Gebt dem Volke, was des Volkes ist!

Vor 75 Jahren wurde das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Kraft gesetzt. Den Frauen und Männer, die sich in Herrenchiemsee aufmachten, um eine Verfassung für Deutschland zu erarbeiten, kommt dabei das Verdienst zu, aus den Jahren der Weimarer Republik und den Verheerungen des Nationalsozialismus richtige Schlüsse gezogen zu haben, um ein Grundgesetz auf den Weg zu bringen, dass seit 75 Jahre Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Demokratie in der Bundesrepublik sichert.

Allerdings waren die wenigen Mütter und vielen Väter dieses Verfassungsentwurfes klug genug, um im letzten Artikel, dem Artikel 146, einen Auftrag, ein Vermächtnis zu implementieren. Dort heißt es: „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ Aus diesem Artikel 146 ergeben sich zwei zentrale Festlegungen.

Erstens: das Grundgesetz ist provisorisch, auch wenn es den Charakter einer vollen Verfassung trägt. Provisorisch deshalb, weil aus der Sicht seiner Mütter und Väter Deutschland größer ist, als die sich bildende Bundesrepublik Deutschland. Die BRD beanspruchte immer einen Alleinvertretungsanspruch, also rechtsregelnd für ganz Deutschland – auch, um so gegen die sich gründende DDR – auftreten zu können. Gleichzeitig ist es interessant, dass die Hymne der DDR ebenfalls Bezug nimmt auf das ganze Deutschland, da auch die DDR den Anspruch formulierte, ein vereinigtes Deutschland anzustreben. Als die DDR-Oberen dies nicht mehr wahrhaben wollten und sich als Teil des sowjetischen Machtbereiches endgültig etabliert hatten, wurde schlicht das Absingen der DDR-Hymne untersagt. Die Deutsche Einheit verschwand aus dem Bewusstsein der DDR-Bevölkerung. Im August 1961 mauerte sich die DDR schließlich ein und behauptete, sich mit einer für viele Menschen tödlichen Grenze gegen die Faschisten „von drüben“ schützen zu müssen.

Zweitens: wenn es eine Vollendung der Einheit in Freiheit für Deutschland und für das gesamte deutsche Volk geben würde, dann solle das Vorübergehende, das mit dem Begriff Grundgesetz umschrieben ist, durch eine Verfassung ersetzt werden. Dieser Handlungsauftrag ist eindeutig und zwingend. Das Grundgesetz ist also ein Vermächtnis, das deutlich ausdrücken will, dass es etwas Vorübergehendes ist und dass das Arbeiten an der Vollendung der Einheit ein Auftrag einer verfassungsgebenden Volksabstimmung sein muss. Unbestritten ist, dass das Grundgesetz unsere Verfassung ist und unbestritten ist, dass unter dem zweiten Punkt, den ich hier beschrieben habe, der Auftrag als zeitloses Vermächtnis definiert ist. Das Grundgesetz in die Verfassung zu wandeln, ist nicht Aufgabe des Parlaments, nicht Aufgabe der Regierung, nicht Aufgabe der Länder oder gar der Ministerpräsidentenkonferenz, sondern einzig die Aufgabe des Volkes selber. Der Sinngehalt des Grundgesetzes schließt bislang bundesweite Volksbegehren aus – mit dieser einzigen Ausnahme.

Seit Jahren wiederhole ich diesen Satz und verweise immer wieder auf den Artikel 146. Seit Jahren begegnet man mir – vor allem aus Westdeutschland – mit heftigem Widerspruch. Ostdeutsche erinnern sich hingegen noch an den Auftrag des Runden Tisches aus der Wendezeit, eine Verfassung für die DDR zu erarbeiten, was auch geschehen ist.

