Internationaler Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust

Heute  – am 27. Januar –  hat Professor Jens-Christian Wagner, Stiftungsdirektor der Gedenkstätte Buchenwald, bei der Gedenkveranstaltung zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus aus Anlass des 80. Tags der Befreiung des KZ Auschwitz eine wichtige Rede gehalten. Ich dokumentiere sie hier im Original:

„Sehr geehrte Damen und Herren,

Ich begrüße Sie in der Gedenkstätte Buchenwald. Heute vor 80 Jahren rückten Soldaten der Roten Armee in das Konzentrationslager Auschwitz ein. Sie fanden dort etwa 7000 Überlebende vor – Männer, Frauen und Kinder, von denen die meisten derart krank und geschwächt waren, dass sie dem Tod näher als dem Leben waren. Für die meisten Anfang 1945 noch lebenden Auschwitz-Häftlinge war der 27. Januar allerdings kein Tag der Befreiung. Sie befanden sich weiterhin in der Hand ihrer Peiniger. Etwa 120.000 Männer, Frauen und Kinder hatte die SS in den Monaten und Wochen vor dem 27. Januar angesichts der sich nähernden Fronten auf Räumungstransporte und Todesmärsche Richtung Westen geschickt – in das Innere des Reiches. Hier setzte sich das Leiden und Morden bis April oder sogar Mai 1945 fort.

Mehrere Zehntausend Häftlinge aus Auschwitz gelangten mit dem Räumungstransporten nach Thüringen, in die KZs Buchenwald und Mittelbau-Dora und ihre Außenlager. Ein Bahntransport mit 4000 Häftlingen aus Auschwitz, fast ausnahmslos Juden, traf am 26. Januar 1945 in Buchenwald ein, gestern vor 80 Jahren. In Mittelbau-Dora traf am 28. Januar der erste Transport aus Auschwitz ein; es sollten ihm etliche folgen. Und nicht nur die Auschwitzer Häftlinge trafen dort ein, sondern auch das KZ-Personal des KZ Auschwitz. Alle hohen Posten in Mittelbau-Dora wurden Anfang Februar 1945 von SS-Leuten übernommen, die genau dieselben Posten schon in Auschwitz gehabt hatten. Lagerkommandant in Nordhausen wurde Richard Baer, letzter Kommandant des KZ Auschwitz. Mit den Transporten aus Auschwitz stieg die Zahl jüdischer Häftlinge in den Thüringer Konzentrationslagern stark an. Bis Ende 1944 war ihre Zahl noch relativ klein gewesen. Nun zählte die SS in Mittelbau-Dora etwa 10.000 jüdische Häftlinge, das war etwa jeder Vierte. In Buchenwald und seinen Außenlagern befanden sich Ende Februar 1945 fast 40.000 jüdische Häftlinge bei einer Gesamtzahl von etwa 112.000 Gefangenen (also mehr als ein Drittel).
Die Gefangenen von Buchenwald und Mittelbau-Dora hatten weiß Gott schon reichlich Grauenhaftes erleiden müssen. Doch der Anblick der aus Auschwitz eintreffenden jüdischen Häftlinge übertraf vieles noch einmal und hat sich tief in die Erinnerung Überlebender eingeschrieben. Anton Luzidis, ein aus politischen Gründen inhaftierter Grieche, musste Ende Januar und Anfang Februar 1945 am Bahnhof des Lagers Dora Tote und Sterbe aus einem Auschwitz-Transport „entladen“. Im April 1945, kurz nach seiner Befreiung, berichtete er einer amerikanischen Untersuchungskommission darüber:

„Diese Tage waren für mich die schrecklichsten in meinem Leben, und ich werde sie nicht vergessen. Diese Menschen wurden aus einem Lager in Polen vor dem russischen Einmarsch evakuiert. Sie wurden in offenen Wagen ohne Verpflegung 20 Tage lang von Polen bis nach Mitteldeutschland transportiert. Unterwegs sind sie erfroren, verhungert oder sind erschossen worden. Männer, Frauen und Kinder jeden Alters waren darunter. Wenn wir die Toten anfass¬ten, so blieben uns öfter Arme, Beine oder Köpfe in den Händen, da die Leichen gefroren waren.“

Diejenigen, die sich noch mit eigenen Kräften vorwärts bewegen konnten, wurden von SS-Posten unter Knüppelschlägen in das Lager getrieben. Der Tscheche Lubomir Hanak, der als Häftlingsschreiber im Lagers Dora arbeitete und die Aufgabe hatte, die Ankommenden zu registrieren, erinnerte sich 1946 an die Ankunft des ersten Transportes aus Auschwitz:

