Würde – Gleichheit – Freiheit – Solidarität

Die in der Überschrift genannten großen und gleichzeitig immens gewichtigen Worte finden sich in der Einleitung des Verfassungsentwurfes der Arbeitsgruppe „Neue Verfassung“ der des Runden Tisches der DDR. Im April 1990 wurde dieser Entwurf einer neuen Verfassung für die Deutsche Demokratische Republik an die Volkskammer geleitet. Besagter Runder Tisch hatte beschlossen, in den Einheitsprozess nicht auf Grundlage der überkommenen DDR-Verfassung einzutreten, die noch ganz den freiheitsfeindlichen Geist der von der SED verordneten der Diktatur des Proletariats atmete.

Im neuen Entwurf reichten sich hingegen Würde und Gleichheit, zwei Geschwister, gewissermaßen die Hände. Auch Artikel 1 des Grundgesetzes beginnt mit dem ebenso schlichten wie wirkmächtigen Satz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“, bevor unter der Überschrift „Menschen-und Bürgerrechte“ ebenfalls die Begriffe Würde, Gleichheit, Freiheit und Solidarität aufscheinen.

Die Personen, die am Runden Tisch als Bürgerrechtler an einer neuen DDR – Verfassung arbeiteten, ergänzten den wunderbaren Begriff der Würde um die Aufforderung nach Gleichheit, Freiheit und Solidarität. Gleichheit bedeutet hier nicht Gleichmacherei, sondern Chancengleichheit in Freiheit, Würde und Solidarität.

Artikel 1 Absatz 2 des Entwurfes lautet: „Jeder schuldet Jedem die gleiche Anerkennung als Gleicher.“ Hier wird deutlich, dass Gleichheit nicht mit Gleichmacherei zu übersetzen ist, sondern dass Jeder dem Anderen die Anerkennung als Gleicher schuldet. Dieser Gedanke ist schon bei Paulus in seinen Briefen an die Gemeinden vor weit knapp 2.000 Jahren zu finden, in dem er sinngemäß schrieb: „Tut nichts aus Eigennutz, tut es um der Gemeinschaft willen.“.

Man könnte freilich die Frage aufwerfen, warum wir uns mit einem (nicht realisierten) Verfassungsentwurf von 1990 befassen sollten, wo doch die Gegenwart des Jahres 2024 uns vor ganz andersartige Herausforderungen stellt. Was hilft uns eine Debatte über die Anerkennung als Gleiche, die man in Würde schuldet, wenn die Arbeit von Frauen geringer entlohnt wird als von Männern, wenn in Partnerbeziehungen Gewalt gegen Frauen immer weiter zunimmt, wenn aber auch von Herrn Höcke Inklusion an den Schulen als falscher Weg dargestellt wird und „Remigration“ – also eigentlich Massendeportation – als Begriff normalisiert wird?

In Westdeutschland höre ich hierzu häufig nur Ignoranz, wenn ich auf die progressiven Potenziale der friedlichen Revolution hinweise: „Lass mich doch mit dem Kram aus dem Osten in Frieden“. Ich merke dann oft an, dass im Einigungsvertrag Artikel 5 die künftigen Verfassungsänderungen festgehalten worden sind und wörtlich auf Artikel 146 Grundgesetz hingewiesen wird: dass an dem Tag, an dem sich das deutsche Volk friedlich vereint, das Grundgesetz durch eine Volksabstimmung in unsere Verfassung umgewandelt werden soll.

Im Einigungsvertrag Artikel 5 heißt es dann weiter unter der Überschrift „Künftige Verfassungsänderungen“, dass Artikel 146 im Rahmen einer Volksabstimmung innerhalb von zwei Jahren anzuwenden sei.

Es muss endlich darüber geredet werden, dass weder dieser Artikel 146 Grundgesetz, noch der Artikel 4 und der Artikel 5 des Einigungsvertrages umgesetzt worden sind. Wenn man also in diesem Jahr 75 Jahre Grundgesetz feiert, dann allzu häufig nur mit der Brille des Westens. Die Leistung der Runden Tische, die Impulse der friedlichen Revolution in der DDR, werden allzu häufig nicht erwähnt.

