Zuerst Thüringen!
In den kommenden Tagen wird viel von Verantwortung die Rede sein. Denn die Wahlen vom 9. Juni 2024 zum Europaparlament und in Thüringen die Stichwahlen zu kommunalen Ämtern haben die politische Landkarte – zumindest für den Moment – spürbar neu eingefärbt. Die Parteien der Ampelregierung im Bund aber auch meine eigene Partei DIE LINKE haben bei dieser Europawahl schwere Blessuren davongetragen.
Nicht nur in Deutschland wird die Europawahl häufig als nationale „Denkzettelwahl“ inszeniert, während der europäische Gedanke dahinter zu verschwinden droht. Ich bedauere dies. Denn Europa ist entgegen weit verbreiteter Auffassung und von Populisten bedienter Klischees gerade nicht der vermeintlich weltfremde bürokratische Moloch in Brüssel. Europa begegnet uns vielmehr überall im täglichen Leben. Beginnend beim künftig einheitlichen Handy-Ladekabel oder verbraucherfreundlichen Roaming-Gebühren bis hin zu milliardenschweren Investitionen in die soziale und regionale Infrastruktur auch Thüringer Städte, Gemeinden und Dörfer. Die zu Jahresbeginn aufbegehrenden Landwirte erhalten den wesentlichen Teil der Subventionen für Ernährungssicherheit und Umbau der Landwirtschaft aus europäischen Fördermitteln.
Statt also wie die CDU in der Europawahl die Gelegenheit zu sehen, gegen die Ampel-Regierung zu mobilisieren oder wie die Populisten für ein „Europa der Vaterländer“ wird es in den kommenden Jahren in Brüssel und Strasbourg darum gehen müssen, gleichwertige Lebensverhältnisse in allen Regionen der EU zu schaffen, die Sozialunion weiterzuentwickeln, damit alle Menschen nicht nur das formale sondern auch das tatsächliche Recht haben, in Würde und frei von Armut leben zu können. Unser Nachbar Polen hat gezeigt, dass und wie es gelingt, die Zerstörung der Demokratie von innen aufzuhalten. Die Europäische Union demokratisch weiterzuentwickeln, die Energiewende sozial gerecht fortzusetzen, mit den Ländern des westlichen Balkans sowie der Ukraine und der Republik Moldau tatsächliche Schritte des EU-Beitritts zu gehen – diese nur beispielhaft aufgezählten Aspekte werden die tatsächlichen Herausforderungen der kommenden Jahre sein. In diese Prozesse und Debatten wird sich Thüringen gemeinsam mit den anderen deutschen Ländern und mit Regionen wie unseren Partnern in Frankreich (Hauts-de-France) und Polen (Malopolska) einbringen.
Wo Thüringen heute steht
Als Ministerpräsident übernehme ich selbstverständlich Verantwortung. Denn seit bald zehn Jahren führe ich Thüringens rot-rot-grüne Regierung an und präge das Gesicht der Thüringer Linkspartei. Verantwortung bedeutet in zweierlei Sinne sowohl für die zurückliegenden Ereignisse gerade zu stehen, als auch verantwortungsbewusst die künftige Entwicklung zu gestalten.
Thüringen und die ostdeutschen Länder sind aus der Nachwendezeit herausgetreten. Eine neue Phase der Entwicklung hat begonnen. Die Zukunft wird nicht weniger herausfordernd als die Nachwendezeit. Doch das Fundament auf dem wir stehen, ist stabiler als zur Wiedergründung Thüringens 1990.
Thüringen ist beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Erwerbstätigenstunde überproportional gewachsen, sowohl im bundes- als auch im ostdeutschen Vergleich. Thüringens Wirtschaft mit ihrem im Vergleich höheren Industriebesatz liegt beim Produktivitätszuwachs im vorderen Feld und rund 2,5 Prozent besser als der Bundesdurchschnitt. Die Thüringer kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) weisen in allen Größenklasssen eine höhere Produktivität auf als der ostdeutsche Durchschnitt. Bei den größeren KMU wird sogar der gesamtdeutsche Durchschnitt übertroffen.
