Die alte Bundesrepublik hat ausgedient

Deutschland hat gewählt. Das vorläufige amtliche Endergebnis hat uns eine Situation beschert, die allen Parteien auf unterschiedliche Weise zu denken geben muss. Für mich und meine Partei DIE LINKE. war der gestrige Abend – da gibt es gar nichts zu deuteln – nicht leicht. Auch wenn wir wieder in den Bundestag einziehen – wir haben viele Stimmen verloren und die kommenden vier Jahre werden eine Herausforderung

Der ergebnisbedingenden Faktoren, die in den kommenden Tagen zu analysieren sein werden, sind viele. Mir scheint klar, dass u.a. die COVID19-Pandemie und der sich durch sie verzögerte Personalwechsel an der Spitze unserer Partei dazu beigetragen haben, dass uns der Schwung, den ein starkes Duo wie Susanne Hennig-Wellsow und Janine Wissler gemeinsam mit Dietmar Bartsch mitgebracht hätten, am Ende etwas gefehlt hat.

Als jemand, der 2002 schon einmal eine ähnliche, wenn auch ungleich bitterere, Situation miterlebt hat, möchte ich meiner Partei heute dennoch den Satz des alten Goethe zurufen:

„Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen.“

Was wir ab heute nicht gebrauchen können, sind unnötige und zeit- bzw. kraftraubende Personaldebatten. Vielmehr müssen wir uns endlich jenseits von innerparteilichen Strömungslogiken ehrlich die Frage vorlegen, was den Gebrauchswert unserer Partei für die Menschen in diesem Land in Zukunft ausmachen soll. Wir waren und sind die Stimme für soziale Gerechtigkeit und Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Wir müssen allerdings wieder lauter werden und an das Ohr all derjenigen dringen, die im Deutschland des Jahres 2021 das Gefühl haben, mit ihren Sorgen und Nöten ungehört zu bleiben. Der Alltag und die Lebenswirklichkeiten des Einzelnen sind immer konkret.

Um nur ein einziges Beispiel aus Ostdeutschland zu nennen: In den letzten 4 Jahren wurde endlich eine Lösung in Form einer Härtefallregelung für zu DDR-Zeiten geschiedenen oder im eigenen Betrieb mithelfenden Ehefrauen von der großen Koalition versprochen. Was ist geschehen? Nichts. Ich kann sagen, was die Betroffenen denken. Sie fühlen sich vergessen, vernachlässigt und dort getroffen, wo es am meisten schmerzt – an ihrer Würde, die doch unantastbar sein sollte. Genau hier, im Konkreten, im Alltag, müssen wir als Partei stehen und den Menschen zeigen, dass wir es sind, die sie nicht im Stich lassen.

Allen Gewählten meiner Partei wünsche ich von Herzen die Kraft, sich in dieser neuen Situation zu behaupten. Den vielen Genossinnen und Genossen, die in den letzten Wochen und Monaten im Ehrenamt einen engagierten und tapferen Wahlkampf gestemmt haben, möchte ich zurufen: Ihr seid und bleibt Herz und Seele unserer Partei. Das sollten wir niemals – auch in schwierigen Zeit – nicht vergessen.

Und ja, der Wahltag kennt auch Gewinner, denen wir herzlich gratulieren sollten. Die SPD hat sich mit einem starken Ergebnis kraftvoll zurückgemeldet und die CDU nach 16 Jahren vom Spitzenplatz verdrängt. Deshalb übermittle ich hier in Thüringen ganz herzliche Glückwünsche an alle Gewählten, vor allem aber auch an die Neuen Frank Ullrich und Dr. Holger Becker, mit denen ich in der letzten Zeit bereits einiges erlebt habe. Seid starke Vertreter unserer Bürger in Berlin. Es ist gut zu wissen, dass jetzt auch mit diesen beiden ein frischer Wind aus Thüringen im Bundestag weht.

Zu der jetzt losgetretenen Debatte, ob man nicht ohne die SPD ein Bündnis schmieden sollte, hat mein sächsischer Kollege Michael Kretschmer (CDU) heute Morgen bereits alles gesagt indem er bemerkte, dass sich im Ergebnis eine klare Wechselstimmung gegen die Union gezeigt habe. Abgesehen davon würde eine Bündniskonstruktion, der ein geschwächter Wahlverlierer vorsteht, so meine Meinung, die Erosion unserer Parteienlandschaft möglicherweis gefährlich befeuern.

Was aber in diesen Zeiten wirklich angezeigt wäre – und da wiederhole ich mich gern: mehr Bürgerbeteiligung auf allen Ebenen. So können wir das poröse Band zwischen Wählern und Amts- bzw. Mandatsträgern wieder stärken und politischen Entscheidungen eine höhere Legitimität und damit auch Akzeptanz verschaffen. Um es im Sinne Willy Brandts zu sagen: „Wir sollten mehr Demokratie wagen.“

Der 26.09. markiert schon jetzt eine historische Zeitenwende. Zum einen endet die Ära Merkel und damit eine im Guten wie im Schlechten prägende Zeit für unser Land. Zum Anderen – wesentlich frappierender – zeichnet sich ab, dass die Zeit der großen „Volksparteien“ (vorerst?!) vorbei ist. In Frankreich und Italien sind derartige Entwicklungen bereits vor Jahrzehnten zu beobachten gewesen.

Ein weiteres Novum: Zum ersten Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte besprechen sich zuerst die zwei kleineren Parteien, welchen größeren Partner sie sich auserwählen wollen. Die Demokratie gerät in Bewegung und das muss nichts Schlechtes bedeuten. Wir sollten alle den Mut haben, jetzt die alte Bundesrepublik und ihre ritualisierten Verknöcherungen hinter uns zu lassen, Ost und West noch stärker zusammenzubringen, aber auch die Kommunikation und die Interaktionn zwischen Oben und Unten neu zu denken. Deshalb gilt heute mehr denn je das Thüringer Motto der kommenden Bundesratspräsidentschaft: „Zusammen wachsen – Zusammenwachsen!“