, wenn ich mich verweigere, den Begriff allgemein und ohne Rückbindung auf Fritz Bauer verwenden zu sollen.

Bevor Fritz Bauer den juristischen Begriff Unrechtsstaat in den Auschwitz-Prozess erfolgreich einbringen konnte, gab es 1945 einen aufsehenerregenden rechtsphilosophischen Beitrag, den Gustav Radbruch verfasst hatte. Die Grenze zwischen Recht und Nichtrecht bzw. die Differenz zwischen Gerechtigkeit und rechtlichen Anordnungen, die lediglich Machtansprüchen dienen, wurde darin debattiert. Daraus entstanden ist die Radbruchsche Formel und auch diese führt immer wieder zu neuen Debatten. Zuletzt ist die Radbruchsche Formel bei den sogenannten Mauerschützenprozessen angewandt worden und hier ging es darum, die Differenz zu erarbeiten zwischen heutigem Recht in der Bundesrepublik Deutschland und dem geschaffenen Recht in der DDR, bei dem allerdings auch das sogenannte Rückwirkungsverbot mit zu betrachten war. Man mag mir vorhalten, dass dies alles rechtsphilosophische Betrachtungen wären, aber wenn wir ein demokratisch verfasster Rechtsstaat sind, sollten wir darauf achten, dass wir nicht politisch opportune Begriffe so anwenden, dass am Ende rechtsstaatliche Prinzipien dabei aufgegeben werden. Würde man den juristischen Begriff von Fritz Bauer anwenden können in Bezug auf die DDR als real existierender Staat, also auf eine Rechtsentwicklung, die sich 40 Jahre lang innerhalb der Diktatur des Proletariats, wie sich die DDR selbst definierte, dann müssten die Menschen, die bis heute unter Unrecht der DDR leiden, doch eigentlich mit dem so leicht über die Lippen gehenden Begriff des Unrechtsstaates endlich zu ihrem Recht kommen.

Dazu will ich Ihnen ein paar Beispiele erläutern. Die Eltern von zwangsadoptierten Kindern in der DDR erhalten bis heute die Adoptionsakten ihrer Kinder nicht ausgehändigt. Bis heute wissen sie nicht, wo ihre Kinder sind und die Kinder wissen nicht, dass die leiblichen Eltern leben. Diese Zwangsadoptionen sind aber nicht über das Ministerium für Staatssicherheit und deswegen nicht über Stasiakten ausfindig zu machen, sondern sie sind über eine perfide Methode der Rechtsverdrehung erfolgreich zur Anwendung gekommen. Eltern, die möglicherweise Republikflucht begehen wollten und sich in die Nähe der Grenze begaben, wurden unter anderem mit dem § 249 StGB der DDR verurteilt. Dieser § 249 StGB der DDR ist der sogenannte „Asozialenparagraph“ und im Jahr 1973 etwa gab 14.000 Verurteilungen über diesen Paragraphen. Wollte also eine Familie flüchten und kam zwei oder drei Tage nicht zur Arbeit, wurde dann aber erwischt, wurde alleine diese Arbeitsbummelei mit dem Asozialenparagraphen belegt und die strafrechtliche Verurteilung erfolgte. Auf dieser Basis wurden dann Zwangsadoptionen begründet.

