Wie Schüler:innen ein vergessenes Stück Nazi-Geschichte zurückholen – die Erinnerungslücke KZ Ohrdruf

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Über meinen Besuch beim Gymnasium Gleichense am 27.05.2025 in Ohrdruf:

Dass sich im thüringischen Ohrdruf, im Landkreis Gotha, ein Außenlager des KZ Buchenwald befand und dort über Zehnttausend Menschen Zwangsarbeit nachgehen mussten – das wissen viele nicht. Man könnte meinen, es läge an mangelndem Interesse an deutscher Geschichte und deren Nazivergangenheit. Aber nein. Kaum jemand hatte bisher die Möglichkeit etwas über das Außenlager unter dem Decknamen S III zu erfahren. Denn es gibt keine Gedenkstätte, keinen Erinnerungsort, kein sichtbares Überbleibsel. Lediglich eine Hinweistafel auf dem ehemaligen KZ-Gelände, heute Truppenübungsplatz der Bundeswehr, der aber aufgrund der heutigen Nutzung nicht einmal öffentlich zugänglich ist.

Ende Mai besuchte ich das historische Gymnasium Gleichense in Ohrdruf. Eine der ältesten Schulen Deutschlands, die 1564 gegründet wurde. Zwei Schülerinnen des Gymnasiums stellten mir dabei ein Projekt vor, an dem sie seit längerem mit ihrer AG arbeiten. Denn sie haben sich dem Problem angenommen, das vergessene Arbeitslager Ohrdruf wieder ins kollektive Gedächtnis zurückzubringen.

Das Außenlager des KZ Buchenwald teilte sich in ein Nord- und ein Südlager bei Ohrdruf, einer Luftmunitionsanstalt in Crawinkel sowie ein Zeltlager bei Espenfeld im Ilm-Kreis auf. Die Häftlinge verrichteten Schwerstarbeit von bis zu 14 Stunden täglich in einer Stollenanlage im Jonastal. Um den anonymen Menschenmassen Namen und somit eine Identität zu geben, sichteten die Schüler:innen alte Dokumente von damaligen Inhaftierten. Sie digitalisierten und machten Namen ausfindig, von denen schon lang niemand mehr etwas gehört hatte. Die Dokumente stammten aus den Arolsen Archives, ein Dokumentationszentrum mit dem weltweit größten Archiv zu Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus. Unter dem Hashtag „everynamecounts“ können Papiere, die Verbrechen der Zeit des Nationalsozialismus dokumentieren, von freiwilligen Unterstützer:innen digitalisiert werden. Der erste Schritt im Prozess des Erinnerns war getan.

Damit bloße Namen zu vorstellbaren Personen mit Gesichtern werden konnten, schufen die Schüler:innen unter Anleitung ihrer Kunstlehrerin Saskia Benger-Neumann, in Zusammenarbeit mit Dr. Christoph Mauny von der renommierten Weimarer Mal- und Zeichenschule und dem Künstler Karsten Kunert Masken, die sie mit Hilfe von Beton in Form gossen. Gesichter, die nun stellvertretend für das Leid und das Vergessen um das Arbeitslager Ohrdruf stehen.

Der nächste Schritt bestand nun darin, einen Ort des Erinnerns im öffentlichen Raum zu schaffen. Ihr Plan: Gedenkstelen an allen Standorten des ehemaligen KZ Ohrdruf, die gemeinsam einen „Pfad des Gedenkens“ bilden. Das Ziel eines Skulpturenpfads lag aber nicht nur in den Händen der Engagierten, sondern hing und hängt auch maßgeblich vom Wohlwollen des jeweiligen Stadtrates ab. Die Schüler:innen präsentierten ihr Projekt dem Stadtrat Ohrdruf. Dieser genehmigte die Aufstellung, sodass zusammen mit dem Bauamt der Stadt fünf Gedenkstelen mit Sockel und gegossenem Gesicht auf dem heutigen Truppenübungsplatz aufgestellt werden konnten. Der Pfad soll sich von Ohrdruf, Crawinkel über das Jonastal nach Espenfeld erstrecken. An jedem geplanten Gedenkort können mittels QR-Code Informationen zum Projekt, zu den Arolsen Archives und dem Lernmodul „Suspekt“ für virtuelle Rundgänge durch Schauplätze der Nazivergangenheit abgerufen werden.

Es ist eine unglaubliche Leistung, die hier von den Schülerinnen und Schülern erbracht wird. Sie wurden zu Historiker:innen, Nachforscher:innen, bildenden Künstler:innen und Bauarbeiter:innen. Hier zeigt sich, wie deutsche Erinnerungskultur, ein Blick vor die eigene Haustür und Einbindung digitaler Hilfsmittel ineinandergreifen. Junge Menschen machen sich in dem kleinstädtischen Ohrdruf ein Stück grauenvoller Geschichte erleb- und verarbeitbar. Ein Stück Geschichte, das maßgeblich mit der Vergangenheit ihrer Stadt, in der sie aufwachsen, zur Schule gehen und in der sie wirken, zusammenhängt. Schulleiter Stephan Marschner ist zu Recht stolz und fasste bei meinem Besuch am Gymnasium Gleichense passend zusammen, dass „Schule eben nicht nur nach innen, sondern auch nach außen wirken kann. Dafür ist dieses Projekt das beste Beispiel“.

Ich bin von der immensen Arbeit und dem Durchhaltevermögen der jungen Menschen beeindruckt und möchte bei den engagierten Schüler:innen für ihre Erinnerungsarbeit ausdrücklich bedanken. Ich unterstütze Euch gern auf Eurem weiteren Weg.

Weitere Links zum Nachlesen:

https://www.friedensteine.de/artikel/deutsche-erinnerungsluecke-kz-ohrdruf

https://www.buchenwald.de/geschichte/themen/dossiers/ohrdruf

https://www.gymnasium-gleichense.de/erfolgreicher-auftakt-fuer-das-kunstprojekt-pfad-des-gedenkens-des-gymnasium-gleichense-in-ohrdruf-bei-der-gedenkveranstaltung-zum-80-jahrestag-der-befreiung/

https://arolsen-archives.org/news/eine-blume-fuer-benedek-satori/