Time to Say Goodbye
Der Morgen beginnt mit einer Nachricht, die ich erst mal verdauen muss. Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich vor 35 Jahren angefangen habe, die Gewerkschaftsarbeit in den neuen Bundesländern aufzubauen, gehen. Die Nachricht aus Berlin, das Kollege Manfred Müller verstorben sei, lässt mich erst mal innehalten. Manfred hat für die neuen Bundesländer die Tarifverhandlungen koordiniert, die den gesamten Einzelhandel der neuen Bundesländer zusammengefasst hat. Die gemeinsame Zielstellung aller Landesverbände der HBV war, dass wir den Einzelhandel in Ostdeutschland auf eine strategische Richtung ausrichten, so dass die Tarifverhandlungen sich an den alten Bundesländern orientieren konnten. Es ging also um eine strategische Herangehensweise, um aus dem alten Regelwerk des Rahmenkollektivvertrages der DDR eine Überleitung zu finden, die den Einzelhandel in das Tarifsystem der gesamten Bundesrepublik Deutschland überführt. „Angleichung-West“ hieß das Unternehmen und 100 % mit der Zielstellung gleicher Lohn für gleiche Arbeit.
Was sich aus heutiger Sicht selbstverständlich anhört, war damals ein ziemlicherkraftakt. Die ersten Tarifverhandlungen in der noch bestehenden DDR, führte ich in Erfurt in der Gaststätte Kleiner Venedig – und es war eine Premiere. Eine völlig neue Situation, denn die damaligen Arbeitgebervertreter waren alles noch Beschäftigte der Handelsorganisation HO Und wenige kleine private Einzelhändler. Daraus entstand dann gemeinsam mithilfe von Manfred Müller, der damals der Landesleiter des Landesverbandes Berlin war und der damit in Westberlin auch für Ostberlin zuständig war, eine Tarifgemeinschaft, bei der auf der Arbeitgeberseite Nils Busch-Petersen sehr engagiert dafür gesorgt hat, dass die Arbeitgeberseite sich zusammenschloss und wir auf der Gewerkschaftsseite ebenfalls. Der Auftakt dieser Tarifverhandlungen, die alle neuen Bundesländer zusammengeschlossen hat, fand dann in Thüringen statt. Im Ringberghaus oberhalb von Suhl genannt auch die „Runkel Rübenburg“ oder wie immer sie im ostdeutschen Sprachgebrauch von den Einheimischen benannt wurde. Dort fanden die Tarifverhandlungen für alle neuen Bundesländer im Bereich des Einzelhandels statt. Zwei von diesen damals sehr engagierten Akteuren sind in den letzten Tagen gestorben: Bernd Fritze, der für Mecklenburg-Vorpommern zuständig war und Manfred Müller aus Berlin, der vor wenigen Stunden verstorben ist.
Im Ringberghaus in Suhl haben wir Standards gesetzt. Der Pressetross war in den ersten Sitzungsterminen sehr groß und die Berichterstattung war deutschlandweit eine sehr starke, denn wir haben Pionierarbeit gemeinsam geleistet. Günther Waschkuhn, der Landesleiter von Brandenburg, hat heute Morgen mir die Nachricht übermittelt, dass leider nun auch nach dem Tod von Bernd Fritz, Manfred Müller friedlich eingeschlafen ist. Manfred hat in einem anderen Engagement auch noch Pionierarbeit geleistet. 1994 war er mir viele Schritte voraus, denn er kandidierte für die bunte Liste von Gregorg Gysi als parteiloser Gewerkschaftsvertreter für die PDS zum Deutschen Bundestag. In dem Wahlkreis, den Gesine Lötzsch lange als Bundestagsabgeordnete vertreten hat, war er der Vorgänger von Gesine und hat tatsächlich 1994 das Direktmandat in Hohenschönhausen für die PDS errungen. Damit war Manfred Müller einer der vier Abgeordneten , die durch ihr Direktwahlergebnis es schafften, dass die PDS als Fraktion dem damaligen Bundestag angehört haben.
Manfred war damit maßgeblich daran beteiligt, dass die PDS den dauerhaften Einstieg in den Bundestag als Partei und Fraktionen erreicht haben. Er ist unserer Partei nie beigetreten, hat aber in zwei Legislaturen in und für die Fraktionen aktiv gewirkt. Ich bin Manfred zutiefst dankbar für die gemeinsame Zeit als Gewerkschaftssekretäre, für das Engagement den Einzelhandel der neuen Bundesländern nicht wild wachsen zu lassen, sondern tatsächlich Tarifstandards zu setzen, die dann allgemein verbindlich wurden. Zu dieser Zeit haben wir alle gemeinsam darum gekämpft, dass die Tarifverträge des deutschen Einzelhandels auf 100 % West angehoben wurden und gleichzeitig durch die Allgemeinverbindlichkeit Gesetzeskraft erreicht haben.
Heute alles seltsame Erinnerungen, denn tatsächlich ist die Allgemeinverbindlichkeit seit Jahren nicht mehr vorhanden. Die Uneinigkeit auf Arbeitgeberseite, aber auch die Herausforderungen, dass Unternehmen wie Amazon oder Zalando nicht mehr dem Einzelhandelsverband als Versandhändler angehören, haben ein Übriges getan. Denn früher gehörte Einzel- und Versandhandel immer zusammen und waren diejenigen, die ihre Waren direkt an die Kunden liefern oder im stationären Einzelhandel direkt für den Kunden da sind. Die Klammer war der gemeinsame Tarifvertrag. 1990-1994 hat Manfred Müller dafür gesorgt, dass diese Klammer gehalten wurde und übertragen wurde, in die sich auflösende und teilweise durch Treuhand zusammenbrechende und mit Zerstörungskraft implodierende Einzelhandelslandschaft als gemeinsame und verbindliche Klammer auf Arbeitnehmerseite garantiert werden konnte. Ein hartes Stück Arbeit und Manfred war da wirklich ein großer Pionier.
R.I.P. lieber Bernd Fritze, R.I.P. Manfred Müller – möge euch die Erde leicht sein. Zwei Menschen, die jedenfalls für mich sehr wichtig waren, sind nicht mehr unter uns und ich möchte heute ehrend an sie erinnern.