Ein zweites Beispiel möchte erläutern, denn auch da geht es um begangenen und erlittenes Unrecht und der Rechtsetzung in der DDR. Bei den Aktionen „Kornblume“ und „Ungeziefer“ wurden willkürlich Menschen im Grenzgebiet der DDR-Staatsgrenze aus ihren Häusern vertrieben. Dramatische Szenen, die sich in kleinen Dörfern oder in einzelnen Gehöften abspielten. Familien, die über Generationen in diesen Häusern gelebt haben, sahen sich konfrontiert mit LKW’s, die in der Regel mitten in der Nacht kamen, und von Männern, die dann anfingen, das gesamte Mobiliar auf die LKW’s zu verladen. Allein die beiden Decknamen machen deutlich, wie zynisch dieser Vorgang zu bewerten ist, denn diesen Menschen das Wort Ungeziefer zuzuordnen, entspricht original dem NS-Sprachgebrauch. Diese Menschen wurden ins Landesinnere gebracht und an den Orten, wo man die LKW’s wieder ablud, hatte man Wochen vorher schon den Nachbarn erzählt, dass es sich um lichtscheues Gesindel handelt, die mit dem Gesetz über Kreuz liegen würden. Diese Stigmatisierung wirkt bis heute fort. Auf Basis dieser Zwangsmaßnahmen wurde dann ein Rechtsverfahren eingeleitet, auf dem die Häuser in der mildesten Form zwangsverwaltet und in der schärferen Form enteignet wurden. Die Menschen, die im Grundbuch eingetragen waren, bekamen nach den Entschädigungsregeln der DDR eine Summe zuerkannt, die nach den Regeln der DDR natürlich in keinerlei Relation zum eigentlichen Wert stand und nach 1990, als die Menschen versuchten ihr Eigentum wieder zurück zu bekommen, erlebten sie auf einmal, dass die DDR-Rechtsetzung als Grundlage für die Neuberechnung von möglichen Entschädigungen zugrunde gelegt wurde. In einer weiteren Fallkonstellation wurden damit sogar höhere dreistellige Millionenbeträge neu zugeordnet. Die sogenannten Mauergrundstücke in Berlin waren natürlich zwischenzeitlich Millionenvermögen und darum entwickelte sich ein riesiges Gezerre. Offenkundig wollten genügend Interessenvertreter an diesen Mauergrundstücken partizipieren. Bei den Zwangsausgesiedelten war es aber so, dass sie meistens ihr eigenes Eigentum nicht zurück bekamen oder die Häuser im Zuge der Grenzsicherung längst abgerissen waren.

Bei beiden Fallkonstellationen, den Eltern der Zwangsadoptierten und den Zwangsausgesiedelten bzw. deren Erben, also Kinder und Enkel, wird deutlich, dass die DDR-Rechtsetzung bis heute fortwährt. Unter dem Deckmantel der enteigneten Mauergrundstücke wurden sogar Millionenbeträge in den Neunziger Jahren neu verteilt. Die Eltern der Zwangsadoptierten und die im Verband der Zwangsausgesiedelten zusammengeschlossenen Personen kämpfen seit Jahren für die Wiederaufnahme ihrer Verfahren bzw. die Herausgabe der Adoptionsakten und für eine Neubewertung des erlittenen Unrechts. Alleine bei diesen zwei Fallkonstellationen wird deutlich, wie einfach es wäre, wenn denn tatsächlich der juristische Begriff Unrechtsstaat zur Anwendung kommen würde. In jedem Fall müssten die auf DDR-Rechtsetzung basierenden Normen aufgehoben werden und nach aktuell geltendem gesamtdeutschen Recht zu neuen Verfahren und in jedem Fall zu neuen Bewertungen führen.

Für mich ist es deshalb umso verwunderlicher, wie schnell ich aus konservativ oder liberaler Ecke angegriffen werde, wenn ich das Thema juristische Formel Unrechtsstaat thematisiere und die gleichen, die mich angreifen, ohrenbetäubend schweigen, wenn es um das begangene Recht der Eltern der Zwangsadoptierten und der Zwangsausgesiedelten geht. Hier hätte ich mir fünf Jahre lang ebenso lautstarke Mitstreiter gewünscht, damit den Menschen, um deren Schicksal es geht, die tatsächlich Unrecht in der DDR erlitten haben, nicht mit dem heutigen westdeutschen Recht gehindert werden, ihr Unrecht aufgearbeitet zu bekommen. Das Adoptionsrecht der Bundesrepublik Deutschland, in welches dann die neu gegründeten Bundesländer nach Artikel 23 Grundgesetz übergewechselt sind, hindert eben heute die Eltern daran, an die Adoptionsakten ihrer Kinder zu kommen. Und der Verband der Zwangsausgesiedelten erlebt immer wieder, entweder milde belächelt zu werden, oder gar den Hinweis, dass doch alles juristisch geklärt sei. Für diese betroffenen Menschen muss die Debatte um den Unrechtsstaat DDR seltsam zynisch erscheinen, wenn das Unrecht, was sie oder ihre Angehörigen erlitten haben, nicht einmal aufgearbeitet und neu bewertet wird.