Im bundesdeutschen Bildungsranking gehört Thüringen seit Jahren unverändert zur Spitzengruppe dreier Länder, zu denen neben unserem Freistaat noch Bayern und Sachsen zählen. Stärken weist Thüringen in den Handlungsfeldern Ausgabenpriorisierung, Hochschule/MINT, Berufliche Bildung, Zeiteffizienz, Förderinfrastruktur, Bildungsarmut und Schulqualität auf. Die Bildungsausgaben je Schüler:in sind höher als im Bundesdurchschnitt. Der Anteil von Jugendlichen ohne Ausbildungsangebot ist der zweitniedrigste in Deutschland und die Wiederholerquoten in Schulen sind niedrig. Ein weiteres Plus sind die Ganztagsangebote in Kindergärten und Grundschulen.
In Thüringen wurden in den vergangenen zehn Jahren mehr Lehrerinnen und Lehrer eingestellt als im Vierteljahrhundert zuvor. Dennoch bleibt viel zu tun, denn die Altersstruktur der Lehrkräfte ist sehr unausgewogen und 800 Stellen für Lehrer:innen könnten sofort besetzt werden.
Mit dem „Tag in der Praxis“ (früher UTP) und den drei Handwerksgymnasien wurden frühere Perspektiven auf die berufliche Orientierung geschaffen.
Thüringen ist in den vergangenen zehn Jahren entgegen der demographischen Laufrichtung gewachsen. Dennoch sind Probleme wie niedrige Löhne und eine hohe Arbeitsbelastung weiterhin virulent und tragen gerade in strukturschwachen Regionen zu einem weiterhin bestehenden Unsicherheitsempfinden in der Lebensführung bei.
Insgesamt arbeiten die Thüringer:innen durchschnittlich 30 Minuten pro Woche länger als in Westdeutschland, erhalten dafür aber 600 EUR weniger als im Bundesdurchschnitt. Denn nur 21% der Unternehmen haben Tarifbindung; bei Einbeziehung der Unternehmen ohne Tarifbindung, die sich bei den Gehältern aber am Branchentarif ausrichten, sind es knapp die Hälfte der Unternehmen.
Einen Betriebsrat haben nur 8% der Thüringer Unternehmen, doch da dies die größeren Unternehmen sind, arbeiten 41% der Thüringer Beschäftigten in einem Unternehmen mit Betriebsrat.
Zwischen der Demokratiefrage und der sozialen Frage besteht ein elementarer Zusammenhang. Deshalb muss es für uns alle, die wir in Thüringen in unterschiedlicher Form Verantwortung tragen und Verantwortung übernehmen, in der Politik, in der Wirtschaft, in der Vertretung der Interessen der lohnabhängig Beschäftigten darum gehen, dass die Tarifbindung erhöht und die Lohnlücke geschlossen wird.
Die hohe Migration stellt Kommunen, Behörden aber auch Kindergärten und Schulen vor erhebliche Herausforderungen bei Unterbringung und Integration. Zu lange hat es gedauert, bis unerträgliche Unterbringungsbedingungen in Landesverantwortung in Hermsdorf beendet wurde. Gelingende Migration ist ein Schlüssel zur Zukunftsentwicklung unseres Landes, das Schloss für den Schlüssel ist, dass jeder von seiner Hände Arbeit seinen Unterhalt verdienen kann. Den sogenannten Spurwechsel um Menschen aus endlosen Asylverfahren in konkrete Beschäftigung zu bekommen konzipierte ich lange bevor die Ampelparteien ihn endlich – gegen den Widerstand der Union – umgesetzt haben. Es muss weitergehen, damit alle ankommenden Menschen über die Kombination von Arbeit und Sprache schneller integriert werden.
Thüringen auf Kurs halten
Vor fünf Jahren sagte ich: Die Bürgerinnen und Bürger haben die Thüringer Parteien mit dem Wahlergebnis 2019 vor die Aufgabe gestellt, gewohnte Pfade zu verlassen und neue Wege zu gehen. Einige sehen in diesem Wahlergebnis eine Repräsentationskrise unseres Parteiensystems. Das Gegenteil ist der Fall.
Die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes legen beim Anspruch an uns Politikerinnen und Politiker, weniger auf politische Milieus Wert, sondern vielmehr auf die Fähigkeit Probleme zu lösen.
Eine Minderheitsregierung kann sicherlich anstrengend werden. Sie wird viel mehr Kommunikation erfordern. Sie wird uns Geduld abverlangen. Aber sie kann genau deshalb auch sehr lohnend sein. Weil mehr geredet wird. Weil geduldig lagerübergreifend nach dem besten Weg gesucht werden muss. Die Notwendigkeit im Parlament Mehrheiten zu suchen, bietet die Chance, besser zuzuhören, Kompromisse zu schließen und den Blick auf Ungewohntes zu richten. In unserem Freistaat ist Opposition künftig mit Gestaltungskompetenz verbunden. Auf Augenhöhe mit der Regierungskoalition. Das ist Chance und Pflicht zugleich.
