Zwischen Vergangenheit und Zukunft

Bereits in meinen vergangenen Tagebuch-Einträgen habe ich verschiedentlich darauf aufmerksam gemacht, in welch großem Maß das Jahr 2021 angereichert ist mit historischen Jahres- und Gedenktagen. Mein Blick fällt dabei besonders auf den 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion einer- sowie den 60. Jahrestag des Mauerbaus andererseits. Beide Daten – der 22. Juni 1941 sowie der 13. August 1961 – markieren auf natürlich sehr verschiedene, aber dennoch einschneidende Weise für viele Millionen Menschen in Deutschland, Europa und der Welt katastrophale Wendepunkte ihres Lebens. Die Dimension beider Vorgänge kann nur der in ihrer ganzen Tragweite begreifen, der versteht, dass hinter einem Wortpaar wie „Millionen Menschen“ immer wieder ein ganz konkretes Leben steht – ein Mensch, egal, ob glücklich oder traurig, jung oder alt, wohlhabend oder arm. Viele dieser Leben wurden ausgelöscht, durften nicht zu Ende gelebt werden. Ihrer Erinnerung fühle ich mich und muss sich eine demokratische Gesellschaft insgesamt verpflichtet fühlen.

In den zurückliegenden Wochen habe ich sowohl in der Gedenkstätte Buchenwald als auch am Ehrenhain auf dem Erfurter Hauptfriedhof des Überfalls auf die Sowjetunion gedacht. Verantwortungsvoll die gemeinsame Vergangenheit annehmen, sie als Auftrag zu begreifen und nicht als lästige Pflichtübung fordert uns alle immer wieder zu ganz individuellen Spurensuchen auf. Das 20. Jahrhundert und seine Verbrechen haben sich tief in Regionen, Gedächtnisse, aber auch ganze Familienbiografien eingebrannt.

Mehrere dieser Spurensuchen – dieses Mal mit Blick auf den Mauerbau 1961 sowie die deutsche Teilung insgesamt – habe ich in der letzten und vorletzten Woche unternommen. Am 11. Juli unternahm ich gemeinsam mit Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier sowie Hessens Ministerpräsidenten Volker Bouffier eine Grenzwanderung auf den Heldrastein und nach Großburschla. Dort verlief über 40 Jahre lang die innerdeutsche Grenze zwischen BRD und DDR und trennte viele Familien und Freunde. Der globale Konflikt zwischen Ost und West – der sog. „Kalte Krieg“ – wurde hier für viele Bewohnerinnen und Bewohner im sonst so ruhigen und beschaulichen Grenzland zwischen Hessen und Thüringen bedrückende Realität. Nur mit Sondergenehmigung durften DDR-Bürger Großburschla betreten, das wie ein riesiger Hochsicherheitskomplex bewacht wurde.

Am 15. Juli schließlich traf ich mich mit einer Gruppe von Schülern sowie den Landräten der Landkreise Hof (Herr Bär, CSU) und Saale-Orla (Herr Fügmann, CDU) in der Gedenkstätte Mödlareuth zu einer Wanderung und einem Zeitzeugengespräch. Auch Mödlareuth – gelegen zwischen Bayern, Sachsen und Thüringen – bildete zwischen 1949 und 1990 einen der sensibelsten Grenzabschnitte zwischen DDR und BRD. In der nach 1990 eingerichteten Gedenkstätte konnten wir im Anschluss mit der Zeitzeugin Sabine Popp ein Gespräch führen, das mich ganz persönlich tief berührt und getroffen hat. Frau Popp wurde in Reichenbach im Vogtland geboren und durfte als Tochter selbstständiger Gärtnereibesitzer in der DDR nicht studieren. Ihre Ablehnung des DDR-Grenzregimes dokumentierte sie unter anderem, indem sie Losungen wie „Mauer weg“ an Wände sprühte. Dafür wurde sie als nur 19-jährige vom Arbeitsplatz weg verhaftet, in ein MfS-Untersuchungsgefängnis gesperrt und im November 1980 wegen sogenannter „staatsfeindlicher Hetze“ zu drei Jahren Haft im berüchtigten Frauengefängnis Hoheneck verurteilt. Nach mehr als zwei Jahren des Eingesperrt-Seins wurde sie von der Bundesrepublik freigekauft und konnte im Westen endlich das tun, was ihr in der DDR verwehrt war– ihr Fachabitur nachholen und in Hessen Innenarchitektur studieren. Frau Popp und ich sind ungefähr gleich alt und uns – wie wir im Gespräch feststellten – zur gleichen Zeit in Gießen sehr nah gewesen. Sie wurde im Gießener Aufnahmelager untergebracht und daran fuhr ich jeden Morgen zu meiner Arbeit vorbei. Unsere Wege hätten sich also treffen können. Der Gedanke, dass sich die Lebenswege zweier Menschen mit so unterschiedlichen Erfahrungen dann doch an einer Stelle wenigstens geographisch fast berührten, ist für mich frappierend. Das Leid und die Erfahrung der Ohnmacht und erlittenen Willkür müssen Teil einer gesamtdeutschen Erinnerungskultur sein.