Deshalb erlaube ich mir heute, auf mehrere Artikel des Grundgesetzes zu verweisen, die meines Erachtens ebenfalls in die Praxis der Gegenwart übersetzt resp. angepasst werden müssten. Beispiel Weimar: wenn im Sophien- und Hufeland-Klinikum ein größerer Arbeitsrechtsstreit ansteht, weil einerseits die Gewerkschaft ver.di einen sehr starken Mitgliederzulauf hat und eine Tarifkommission sich gebildet hat, um in diesem Klinikum einen Tarifvertrag durchzusetzen, andererseits die Diakonie sich als kirchlicher Träger darauf beruft, dass im Artikel 140 des Grundgesetzes das gesamte kirchliche Recht und der Status der verfassten Kirchen basierend auf der Weimarer Reichsverfassung bis heute noch Gültigkeit hat, ist Ungemach vorprogrammiert. Art. 140 Grundgesetz beschreibt die Staatskirchenleistungen, das Staatskirchenverständnis und das staatskirchliche Recht, aber eben auch den Sonderweg im kirchlichen Arbeitsrecht, der ausschließlich auf einem Artikel beruht, der schon in der Weimarer Reichsverfassung eigentlich innerhalb weniger Jahre modernisiert, überarbeitet und verändert werden sollte. Auch im Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung ist vereinbart, dass das Staatskirchenrecht in Bezug auf die Ablösung der Staatskirchenfinanzierung geändert werden sollte. Es ist notwendig, an den Artikel 140 dergestalt zu überarbeiten, dass er die heutige Realität des religiösen Lebens, des kirchlichen Alltags und der kirchlichen Rechte abbildet.

Die Kolleginnen und Kollegen im Sophien- und Hufeland-Klinikum haben ein Recht darauf, sich ihre tariflichen Normen in freien Verhandlungen, die in einem Tarifvertrag zu regeln sind, auch zu erkämpfen. Dass man nun als kirchlicher Arbeitgeber sich allerdings hinter den Normen des Artikels 140 Grundgesetz versteckt, führt jedenfalls bei den betroffenen Mitgliedern der Belegschaft zu einer Menge Unverständnis.

Nehmen wir das berühmte Böckenförde-Diktum ernst, dann ist das Verhältnis Staat – Kirche nicht einfach nur das eines säkularisierten Staates: „Der freiheitliche Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Damit gemeint sind auch ethische Grundnormen, die wir aus Glauben und Religion ableiten können. Deshalb argumentiere ich beim Artikel 140 nicht religionsfeindlich und als bekennender Christ schon gar nicht kirchenfeindlich. Ich werbe nur als Gewerkschafter und als Politiker dafür, die Realitäten der heutigen Zeit anzuerkennen, indem dieser Sonderweg des kirchlichen Arbeitsrechtes außerhalb von Verkündung und Seelsorge immer dann deplatziert ist, wenn kirchliche Betriebe, die im Wettbewerb stehen, schlicht einen kirchlichen Arbeitgeber haben, aber Verkündung und Seelsorge nicht in der Hauptaufgabe anzusehen sind. Es mag dann sein, dass man in einem Betrieb ist, der eine kirchliche Rückbindung hat, aber: ein Krankenhaus bleibt ein Krankenhaus, eine Schule bleibt eine Schule und ein Kindergarten bleibt ein Kindergarten. All diese Einrichtungen stehen im Wettbewerb mit all den Trägern, die ebenso im öffentlichen Tarifrecht verankert sind. Warum also Ablehnung von Tarifverträgen in einem Krankenhaus unter Berufung auf das kirchliche Sonderrecht?

Beispiel Nummer Zwei: Artikel 21 des Grundgesetzes. Dort heißt es, dass die Parteien an der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken. Dies ist ein Auftrag. Dies ist aber auch ein Hinweis darauf, dass diese Parteien auch Teil der Willensbildung sein müssen und damit eine Verbindung zum Volk haben, die nicht nur alle fünf Jahre bei Wahlen aktiviert werden kann. Es ist also die Frage, was eigentlich passiert – so erst kürzlich bei der bayrischen AfD geschehen – wenn Journalisten an der Berichterstattung gehindert werden sollen. Es ist überdies  bedenklich, wenn das BSW keine Transparenz schafft, wer eigentlich die Mitglieder aufnimmt, wie sie aufgenommen werden und nach welchen Kriterien eine Aufnahme erfolgt. Ich will mich gar nicht einmischen in die unterschiedlichen Denkrichtungen der verschiedenen Parteien, aber ich finde, wer den Artikel 21 sich anschaut, der muss auch in der heutigen Realität deutlich sagen, dass eine Partei dem Prinzip der Transparenz unterliegt und der öffentlichen Überprüfungsfähigkeit.