Ich konnte seinerzeit nur erahnen, wie anstrengend eine Minderheitsregierung tatsächlich ist. Wieviel Geduld es erfordert, Mehrheiten im Parlament zu suchen, einander zuzuhören und Kompromisse zu schließen.
Ich trage die Verantwortung für eine Minderheitsregierung. Zufällige Mehrheiten können teuer und bitter sein. Deshalb habe ich das Land in turbulenten Zeiten der Corona-Pandemie, der Energiekrise und der Migration in Folge des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Putins auf die Ukraine auf Kurs gehalten und wir auf Sicht gefahren. Was zu entscheiden war und ist, wurde und wird entschieden. Manchmal hat es etwas länger gedauert als gewünscht. Doch auch das Schulgesetz, die neuen Kindergartenregelungen, das Ehrenamtsgesetz und selbst die Verfassung wurden im parteiübergreifenden Konsens modernisiert. Fünfundfünfzig Entscheidungen hat das Parlament in den letzten zwölf Monaten über die entsprechenden Hürden gehoben.
Ich habe meine Verantwortung für die Corona-Maßnahmen übernommen. Auch und gerade für diejenigen Maßnahmen, die ich mit dem Wissen von heute in dieser Form nicht erneut anordnen bzw. mitentscheiden würde. Ich setze mich für eine ehrliche und unvoreingenommene Aufarbeitung und Analyse ein, um Schlussfolgerungen für die Zukunft zu ziehen. Keine „MPK“-Sitzungen zur Krisenabwehr, sondern ein Bundeskrisenstab zur Abwehr von Bedrohungen ist eine meiner Schlussfolgerungen.
Selbstverständlich stehe ich mit auch für die nicht erfolgte vorgezogene Landtagswahl, die ich gefordert und vorangetrieben habe. Gescheitert ist sie an Abgeordneten der CDU. Sie klebten an ihren Abgeordnetensitzen und ließen zu, dass wahrheitswidrig behauptet wird, ich würde an meinem Posten kleben oder sei von Frau Merkel eingesetzt worden. Diese Legenden schrecken mich nicht, doch die damit verbundene Demokratieverdrossenheit und Spaltung, die will ich überwinden.
Gesellschaftlich ist Wut und Angst gewachsen. Vertrauen erneut zu gewinnen bedeutet, zu reflektieren, wie man Bürger einlädt ihr eigenes Selbstvertrauen zu stärken. Ich bin Gründungsmitglied von „Mehr Demokratie in Thüringen“ und werbe für neue Wege. Weniger Parteitaktik aber mehr kommunale Sachpolitik, weniger „top down“ und mehr Entscheidungen von unten.Mehr Selbstverwaltung, Beteiligung und Eigenverantwortung statt Bevormundung.
Mehr Vertrauen in Bürgerinnen und Bürger schafft Vertrauen durch Bürgerinnen und Bürger. Das Fundament unserer Demokratie neu gestalten – „mehr Demokratie wagen“- war Willy Brandts Ansatz.
Dafür sein!
Die Journalistin Melanie Stein von „Wir sind der Osten“ stellte jüngst eine aus meiner Sicht ungemein wichtige und kluge Frage: „Was ist dein Dafür?“. Denn in den letzten Wochen wurden soziale Medien und öffentlicher Diskurs überflutet mit Anti- und Negativ-Campaigning. Jeder weiß, wogegen er oder sie ist.
Meine Verantwortung als Ministerpräsident und Politiker der LINKEN besteht darin, Hoffnung zu geben, wo andere Ängste schüren. Brücken zu bauen, wo andere gesellschaftliche Spaltung vorantreiben wollen. Darüber zu sprechen, was uns gelingt und wo wir künftig stehen wollen, wo andere das Land schlecht reden.
Ich möchte mit den Vielen in unserem Land, den mehr als 70% Anhänger:innen demokratischer Parteien bzw. den 840.000 Ehrenamtlichen, den Gewerkschaften, Kirchen und Unternehmen, allen Engagierten Thüringen besser machen. Weil das Bessere der Feind des Guten ist. Weil wir es können. Sozial und demokratisch.