Jenseits dieser wichtigen Erinnerungsarbeit konnte ich am 15. Juli am gemeinsamen Jahresempfang der Städte Reichenbach und Netzschkau im Vogtland am Fuße der Göltzschtalbrücke mit meinem sächsischen Amtskollegen Michael Kretschmer teilnehmen. Die Göltzschtalbrücke – bestehend aus 26 Millionen Ziegelsteinen – ist  die weltweit größte Brücke ihrer Art und gleichzeitig eines der Wahrzeichen des Vogtlandes. Sie steht nicht nur für die herausragende Ingenieurskunst thüringisch-sächsischer Prägung, sondern vor allem auch für das Verbindende einer thüringisch-sächsischen Landschaft, die unsere beiden Bundesländer über Verwaltungsgrenzen hinaus zusammenbindet. Der Stadt Reichenbach habe ich vor Ort alles Gute für den nächsten großen Schritt – den Antrag auf Aufnahme der Brücke ins UNESCO-Weltkulturerbe-Programm – gewünscht. Mir hat dieser Tag wieder einmal deutlich vor Augen geführt, welch reichhaltige kulturelle Vielfalt das Vogtland zu bieten hat – denn die endet keineswegs bei der Göltzschtalbrücke, sondern umfasst vielmehr auch solche großartigen städtebaulichen Kunstwerke wie Greiz, Weida und Plauen. Nicht zuletzt denke ich natürlich auch an das Raumfahrtmuseum in Morgenröthe-Rautenkranz oder die lange Tradition des Instrumentenbaus in Klingenthal. Hier haben wir ein derartiges – auch gerade touristisches – Potenzial vor uns, das förmlich danach ruft, gemeinsam ideal vermarktet zu werden.

Bereits Mitte vergangener Woche erreichten uns erstmals die schrecklichen Bilder aus Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Die Flutkatastrophe und die vielen Toten bewegen ganz Deutschland. Ich habe mich schon am späten Abend des 13. Juli umfassend von meinem Büro über die drohende Lage in Thüringen unterrichten lassen – zum einen, um die Pegelstände oberhalb unserer Talsperren zu überprüfen, zum anderen natürlich auch, um sicherzustellen, dass dieselben sowie unsere Deiche, Dämme etc. den Starkregen überstehen.

Die Situation in NRW und RLP ruft in mir ganz persönliche Erinnerungen an ein ähnliches Ereignis – die Hamburger Sturmflut vom 16.02.1962 – hervor, das ich selbst miterleben musste. Auch, wenn das individuelle Leid nicht von anderen einfach nachgespürt werden kann – ich weiß, was viele Menschen gerade durchleiden müssen. Die Zahl der Toten und derjenigen, die ihr gesamtes Hab und Gut von heute auf morgen verloren haben, ist einfach erschütternd. Umso wichtiger ist es, dass schon viele Thüringer mithelfen und solidarisch sind – Haupt- und Ehrenamtliche gleichermaßen – ausgerüstet mit der notwendigen Technik. Ich bin ihnen allen zu tiefem Dank verpflichtet.

Und ja:  Am Freitag sind die Weichen für die Zukunft der Thüringer Landespolitik neu gestellt worden. Die Auflösung des Thüringer Landtages war ursprünglich für den 19.07. angepeilt. Ich habe dieses Vorgehen immer und mit Nachdruck – sowohl öffentlich als Ministerpräsident als auch in der Fraktion als Abgeordneter – verteidigt, befürwortet und aktiv unterstützt. Nun soll es anderes kommen. Der Landtag wird nicht aufgelöst. Es werden damit große Herausforderungen auf alle demokratischen Fraktionen des Thüringer Landtages, natürlich aber auch auf die Landesregierung zukommen. Sich ihnen zum Wohle des Freistaates zu stellen ist unser aller Verpflichtung. Vernunft muss hier Parteibuch stechen. Die Vernunft ist dabei das eine. Es gab aber am Freitagmorgen für mich auch eine besonders emotionale Komponente, bei der Entscheidung den Auflösungsantrag zurückzuziehen. Eine unserer Abgeordneten liegt gegenwärtig mit schweren Verletzungen im Krankenhaus. Sie bei Inkaufnahme einer Gefährdung ihrer Gesundheit am Montag in den Landtag zur Abstimmung zu transportieren, hätte ich nicht vertreten können. Eine ähnliche Situation gab es vor Jahren bereits einmal im Kontext einer Kampfabstimmung im Thüringer Landtag. Ein LINKE- und ein SPD-MdL mussten ebenfalls aus dem Krankenhaus eingefahren werden, unter permanenter Beobachtung von Notärzten. Diese Situation empfand ich als so unerträglich, dass ich mir geschworen habe, so etwas nicht noch einmal erleben zu müssen. Politik und Moral stehen in einem steten Spannungsfeld zueinander. Dabei sollte man sich immer wieder neu befragen, wo das eine rechtmäßigerweise zu beginnen und das andere zu enden hat.

Vor uns liegt eine in mancherlei Hinsicht offene Zukunft mit Unwägbarkeiten, aber auch mit Menschen, die willens und in der Lage sind und sein müssen, nicht vor ihr zurückzuschrecken, sondern sie zu gestalten. Demokraten müssen sich jetzt die Hand reichen – auch über Gräben hinweg. Wir haben nur diese eine Demokratie. Beweisen wir, dass ihr Schutz mit und im Interesse aller Menschen in Thüringen unser oberstes Ziel ist. Dafür stehe ich. Jetzt und in Zukunft.