Am Ort des Hamas-Massakers

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Das Nova-Festivalgelände im Süden Israels ist heute ein Ort des Gedenkens. Hier, an diesem Platz, an dem junge Menschen tanzten, feierten und das Leben genossen, begann am Morgen des 7. Oktober 2023 eines der grausamsten Kapitel der jüngeren israelischen Geschichte. Mehr als 360 Besucherinnen und Besucher des Festivals wurden von Hamas-Terroristen ermordet, mitten im Augenblick der Unbeschwertheit.

Jetzt stehe ich hier, auf diesem Boden, und spüre die Schwere des Ortes. Ich bin mit dem Bus von Jerusalem durch die Negev-Wüste gefahren. Auf der Landkarte sehe ich, wie nah Gaza liegt. In der Ferne erkenne ich die Ruinen der zerstörten Stadt. Ich höre dumpfe Geräusche, die an Maschinengewehre erinnern, und über mir kreisen Hubschrauber. Alles wirkt gleichzeitig real und unwirklich. Ich denke an das SonneMondSterne-Festival in Saalburg, an die Tausenden, die dort gemeinsam feiern. Und ich versuche mir vorzustellen, was geschehen wäre, wenn mitten in dieser Feier plötzlich bewaffnete Männer aufgetaucht wären, um alles, was sich bewegt, zu töten, zu vergewaltigen, zu vernichten. Dieser Gedanke lässt sich kaum ertragen. Die Augenzeugenberichte aus dem Film „Scream Before Silence“, der am 7. Oktober dieses Jahres im Bundestag gezeigt wurde, sind mir noch im Gedächtnis: die Stimmen der Frauen, die das Massaker überlebt haben, ihre Beschreibungen des Unvorstellbaren. Jetzt stehe ich an dem Ort, an dem all das geschah und begreife, dass das, was ich zuvor nur durch Augenzeugenberichte gehört oder durch deren Beschreibungen begriffen hatte, tatsächlich geschehen ist.

Gestern Abend habe ich auf dem Berg Zion vier Beduinen den Mount-Zion-Friedenspreis überreicht. Vier Cousins, Muslime aus der Nachbarschaft, die an jenem Tag ihr eigenes Leben riskierten, um andere zu retten. Sie wollten ihren Cousin vom Nova-Festival abholen, doch als sie erkannten, was geschah, zögerten sie nicht und holten 40 junge Menschen aus dem Massaker und retteten damit ihre Leben. Es spielte für sie keine Rolle, ob es Juden, Christen, Muslime oder Atheisten waren. Sie sahen Menschen in Not und halfen. Erst später erfuhren sie, dass ihr Cousin bereits an einem anderen Ort in Sicherheit war und dort holten sie ihn dann auch noch ab.

Nun stehe ich hier zwischen den Fotos der Getöteten, lachende Gesichter, Kinderbilder, tanzende junge Menschen. Angehörige haben diesen Ort in einen Platz der Erinnerung verwandelt. Zwischen den Bildern wächst ein Wald, Baum um Baum, jeder einem Opfer gewidmet. Schon auf der Fahrt hierher sahen wir an den Straßen Keramik-Anemonen, Symbole des Gedenkens. Jede einzelne steht für einen getöteten Menschen. Man spürt: Das war kein isoliertes Ereignis, sondern ein Angriff, der Israel tief ins Herz getroffen hat, ein Trauma, das dieses Land bis heute prägt. Ich habe gestern mit Mitgliedern der jüdischen Gemeinde gesprochen, die ich vor 17 Jahren zum ersten Mal besucht habe. Ich fragte, ob Versöhnung oder Vergebung im Moment überhaupt denkbar seien. Die Antwort war ehrlich, wenn auch schmerzhaft: „Unser Herz ist voller Schmerz, und wir haben im Moment keinen Platz für den Schmerz der Anderen.“ Erst wenn auch die letzten Körper der getöteten Geiseln bei ihren Familien seien, könnte man anfangen zu hoffen.

Am Abend sprach ich mit den Beduinen. Sie erzählten, wie sehr sie das Leid der jüdischen Familien empfinden und zugleich den Schmerz über die vielen zivilen Opfer in Gaza, die seit Beginn des Krieges getötet wurden. Ich begegne auch radikalen Siedlern und ultraorthodoxen Juden, die sich voller Wut und Aggressivität zeigten. Die Mönche, mit denen ich unterwegs bin, erzählen, dass das vor die Füße spucken auf der Straße noch das Harmloseste sei, was ihnen auf dem Weg zur Abtei passieren würde. Provokant hängt an einem Gebäude ein riesiges Transparent mit der Aufschrift: „Make Gaza Jewish Again“. Die Stimmung in Jerusalem ist spürbar härter geworden. Angst, Misstrauen, Verzweiflung liegen über der Stadt.

Hier, auf dem Festivalgelände, denke ich an die Gegensätze dieses Landes: an religiöse Strenge und säkulare Freiheit, an Tradition und Moderne, an Menschen, die nach festen Regeln leben, und andere, die sich nach Offenheit und Selbstbestimmung sehnen. Auch diese Freiheit, diese Vielfalt, diese Offenheit waren Ziel des Hasses. Das Massaker richtete sich nicht nur gegen Menschen, sondern gegen ein Lebensgefühl, gegen eine Gesellschaft, die Raum lässt für alle, auch für queere, nicht-konforme, selbstbestimmte Lebensweisen. Darum ist dieses Verbrechen mehr als ein Angriff auf Israel. Es war ein Angriff auf die Idee eines freien, friedlichen Zusammenlebens. Ich sehe junge Soldaten mit Maschinenpistolen im Anschlag, Soldaten am Straßenrand mit riesigen Rucksäcken. Über uns kreisen Hubschrauber, aus der Ferne dröhnt das Grollen aus Gaza. Es ist eine beklemmende, aufgewühlte Szenerie. Dieses Land, das so dringend Frieden braucht, trägt eine offene Wunde und diese Wunde wird noch lange schmerzen.

Mich erfasst tiefe Trauer, bei jedem einzelnen Gesicht, auf den Fotos, das ich hier sehe. Ich wünsche mir, dass auch in Deutschland diese Gesichter gesehen werden. Es darf nicht darum gehen, sich auf eine Seite zu stellen. Es geht darum, sich auf die Seite des Friedens zu stellen und jedem zu widersprechen, der glaubt, mit Hass und Gewalt ließen sich Probleme lösen. Denn Gewalt schafft keine Lösungen. Sie hinterlässt nur neue Wunden, neue Spiralen aus Hass, Schmerz und Vergeltung. Die Menschen, die hier ermordet wurden, mahnen uns zum Hinschauen, zum Mitfühlen und zum Handeln für den Frieden.