50 Jahre Radikalenerlass – Eine Geschichte von Hexenjagden, Postboten und Schlapphüten

Die späten 1960er- und 1970er-Jahre werden im kollektiven Gedächtnis der Bundesrepublik gern als eine Zeit des Aufbruchs und der Erneuerung erinnert. Und wer könnte es bestreiten – mit der Wahl Willy Brandts zum ersten SPD- Bundeskanzler im Jahr 1969 sowie der neuen Ostpolitik, die er gemeinsam mit Egon Bahr aufsattelte, wurde ein Kapitel in der bundesdeutschen Geschichte aufgeschlagen, dessen Nachwirkungen bis heute weithin spürbar sind. Die globale „68er“-Bewegung tat ihr Übriges, um – gerade in der sog. westlichen Welt und noch mehr in der Bundesrepublik – alte Zöpfe abzuschneiden, Krieg als Mittel der Politik zu brandmarken und die NS-Unterstützerschaft ganzer Generationen klar zu benennen. Vor allem Studenten, junge Gewerkschafter und ein breites Spektrum eines linken Milieus veränderten das Gesicht der Bundesrepublik nachhaltig.Der legendäre Satz von Willy Brandt zum „Mehr Demokratie wagen“ wird mir immer im Gedächtnis bleiben und ist mir in die Seele geschrieben worden. 
Zu dieser Aufbruchsgeschichte mag es so gar nicht passen, dass unter der Ägide eines SPD-Bundeskanzlers im Jahr 1972 eine Gesetzesregelung erdacht und in die Praxis übertragen wurde, die insbesondere Sympathisanten oder auch Mitglieder linker Gruppen, Organisationen und Parteien versuchte, systematisch aus dem öffentlichen Dienst fernzuhalten oder auszusondern.

Was in einer regulären Ministerpräsidentenkonferenz mit dem Bundeskanzler am 28.01.1972 als „Vereinbarung über Grundsätze zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst“ beschlossen wurde, war nicht etwa eine reguläre Verwaltungsübereinkunft mit eher minder aufregendem Titel, sondern sollte als sog. Radikalenerlass bis in die 1990er-Jahre dazu führen, dass vor jeder Einstellung in den öffentlichen Dienst – egal, ob als Lehrer, Postbeamter oder Jurist – eine Regelanfrage bei den Verfassungsschutzämtern erfolgte, um Bewerber, die aus Verfassungsschutzsicht als bedenklich eingestuft wurden, gar nicht erst einzustellen oder – sodenn sie schon Dienst taten – zu entlassen. Der Radikalenerlass sollte in der Theorie Verfassungsfeinde aus dem Staatsdienst fernhalten. In der Praxis wurde er zu einem Instrument, mit dessen Hilfe zwar keine extrem rechten, neonationalsozialistischen, dafür aber umso mehr politisch links sozialisierte oder aktive Menschen – bspw. eben aus der Friedensbewegung oder Gewerkschaften – eingeschüchtert und ihrer Zukunft beraubt wurden.

In den Jahren nach Inkrafttreten des Erlasses wurden über 3,5 Millionen Bewerber für den öffentlichen Dienst via Regelanfrage überprüft, 11.000 Berufsverbots- und knapp 2.200 Disziplinarverfahren eingeleitet sowie 1256 Bewerber abgelehnt. Über 260 Menschen wurden aus bereits bestehenden Arbeits- oder Dienstverhältnissen entlassen.

Meine eigene Geschichte ist eng mit der des Radikalenerlasses verbunden. Es war damals in Marburg als im Jahr 1979 der Postbeamte Herbert Bastian unter Verweis auf den Radikalenerlass mit Ermittlungsverfahren überzogen und letztlich als Beamter entlassen wurde, bevor es erst 1991 nach seiner Begnadigung durch den Bundespräsidenten zu seiner Wiedereinstellung kam. Was hatte Herbert Bastian sich zuschulden kommen lassen?

Er war als erfolgreicher Kommunalpolitiker seit 1974 mehrfach für die DKP (Deutsche Kommunistische Partei) ins Marburger Stadtparlament eingezogen. Das reichte für den Verfassungsschutz und die zuständigen Behörden aus, das Leben eines Beamten, der (nachweislich und durch den Dienstherren auch bestätigt) vorbildlich alle seine Dienstpflichten erfüllte, zu zerstören. Die Argumentation war ebenso einfach wie perfide: Man könne dem Beamten Bastian im dienstrechtlichen Sinne nichts vorwerfen, aber gerade diese tadellose Amtsführung sei ein Instrument, um die kommunistische Unterwanderung zu verschleiern. Wer sich hier an mittelalterliche Hexenproben erinnert fühlt, liegt ganz richtig.