Wer also Journalisten am Arbeiten hindert, wer Parteitage unter Abwesenheit öffentlicher Berichterstattung durchführt, wer staatliches Geld bekommen möchte, weil er das Privileg des Artikel 21 mit entsprechenden Mitteln für sich in Anspruch nehmen und auch ausfinanziert haben will, dem muss man deutlich sagen, dass es auch Stoppschilder gibt. Hier hätte der Artikel 21 einen Präzisierungsbedarf, den ich für dringend notwendig erachte.

In das letzte Beispiel möchte ich mit dem epochemachenden Schwur von Buchenwald einführen: „Wir werden den Kampf erst aufgeben, wenn der letzte Schuldige vom Gericht aller Nationen verurteilt ist. – Die endgültige Zerschmetterung des Nazismus ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ideal.“

Diese Sätze im Kopf empfehle ich einen Blick in Artikel 139 Grundgesetz. Dort heißt es kryptisch, dass diejenigen alliierten Rechte vom Grundgesetz unangetastet blieben, „die zur Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus“ erlassen worden seien.

Unbemerkt und schleichend sind aber die Rechtsquellen, auf die Artikel 139 verweist, ausgelaufen oder haben keine Rechtskraft mehr. So bleibt eine leere Hülle, die es verdient hätte, durch eine antifaschistische Klausel neu gefüllt zu werden. Es könnte eine Formulierung aufgenommen werden, die da lautet: „Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, oder nationalsozialistisches Gedankengut wiederzubeleben, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.“ Dies wäre eine Option, die man sehr prinzipiell in den Artikel 139 und damit in die Schlussvorschriften des jetzigen Grundgesetzes und der zukünftigen Verfassung aufnehmen sollte. In Mecklenburg-Vorpommern hat man genau so eine Präzisierung mit dem neuen Artikel 18 a vor einigen Jahren in die Verfassung aufgenommen und die Friedensverpflichtung sowie die Gewaltfreiheit, aber eben auch die aktive Bekämpfung von rassistischem oder extremistischem Gedankengut verfassungsrechtlich normiert.

Angesichts einer Partei namens AfD, die Extremismus verbreitet und in die Öffentlichkeit transportiert, sehe ich hier dringenden Handlungsbedarf. Bevor wir über Verbotsverfahren entscheiden, – hier sind natürlich unterschiedliche staatliche Stellen, aber auch wissenschaftliche Expertisen einzubinden – wäre der wirksamste Schutz gegen Rechtsextremismus eine ehrliche, offene und intensive Diskussion über den Artikel 146 des Grundgesetzes.

Besagter Artikel, auf den ich bereits am Anfang des Textes zu sprechen kam, lautet: „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“

Hier sieht der Grundgedanke der Väter und Mütter des Grundgesetzes zwei Prinzipien vor. Erstens die Zielorientierung der friedlichen Vereinigung, die ja nun tatsächlich stattgefunden hat. Und zweitens die Umwandlung des Provisoriums Grundgesetz in eine Verfassung durch das Staatsvolk, den Souverän.

Es muss von der Verfassungsnorm her ableitbar sein, dass man durch Einfachgesetze dies alles, was ich im Text genannt habe, ausgestalten kann, aber es braucht eine Verfassungszielbestimmung, die explizit antifaschistisches Gepräge trägt.

Es geht also um mehr als einfach nur eine Volksabstimmung zum Artikel 146, den ja auch Reichsbürger, Selbstverwalter, Schwurbler und Rechtsextreme gerne bemühen. Aber nur weil diese Leute damit freihändig hantieren und behaupten, die Bundesrepublik existiere nicht einmal, sie sei ja eine GmbH, werden ja die Debatten zu den von mir aufgeworfenen Problemen nicht weniger notwendig sein. Das „Nie wieder“, das uns die Geschichte ins Stammbuch geschrieben hat braucht einen festen Grund, auf dem es verfassungsrechtlich normiert Wirkung entfalten kann.