Es gibt sogar rechtliche Übergangsprobleme, die mit dem Einigungsvertrag zementiert worden sind und auf ganz unspektakuläre Art und Weise im DDR-Rechtssystem entstanden sind. Die Frauen, die Ende der Achtziger Jahre ihre Scheidung eingereicht haben und vor 1990 auf gültigem DDR-Recht ein Scheidungsurteil bekamen, erlebten nach dem Beitritt in die Bundesrepublik, dass der Rentenausgleich auf Basis des DDR-Rechtes zu vollziehen ist, obwohl der Rentenfall wesentlich in der Bundesrepublik Deutschland eintritt. Ebenso gab es Ehefrauen, die hart und intensiv in den eigenen Familienbetrieben gearbeitet haben. Die sogenannten mithelfenden Ehefrauen waren in DDR-Recht rentenberechtigt für die erarbeiteten Ansprüche des Familienbetriebes. So eine Konstruktion gab und gibt es in Westdeutschland nicht. Auch diese Frauen mussten erleben, dass sie am Beitrittstag noch einen gültigen DDR-Rechtsanspruch hatten, der am Tag des Beitritts im westdeutschen Recht untergegangen ist. Man kannte solche Fallkonstellationen nicht. Deswegen gab es auch keine Regelungen dafür. 30 Jahre später erleben sowohl die mithelfenden Ehefrauen, als auch die DDR-Geschiedenen, dass sie entnervt und ohnmächtig zuschauen müssen, wie ihre Ansprüche immer wieder als berechtigt angesehen werden, aber leider leider nach westdeutschem Recht keine Gerechtigkeit hergestellt werden könnte. An dieser Stelle müsste es eine politische Entscheidung geben, denn Rechtsüberleitungen sind eben nicht ohne Tücken.

Hier lässt sich die Radbruchsche Formel im Allgemeinen und im Speziellen noch einmal erwähnen. Wenn man sich deshalb bei dem Werturteil über die DDR politisch verständigen möchte, dass sie „ein Unrechtsstaat“ gewesen sei, dann muss man mir zugestehen, dass ich mir treu bleibe, wenn ich mich weigere, dieses politische Werturteil nicht juristisch übertragen zu wollen. Der juristische Begriff Unrechtsstaat ist in keinem der von mir aufgezählten Fälle und Fallkonstellationen jemals zur Anwendung gekommen. In den Mauerschützenprozessen kam es letztlich zu einer Verurteilung wegen Totschlags und in der Regel wurde nie die gesamte Befehlskette mit allen Befehlsträgern verurteilt, sondern eher der Schütze, der als uniformierter Grenzsoldat der sogenannten Vergatterung gefolgt ist und damit den „Grenzdurchbruch“ mit gezielten Schüssen unterbinden sollte. Hier war der gezielte Todesschuss oder der in Kauf genommene Todesschuss immer einbegriffen und deshalb habe ich auch in diesem Fall immer wieder bezweifelt, ob es wirklich den schriftlichen Schießbefehl gab oder ob schon die Vergatterung ausreichend war, um die Grenzsoldaten permanent unter Befehlsdruck zu halten, mit der entsprechenden Wirkung, dass so viele Menschen erschossen wurden, nur weil sie den Versuch unternahmen, eine Grenze zu überschreiten. Auch dieses Unrecht habe ich nie bestritten, da es diesbezüglich für mich nichts zu bestreiten gab.