Gemeinsam mit vielen anderen kämpften wir solidarisch für Herbert. Besonders meine erst im letzten Jahr verstorbene Politik-Lehrerin und engagierte GEW-Aktivistin Steffi Wolf war ganz vorn bei der Solidaritätsarbeit mit dabei (hier meine Trauerrede). Was mich bis ins Mark erschütterte, war die Tatsache, dass ein eigentlich progressiver Politiker wie Willy Brandt die Demokratie gerade dort zum Einsturz brachte, wo Menschen sich die Freiheit nahmen, über bestehende Verhältnisse hinauszudenken und eine Kritik zugunsten einer solidarischen und friedlichen Welt formulierten. Und es traf viele. So bekannte Menschen wie Winfried Kretschmann, heute Ministerpräsident Baden-Württembergs oder Peer Steinbrück, ehemaliger Bundesfinanzminister, waren ebenso betroffen, wie tausende andere.

Mich selbst nahm der Verfassungsschutz schließlich im Jahr 1983 ebenfalls ins Visier – weil ich mich mit Herbert Bastian solidarisch gezeigt und öffentlich für ihn das Wort ergriffen hatte. Außerdem galt ich als linker Gewerkschafter, der sich in der Friedensbewegung engagierte und einen – immer kritischen – Gesprächsfaden mit DKP-Vertretern unterhielt, als Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Man sammelte Material über mich, legte „Vorgänge“ an und machte mich und mein Leben zu einer Akte. Schon damals nahmen wir alle diese – jeder rechtsstaatlichen Auffassung spottende – Praxis mit einem besonderen Galgenhumor auf. Als Marburger Gewerkschafter-Chor sangen wir unter anderem so schlagende Zeilen wie: „Die Gedanken sind frei-lich in unserer Kartei.“ oder „Wir haben nichts zu verlieren außer unseren Akten.“

Der Antikommunismus hatte sich weit über das Jahr 1945 hinaus in die Bundesrepublik gerettet. Das mag auch u.a. daran gelegen haben, dass es eine „Stunde Null“ in Behörden wie dem Verfassungsschutz nie gegeben hat. Bis weit in die 1970er-Jahre hinein versahen auch Menschen dort ihren Dienst, die bereits in Hitlerdeutschland an entscheidender Stelle – bei Gestapo, SS und Co. – beschäftigt waren.

Als mir jedenfalls zur Kenntnis gebracht wurde, dass der Inlandsgeheimdienst „operative Vorgänge“ zu mir führte, musste ich nicht lange nachdenken, sondern begann, mich mit rechtlichen Mitteln zu wehren. Ich wollte erreichen, dass an meinem Fall durchgeurteilt wurde, ob ein derartiger staatlicher Übergriff rechtens sein konnte. Und im Jahr 2013 war es tatsächlich soweit. Nachdem ich mich durch alle Instanzen geklagt hatte, urteilte das Bundesverfassungsgericht:

„Die langjährige Beobachtung des Beschwerdeführers genügt jedoch den Anforderungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nicht. Bei einer Gesamtabwägung aller Umstände stehen die vom Bundesverwaltungsgericht angenommenen geringfügigen zusätzlichen Erkenntnisse für die Ermittlung eines umfassenden Bildes über die Partei außer Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs in das freie Mandat des Beschwerdeführers.“

Mit diesem Urteil endete zumindest für mich ein Stück „Kalter Krieg“. Mein besonderer Dank gilt hier meinem Rechtsanwalt Dr. Peter Hauck-Scholz aus Marburg, der mich erfolgreich durch alle Instanzen begleitet hat. Für viele, die vom Radikalenerlass betroffen waren, geht der „Kalte Krieg“ weiter – bis heute.

Dass es auch anders geht und es einen Weg aus den Schützengräben des „Kalten Krieges“ gibt und geben muss, versuchen wir aktuell in Thüringen zu beweisen. Es ist eben keine Kleinigkeit, dass just am 50. Jahrestag des Erlasses des Radikalenbeschlusses eine rot-rot-grüne Landesregierung gemeinsam mit der oppositionellen CDU zum Nutzen des gesamten Freistaates einen Haushalt verabredet hat. Ich fühle mich dabei tatsächlich an den compromesso storico in Italien erinnert, der linke und konservative Kräfte schon einmal zusammenführte. Klar ist freilich auch, dass Sozialismus und Konservatismus niemals dasselbe sein werden – aus guten Gründen. Und dennoch: der bittere und sarkastische Satz meines Freundes Wolfgang Nossen

„Der Feind steht links und rechts ist nur die unliebsame Verwandtschaft. Für letztere kann man ja nichts, aber Feinde muß man bekämpfen.“

darf im Jahr 2022 nicht mehr gelten. Die Feinde der Demokratie sind Rassismus, Antisemitismus und andere Ideologien der Ungleichwertigkeit. An ihnen müssen wir uns als Demokraten – unabhängig vom Parteibuch – abarbeiten.

Und dennoch liegen alte Wunden offen, die wahrscheinlich nie mehr vollständig verheilen werden. Was es braucht, ist nicht nur der Wille zum Kompromiss unter Demokraten, sondern eben auch eine umfassende Aufarbeitung der Verheerungen, die der Radikalenerlass unter einer ganzen Generation angerichtet hat. Juristische Rehabilitierung kann man erstreiten, Vergebung hingegen kann man weder erzwingen noch fordern. Man kann aber Voraussetzungen für sie schaffen. Das wäre in meinen Augen das Mindeste.