Ein Fest der Einheit, Vielfalt und Demokratie im Herzen der Republik

Der Tag der Deutschen Einheit am 03. Oktober ist in jedem Jahr ein ebenso fröhlicher wie ambivalenter Tag. Die großen Einheitsfeierlichkeiten inklusive des Festaktes finden dabei immer in dem Bundesland statt, dessen Ministerpräsident im jeweils laufenden Jahr als Bundesratspräsident – und damit als Vorsitzender der Kammer der Länder – amtiert. Dieses Jahr war – nach 16 plus 2 Jahren – wieder Thüringen an der Reihe.

Während die grassierende Corona-Pandemie bereits die Feierstimmung bei den vergangenen beiden Einheitstagen erheblich dämpfte, lag auch in diesem Jahr – bei aller Freude – doch ein stiller Ernst über dem Festwochenende. Seit dem 24.Februar kämpft im Osten Europas ein Land – die Ukraine – nämlich um seine eigene Einheit, Freiheit und Demokratie. Dass es nach dem völkerrechtswidrigen Angriff Putins auf seinen westlichen Nachbarn kein unbeschwertes „Weiter so“ geben kann, habe ich sodann auch während meiner Rede anlässlich des gestrigen Festaktes noch einmal klar betont. Eine Lehre aus 1989 ist, dass Menschenrechte und Freiheit und das Streben nach ihnen am Ende von keiner Waffe und keiner Diktatur aufgehalten werden können, und sich ihren Weg bahnen. Das muss auch Wladimir Putin endlich begreifen und seine Truppen aus der Ukraine zurückziehen. Wir jedenfalls stehen – am 03. Oktober genauso wie an jedem anderen Tag – an der Seite der Ukrainerinnen und Ukrainern.

Auch gerade deshalb war es ein schönes und wichtiges Zeichen, dass an allen drei Tagen des Festwochenendes immer wieder an verschiedenen Stellen Solidarität mit der Ukraine bekundet wurde. Unter anderem konnten wir bereits am ersten Tag des Festwochenendes die Kiewer Symphoniker begrüßen, die zwar ob des schlechten Wetters nicht aufspielen konnten, mir dafür aber noch einmal eindrücklich die Lage in ihrem Heimatland schilderten. Und als schließlich zur Abschlussveranstaltung des Tags der Deutschen Einheit, „Deutschland singt“, unter anderem auch 80 ukrainische Geflüchtete für den Frieden sangen, konnte sich keiner der Magie des Moments entziehen.

Überhaupt waren die Festveranstaltungen dieser drei Tage in ganz Erfurt von vielen magischen Momenten durchzogen. Die ganze Stadt hatte sich herausgeputzt und alle Bundesländer sowie viele zivilgesellschaftliche Akteure waren mit Ständen am Hirschgarten, auf dem Petersberg oder am Bahnhof vertreten. In allen Straßen erschallte Musik, überall trafen gut gelaunte und entspannte Menschen aus Ost und West zum gemeinsamen Austausch und ja – auch feiern – zusammen.

Den Höhepunkt der Feierlichkeiten bildete dann freilich der Festakt am gestrigen Tag im Erfurter Theater mit vielen hochrangigen Gästen – unter ihnen der Bundespräsident, der Bundeskanzler, der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes und die Bundestagspräsidentin (nach dem Grundgesetz die höchsten Vertreter unseres Staates).

In meiner Rede habe ich eine ehrliche Bilanz der Einheit versucht. Fest steht, dass es nach wie vor viele große und kleine Missverständnisse zwischen Ost und West gibt, die zwar immer wieder mit der Geste der großen Erkenntnis konstatiert, viel zu selten aber mit konkreten Konzepten und gelebter Praxis auszuräumen versucht werden. Was wir brauchen, sind die vielen großen und kleinen Übersetzer des Alltags, die unterschiedliche Lebenswelten und Wahrnehmungen bestimmter Entwicklungen in Ost und West einander erklären und so ein Verständnis anbahnen, das unbedingt notwendig ist um eine Einheit zu vollenden, die sich bis heute eben nicht nur in Lohndifferenzen, sondern auch in kulturellen und mentalen Unterschieden ausdrückt. Außerdem habe ich dafür geworben, im 32. Jahr der Einheit auch endlich migrantische und jüdische Perspektiven auf die Zeit nach 1989 stärker zu berücksichtigen. Denn die alte Meistererzählung von der „geglückten Demokratie“ (Edgar Wolfrum) oder dem Erfolgsprojekt Einheit bekommt spätestens dort Risse, wo 1990 nicht etwa praktische Freiheit und Demokratie, sondern vor allem (weiterhin) Diskriminierung, Marginalisierung, Hass und Ausgrenzung bedeutete. Heidenau, Freital, aber auch Hanau und Halle sind furchtbare Beweise dafür, dass eine Gesellschaft „in der jeder ohne Angst verschieden sein kann“, bis heute eben für viele Menschen in unserem Land nicht Realität geworden ist. Das gehört zur Wahrheit dazu. Deshalb kann es ein sorgloses „Auf die Schulter“-Klopfen auch nicht geben.

Gleichzeitig ist das, was wir als vereintes Deutschland in den vergangenen Jahren geschafft haben, trotzdem auch Beweis dafür, dass wir „zusammen wachsen“ können, wenn wir einander unterhaken und neue Wege beschreiten. Ost wie West haben ökonomisch von der Einheit profitiert. Viele Menschen im Osten der Republik haben sich nach den immensen Verwerfungen und Brüchen ihrer Biographien, die nicht zuletzt mit dem Namen „Treuhand“ verbunden sind, ein neues Leben aufgebaut. Darauf können sie zurecht stolz sein!

Und eine Bemerkung möchte ich mir dann doch auch noch mit Blick auf die Demonstrationen in Gera und Eisenach erlauben: Der AfD-Vorsitzende Höcke hat in Gera vor ca. 10.000 Menschen, die zum Teil Russland-Fahnen schwenkten, erklärt, in Erfurt würde ein „Fest des falschen Patriotismus“ gefeiert werden, während in Gera wahre „Vaterlandsliebe“ zelebriert werde. Ganz ehrlich: wenn über 185.000 Menschen in Erfurt, darunter viele Vertreter:innen der Sinti und Roma, unserer jüdischen Gemeinden oder auch Frauen aus dem Iran, zusammen Einheit in Vielfalt feiern, dann beweist diese Abstimmung mit den Füßen für mich mehr als deutlich, auf welcher Seite die dumpfe Einfalt zuhause ist, die Herr Höcke mit dem völkischen Vokabular  a la „raumfremden Völker“  oder „völkische Gemeinschaft“ adressierte. Wo an diesem Wochenende in unserem Land aber die Mehrheit der Menschen stand, war klar zu erkennen. Erfurt setzte ein starkes Zeichen und Tausende sangen am Abend auf dem Domplatz gemeinsam Friedenslieder und solidarisierten sich mit den Menschen in der Ukraine.

Am Ende bleiben für mich drei Tage im Herzen der Republik, die nicht nur unvergessliche Erinnerungen geschaffen, sondern auch gezeigt haben, dass Demokratinnen und Demokraten aus Ost und West gemeinsam bereit sind, auch in schweren Zeit und nicht nur bei schön‘ Wetter weiter zusammenzuwachsen – miteinander, aber auch mit und in Europa.