Die Akteure der friedlichen Revolution hatten darauf bestanden, dass man nicht mit der DDR-Verfassung in die Deutsche Einheit gehen wollte, sondern eine neue DDR-Verfassung das Fundament der Weiterarbeit zur Deutschen Einheit darstellen sollte. Dies hätte gemeinsam mit dem Artikel 146 sicherlich zu einer verfassungsgebenden Versammlung führen können. Leider ist diese Chance vertan worden. Heute entfernen wir uns mental immer weiter zwischen Deutschland Ost und Deutschland West. Immer wieder werde ich gefragt, ob ich wüsste, warum diese Entfremdung so massiv und dynamisch sei. Meine Antwort darauf ist immer, dass man viele Chancen, die sich aus unserer Unterschiedlichkeit zwischen Nord und Süd und Ost und West ergeben, einfach viel zu wenig genutzt werden. Von den neuen Ländern zu lernen, wie eine Schul- und Bildungsreform aussehen könnte, längeres gemeinsames Lernen als Chance. Polytechnik und polytechnische Oberschule, frühere Orientierung auf die betriebliche Welt, das Angebot von Berufsbildung und Abitur, genauso wie der Unterrichtstag in der Produktion – all das sind Teilelemente, die der gelernte DDR-Bürger verinnerlicht hat und der gelernte BRD-Bürger überhaupt nicht einordnen kann.

Ähnliches ergibt sich beim Thema Kindergarten. 96 Prozent unserer Kinder in Thüringen sind im Kindergarten. Die Servicezeit beträgt jeden Tag zehn Stunden. Wir haben in Thüringen jetzt im neuen Schulgesetz den Tag in der Praxis (TiP) als Umschreibung für den UTP (Unterrichtstag in der Produktion) wiederaufgenommen. Wir haben drei Handwerker-Gymnasien und sind damit einmalig in Deutschland. Bei uns kann man Abitur und Handwerksausbildung zusammen absolvieren. Schulgarten als Unterrichtsfach gibt es nur noch in Thüringen. Und längeres gemeinsames Lernen ermöglicht uns die Thüringer Gemeinschaftsschule. Ein Schulcampus, der alle Schularten umfasst, einschließlich beruflicher Qualifikation und Einstiegsqualifikation wäre so ein Modell für eine gesamtdeutsche Bildungsdebatte. Statt Schulabgänger ohne Schulabschluss wäre eine berufliche Qualifikation der erste Einstieg, um in die weiteren Etappen des eigenen Lebens ohne Niederlage einsteigen zu können.

All das geht mir durch den Kopf, wenn ich an den Erfahrungsschatz aus den neuen Bundesländern denke, der leider bis heute für Westdeutschland nicht gehoben wurde. Ähnlich ist es mit dem Krankenhausreformprozess, bei dem wir ganz schnell Landambulatorien und Gemeindeschwestern als gut ausgebildete Krankenschwestern mit in den ländlichen Raum bringen könnten und damit eine qualifizierte Antwort auf das Praxissterben geben könnten, ohne Krankenhausstandorte komplett aufgeben zu müssen. Andere Wege gehen, neu über Zusammenhänge nachzudenken und soziale Sicherung als ein Grundanspruch des guten gemeinschaftlichen Lebens zu formulieren. Bildung und Betreuung beitragsfrei zu gestalten wäre doch ein Veränderungsprozess für ganz Deutschland und der Kindergarten ist nicht nur eine Erfindung aus Thüringen, sondern ein Qualitätsmarker in der ganzen Welt. Der Satz „Die Welt spricht Kindergarten“ ist Beschlusstext des Thüringer Landtags. Aber Vielen muss man erklären, dass der Kindergarten nicht nur aus Thüringen kommt, sondern nach wie vor ein Markenprodukt für das gesamte Bildungsangebot darstellt. Der Satz „Auf den Anfang kommt es an“ ist heute wichtiger denn je und sollte uns bei allen bildungspolitischen Diskussionen begleiten.