Wurden in der DDR die Termini „antifaschistischer Staat“ und „Internationalismus“ als Bekenntnisritual gepflegt, so muss man kritisch hinterfragen, ob dieses Bekenntnis jemals gerechtfertigt war. Seit einigen Tagen bekomme ich aber auch immer wieder den Einwand, das NS-Rechtssystem sei ja ebenso nicht aufgehoben worden und bestimmte NS-Gesetze würden ja bis heute noch fortgelten. Diesen Einwand kann ich nicht entkräften, denn am Beispiel der nach NS-Militärgerichtsbarkeit zu Recht zum Tode verurteilten Deserteure haben wir im Deutschen Bundestag einen langen und zähen Kampf geführt, bis endlich diese Urteile aufgehoben wurden. In meiner Zeit als Gewerkschaftsvorsitzender war ich im Ehrenamt auch Vorsitzender des Kulturvereins „Mauernbrechen“. Mit dem Kulturverein „Mauernbrechen“ hatten wir uns bemüht, mit vielen jungen Leuten gemeinsam, das Denkmal des unbekannten Wehrmachtdeserteurs am authentischen Ort in Erfurt am Petersberg zu errichten. Die Todesurteile der Deserteure sind ein Menetekel der Bundesrepublik Deutschland und nach einer intensiven Auseinandersetzung gelang es, sowohl das Denkmal zu errichten, als auch später im Bundestag endlich diese Urteile aufgehoben zu bekommen. Diejenigen, die aber im Strafbataillon 999 waren, schwiegen auch in der DDR und das gemeinsame Reden begann erst, als wir angefangen haben, sowohl die eine als auch die andere Schönfärberei zu durchdringen.

Aus all diesen Gründen habe ich gemeinsam mit Astrid Rothe-Beinlich von BÜNDNIS 90/Die Grünen für den Koalitionsvertrag eine ausführliche Textpassage erarbeitet, die LINKE, SPD und Bündnis 90 / Die Grünen in den Koalitionsvertrag aufgenommen haben.

„Für Bündnis 90/die Grünen und die SPD als Parteien, die in und aus der Bürgerrechtsbewegung der DDR hervorgegangen sind, ebenso wie für die Partei DIE LINKE ist die Aufarbeitung der SED-Diktatur in all ihren Facetten weder über-flüssig noch rückwärtsgewandt. Dabei geht es um eine demokratische Kultur von morgen. Für eine Aufarbeitung in die Gesellschaft hinein ist es von Bedeutung festzuhalten: die DDR war eine Diktatur, kein Rechtsstaat. weil durch unfreie Wahlen bereits die strukturelle demokratische Legitimation staatlichen Handelns fehlte, weil jedes recht und jede Gerechtigkeit in der DDR ein Ende haben konnte, wenn einer der kleinen oder großen Mächtigen es so wollte, weil jedes recht und jede Gerechtigkeit für diejenigen verloren waren, die sich nicht systemkonform verhielten, war die DDR in der Konsequenz ein Unrechtsstaat. daraus erwächst besondere Verantwortung. wir vereinbaren deshalb engagierte, auf lange Sicht angelegte Projekte der politischen Bildung, in denen die Vergangenheit der DDR vielfältig und beispielhaft für die gesamte Bundesrepublik aufgearbeitet wird. dabei geht es um eine politische Bildung insbesondere mit dem Ziel der Bildung zur Demokratie. das ist nicht gleichbedeutend mit der Herabwürdigung von Biografien, allerdings hat sich jedes Leben in der DDR eben dort abgespielt und nicht im luftleeren Raum. wir müssen die enge Sichtweise, hier Täter – immer gleichbedeutend mit einer zusammen- oder Mitarbeit im Ministerium für Staatssicherheit – und dort Opfer, die nur Opfer sind, wenn sie z.B. inhaftiert waren, erweitern. vielmehr geht es um eine konsequente und schonungslose Aufarbeitung der Alltagsdiktatur. nur so kann Aufarbeitung im gesellschaftlichen Rahmen gelingen, nur so lässt sich für heute daraus lernen. nicht nur die heute gut dokumentierte Einflussnahme der Staatssicherheit, die „Schild und Schwert der SED“ war, auf den Lebensweg und die Freiheit eines Einzelnen Menschen, sondern die unerträgliche Einflussnahme in alle Bereiche des Lebens in der DDR durch den von der SED geführten Staat, wollen wir aufarbeiten. die ostdeutsche Friedensbewegung, Umwelt- und Bürgerbewegungen, kirchliche Gruppierungen sowie die 1989 wieder gegründete, zuvor von der SED unterdrückte und verfolgte Sozialdemokratie haben entscheidend zur friedlichen Revolution in der DDR beigetragen.“