„Etwa gegen Mittag dieses Tages stand ich am Tor unseres Lagers und sah auf der Straße, die vom Bahnhof zum Lager führte, die ersten kommen. Ein Zug halberfrorener, ausgehungerter, verwilderter Menschen, die sich mit langsamem Schritt dahinschleppten. Niemals habe ich ein Bild solchen Elends und solcher Verzweiflung gesehen, nie im Leben, nicht einmal in den fünf Jahren Aufenthalts hinter Gittern. Längs der Straße lagen zu Dutzenden Erschöpfte, die das Stück Weg bis zum Lagertor nicht mehr gehen konnten. Der Straßenrand war mit Toten und Halbtoten eingesäumt. Der Zug vom Bahnhof dauerte schon einige Stunden und war noch nicht zu Ende. Inzwischen trafen etwa 400 Frauen in dem gleichen verzweifelten Zustand wie die Männer ein.“

Ähnlich war es in Buchenwald. Auch hier konnten viele Häftlinge nur noch tot geborgen werden. Alle anderen wurden in das Kleine Lager gepfercht, das spätestens jetzt zur Sterbezone des KZ Buchenwald wurde. 5200 Menschen starben hier innerhalb weniger Wochen, darunter etliche durch tödliche Injektionen, die ihnen SS-Angehörige und als Pfleger eingesetzte Häftlinge verabreichten.

Der 27. Januar ist, darauf möchte ich hinaus, nur ein symbolischer Tag der Befreiung. Und er ist ein Tag, der unseren Blick auf das Morden in der Mitte Deutschlands, vor unserer eigenen Haustür lenkt. Dafür waren nicht nur die SS und die Gestapo verantwortlich, sondern auch Zehntausende ganz normale Thüringer und Thüringerinnen – in der Justiz, in den Verwaltungen, in der Wehrmacht (übrigens auch bei der Bewachung der Konzentrationslager), als Vorarbeiter in Rüstungsbetrieben, in denen KZ-Häftlinge Zwangsarbeit verrichten mussten, als Ärzte, die Selektionen vornahmen, als Handwerker und Dienstleister, die für die Logistik rund um die Konzentrationslager verantwortlich waren, als Ingenieure, die für die Raketenrüstung in Mittelbau-Dora oder den Bau der Krematorien zuständig waren. Opfer waren politische Häftlinge, vor allem Kommunist:innen und Sozialdemokrat:innen, zivile Zwangsarbeiter:innen, Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma, sowjetische und italienische Kriegsgefangene, Homosexuelle, als angebliche „Berufsverbrecher“ oder „Asoziale“ Verfolgte und Zeugen Jehovas. Es ist wichtig, die ganze Bandbreite der Verfolgung im Nationalsozialismus in den Blick zu nehmen, nicht nur, weil jedes Opfer es im gleichen Maße verdient hat, gewürdigt zu werden, sondern auch, weil wir nur durch den Gesamtblick auf die Verfolgtengruppen und auf die Täter:innen, Mittäter:innen und Profiteure der Verbrechen erklären können, wie diese Verbrechen überhaupt möglich wurden und welche Rolle dabei die deutsche Gesellschaft spielte.

Auschwitz, sehr geehrte Damen und Herren, wurde heute vor 80 Jahren von sowjetischen Soldaten befreit, genauer gesagt: Soldaten der I. Ukrainischen Front unter dem Oberbefehl von Generaloberst Pawel Alexejewitsch Kurotschki, eines Russen. In seinem Verband kämpften Ukrainer, Russen und Weißrussen gemeinsam gegen die deutschen Besatzer – so wie ukrainische, russische und belarussische Häftlinge sich im KZ gemeinsam gegen die SS behaupteten.

Seit drei Jahren führt Russland einen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Mit Boris Romantschenko, dem Vizepräsidenten des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora, ist bereits mindestens ein ehemaliger Häftling der KZs Buchenwald und Mittelbau-Dora bei Luftangriffen getötet worden, und Tausende weitere ukrainische Überlebende des NS-Terrors müssen täglich um ihr Leben fürchten – eine Schande und Verrat an allem, was sich 1945 die aus den nationalsozialistischen Lagern Befreiten erhofft haben, nämlich eine „Welt des Friedens und der Freiheit“, wie es die Überlebenden im April 1945 im Schwur von Buchenwald formulierten. Propagandistisch versuchen Wladimir Putin und seine Anhänger den imperialistischen Angriffskrieg als Entnazifizierung der Ukraine zu rechtfertigen – und schickten dafür Söldner der Gruppe Wagner unter der Führung von Dmitri Utkin in den Kampf, eines Kriminellen, der aus seiner Hitler-Bewunderung keinen Hehl machte und sich SS-Runen und ein Hakenkreuz auf die Brust tätowieren ließ.