Grübeln wir heute über das Fundament eines guten Zusammenlebens in der Gesellschaft braucht es Beides. Es braucht eine gute Verfassung, damit wir in guter Verfassung sind. Und es braucht ein gesellschaftliches Zusammenleben, in dem Reform nicht als Katastrophe und nicht als Deformation erlebt wird. Wir brauchen einen Aufbruch in eine Veränderung, die nicht Angst macht, sondern Chancen hebt. Hier könnten wir aus Ost und West einen Mehrwert generieren, der uns allen mehr Chancen bietet, besser voneinander zu lernen und den Stolz auch zu spüren, den die neuen Länder in das Gesamtdeutschland einbringen, wenn es um Betriebe, um Weltmarktführer, um neue Produkte und um Antworten auf drängende Fragen geht.

Außerdem hat die Versammlung von Herrenchiemsee im Artikel 139 des Grundgesetzes noch etwas aufgenommen: „Die zur Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus erlassenen Rechtsvorschriften werden von den Bestimmungen dieses Grundgesetzes nicht berührt.“ Dazu zählen auch das Verbot faschistischer Organisationen und Ideologien.

In diesem Sinne hat das Bundesverfassungsgericht mit einer Entscheidung den Leitsatz festgestellt, BVerfGE 124, 300: „Das bewusste Absetzen von der Unrechtsherrschaft des Nationalsozialismus war historisch zentrales Anliegen aller an der Entstehung wie Inkraftsetzung des Grundgesetzes beteiligten Kräfte.“ Das Problem ist allerdings, dass man mit allgemeinen Hinweisen auf Rechtsvorschriften der Alliierten nicht aus dem Text heraus erläutern kann, dass es sich hierbei um eine antifaschistische Klausel handelt. Was sollten alle Behörden und Institutionen tun und veranlassen, wenn es um die Gefahr einer Entwicklung Richtung Nationalsozialismus bzw. Faschismus geht? Was muss getan werden, um einer solchen Gefahr entgegenzutreten. Wie muss man Entwicklungen beurteilen, die Nationalsozialismus und Faschismus verharmlosen, verniedlichen, die Gefahr herabspielen und die Einmaligkeit der Verbrechen negieren wollen („Vogelschiss der Geschichte“ oder der „geschichtspolitischen 180-Grad-Wende“, Äußerungen von Herrn Krah, dass nicht jedes Mitglied der Waffen-SS ein Verbrecher war, obwohl er genau weiß, dass die Waffen-SS als Gesamtstruktur eine verbrecherische Organisation war)?

Angesichts dieser Auswüchse wäre es wichtig, wenn der Artikel 139 zu einem scharfen Schwert der Verteidigung des Geistes unserer Verfassung erhoben werden würde. Dann wäre der Bezug auf Alliierte-Rechte zu überarbeiten durch ein eigenes Recht, das sich das deutsche Volk selbst schafft.

Ich habe keine Sorge, dass das Grundgesetzt bei einer Volksabstimmung, bei der der Artikel 146 umgesetzt und der Artikel 139 in einer neuen Fassung mit zur Abstimmung gestellt wird, durch eine breite Mehrheit in Ost und West bestätigt werden würde. Unser Grundgesetz hätte es verdient, dem Volk zur Abstimmung vorgelegt zu werden. Unser Volk hätte es verdient, endlich eine solche Abstimmung ermöglicht zu bekommen, damit man den Verleugnern nicht weiter den Raum lässt. Ich bin überzeugt, eine durch breite Mehrheit abgestimmte Verfassung würde allen Feinden einer freien, freiheitlichen Verfassung das Wasser abgraben. In diesem Sinne: Gebt dem Volke, was des Volkes ist! Habt mehr Mut, endlich Entscheidungen zu treffen und nicht durch Aussitzen ständig denen das Wasser auf die Mühlen zu leiten, die kein Interesse an einer breiten Bestätigung einer freiheitlichen Verfassung haben.