Diese Formel heißt nicht, dass wir den juristischen Begriff Unrechtsstaat verwenden, sondern diese Formel heißt, dass wir aus dem erlittenen Unrecht der Menschen verstehen können, warum die Ableitung aus dem erlittenen Unrecht zu der politischen Wertung Unrechtsstaat führt. Diese Textpassage habe ich persönlich mit erarbeitet und bin aus tiefstem Herzen überzeugt, dass dieses Vorgehen richtig ist. Anzuerkennen, was Menschen empfinden, und die Empfindung des Unrechtsstaates ist für jeden, der Unrecht erlebt hat, eine sehr lebendige Empfindung. Die Form allerdings, wie das empfundene Unrecht instrumentell benutzt wird, ist das was ich kritisiere und warum ich mich verweigere, den juristischen Begriff zu übernehmen, da sich die Bundesrepublik Deutschland weigert, heute, 30 Jahre nach der Grenzöffnung, bestehendes Unrecht aufzuheben. An diesem konkreten, immer noch fortwirkenden Unrecht muss man aber auch den Unrechtsstaatsbegriff messen. Die Eltern der Zwangsadoptierten, die Familien der Zwangsausgesiedelten, aber auch die geschiedenen und die mithelfenden Ehefrauen würden sich wünschen, wenn der Chor derer, die so laut von mir abverlangen, dass ich endlich das Bekenntnis ablegen soll und das Wort Unrechtsstaat als universellen Begriff für die DDR anwenden soll, wenn dieser Chor genauso laut dafür kämpfen und streiten würde, dass das konkrete Unrecht aufgehoben wird.

Und was den Umgang mit dem Unrecht der DDR anbetrifft, so geht es auch hier darum, dass wir uns konkret mit den Opfern und ihren Schicksalen befassen und für Aufklärung sorgen. So habe ich mich persönlich um die Aufklärung des Schicksals vom Matthias Domaschk bemüht, der 1981 in Stasihaft in Gera ums Leben gekommen war. Die genauen Umstände seines Todes konnten auch wir nicht aufklären aber niemand wird ernsthaft bestreiten, dass er ein Opfer von Unrecht und Diktatur wurde, dem unser Gedenken gelten muss. Und auch auf anderen Bereichen war und ist die Landesregierung tätig, etwa zum Thema „Umgang mit Christinnen und Christen in der DDR“. All das geht über bloße Bekenntnisse weit hinaus und wird auch von den Verbänden und Betroffenen durchaus anerkannt.

Ich plädiere für eine Beendigung der Bekenntnisrituale und für eine Schärfung der Begriffe, denn Sprache ist nie ohne den Kontext der konkreten Dinge auszudeuten. Mit Sprache schafft man auch Kontexte, obwohl sie einer konkreten Überprüfung nicht standhalten. Deshalb erinnert mich die Debatte an Wilhelm Tell von Friedrich Schiller.

Und ja, auch dieses Jahr verweigere ich mich dem Gesslerhut.