Putins Propaganda zeigt, wie Geschichte schamlos für verbrecherische Ziele gefälscht und instrumentalisiert werden kann. Doch damit steht die russische Propaganda nicht allein: Dass die Opfer der NS-Verbrechen zugleich verhöhnt und instrumentalisiert werden können, haben uns in den vergangenen Jahren auch etliche „Querdenker“ und Pandemieleugner gezeigt – denken Sie nur an „Jana aus Kassel“ oder die Proteste in Weimar am 1. Mai 2021 unter dem Hashtag „Weiße Rose 2021“. Zugleich verbreiteten diese Leute, die nach wie vor jeden Montag zusammen mit „Reichsbürgern“ und Neonazis durch die Städte marschieren, antisemitische Verschwörungsmythen.

Auch von links, von vermeintlich Progressiven, werden geschichtsrevisionistische und antisemitische Angriffe auf die Erinnerungskultur in die Welt getragen. Wenn junge Leute in Berlin „Free Palestine from German guilt“ skandieren, unterschiedet sich das kaum vom „Schuldkult“-Narrativ der extremen Rechten. Schuldkult, das ist seit den 1980er Jahren ein Begriff, mit dem extrem Rechte die kritische Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen und die Arbeit der Gedenkstätten diskreditieren. Es ist ein Begriff, den in den vergangenen Jahren vor allem die NPD und die AfD popularisiert haben.

Auch der Nordhäuser AfD-Landtagsabgeordnete Jörg Prophet raunte in Blog-Beiträgen vom „Schuldkult“. Zudem bezichtigte er die amerikanischen Befreier des KZ Mittelbau-Dora, „morallos“ gewesen zu sein, er setzte die britischen Luftangriffe auf Dresden mit dem industriellen Massenmord an Juden in Auschwitz gleich, und er verbreitete so gut wie jede derzeit aktuelle geschichtsrevisionistische Legende, etwa von den angeblich linken Nazis oder dem Völkermord an den Deutschen in den Rheinwiesenlagern. Der Thüringer Verfassungsschutz attestierte Jörg Prophet deshalb 2021 ein „geschlossenes geschichtsrevisionistisches Weltbild“. 2023 trat Prophet zudem auf dem Sommerfest des rechtsextremen Compact-Magazins zusammen mit Neonazis auf.

Nun steht dieser Mann am kommenden Donnerstag, nur einen Tag nach der Gedenkstunde des Landtags für die Opfer des Nationalsozialismus, als Vizepräsident des Landtags zur Wahl. Für die Überlebenden der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora wäre es, wie wir vom Internationalen Komitee Buchenwald und Mittelbau-Dora wissen, ein unerträglicher Gedanke, wenn er tatsächlich zum Vizepräsidenten gewählt würde. Ich kann den Überlebenden nur zustimmen und die Abgeordneten des Thüringer Landtages von ganzem Herzen bitten: Das Bekenntnis zur historischen Verantwortung muss sich auch im politischen Handeln zeigen. Bitte wählen Sie keinen notorischen Holocaust-Verharmloser in eines der höchsten Ämter des Landes! Den Angriffen auf die Erinnerungskultur, der Fälschung und Indienstnahme von Geschichte müssen wir uns mit einer klaren, geschichtsbewussten Haltung für die Demokratie und für die Achtung der Menschenrechte entgegenstellen. Ich danke Ihnen allen, dass Sie heute hier sind und mit uns gemeinsam der Menschen aus ganz Europa gedenken, die in Buchenwald und Mittelbau-Dora Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung wurden.

Es geht aber nicht nur darum, um die Opfer zu trauern, sondern auch darum, die Lehren aus der Geschichte zu beherzigen und politische Verantwortung zu übernehmen. Und es darf sich nicht auf Gedenktage wie den 27. Januar, den 11. April oder den 9. November beschränken. Arbeit an historischer Urteilskraft muss jeden Tag stattfinden – nicht nur in den Gedenkstätten und Museen, sondern überall, im Landtag, in den Universitäten, in den Schulen, in Ämtern und Betrieben, in Vereinen, im Familien- und Freundeskreis. Wir alle sind gefordert, wenn es darum geht, für die Demokratie zu streiten.“