Missverständnisse über eine lange Nase – Landolf Scherzer zum Achtzigsten

Ein von mir hochgeschätzter Literat wird 80 Jahre alt. Viel wäre über Landolf Scherzer zu sagen. Wollte man ausführlich über ihn oder seine Eigenschaften referieren, ergäbe sich am Ende das Bild eines im Weber’schen Sinne idealtypischen Autors und Intellektuellen.  Doch ich weiß, dass Landolf wenig Wert auf übermäßig viel Pathos dieser Art legt. Deshalb möchte ich bei meiner Würdigung nah am Menschen Scherzer bleiben, dessen Lebensweg sich mit meinem an vielen Stellen kreuzte.

Ich lernte den Jubilar in den 1990er-Jahren bei einigen seiner Lesungen kennen und schätzen. Insbesondere in der Zeit, in der wir an der Erfurter Erklärung arbeiteten, um im – in vielerlei Hinsicht bleiernen – Nachwendejahrzehnt eine solidarische, ökologische und gerechte politische Alternative auf den Weg zu bringen, war Landolf Scherzer öfter ein kritischer und konstruktiver Diskussionsteilnehmer. Meine ganz persönliche Geschichte ist über mehrere seiner wichtigen Bücher mit dem Wirken von Landolf Scherzer verbunden. In seiner 1988 erschienenen und heiß diskutierten Monographie „Der Erste“ begleitete er den letzten SED-Kreissekretär von Bad Salzungen, Hans-Dieter Fritschler, durch eine stürmische Zeit – und lieferte erstmals eine ungefilterte Innenansicht auf den Parteiapparat der SED. Jener Funktionär, Hans-Dieter Fritschler, sollte im Jahr 1999 mein Wahlkampfleiter werden als ich mich das erste Mal um ein Landtagsmandat in Thüringen bewarb.

Wenige Jahre nach „Der Erste“ – die Mauer war gefallen und ich als Gewerkschafter in Thüringen angekommen – folgte die literarische Fortsetzung mit – ein klassisches Scherzer’sches Stilmittel – „Der Zweite“. Geographisch beschäftigte sich der Band mit derselben Region – nur mit anderen Personen und unter völlig neuen geopolitischen Voraussetzungen. Hauptakteur war dieses Mal der letzte Landrat des Kreises Bad Salzungen vor der Kreisgebietsreform (1992-1994) Stefan Baldus. Mit eben jenem Politiker legte ich mich im Jahr 1999 heftig an. Als Geschäftsführer einer landesmittelbaren Gesellschaft war er nach meinem Dafürhalten nicht korrekt mit Fördermitteln umgegangen. Als Politik-Frischling stach ich durch meinen Kampf für Transparenz in ein Wespennest und hatte in diesem Kontext gleich mehrere Gerichtsverfahren von Herrn Baldus – mit dem ich mich heute übrigens gut verstehe – zu absolvieren. Zwei Figuren aus Landolf Scherzers Texten begleiteten also den frischen Abgeordneten Bodo Ramelow auf ganz unterschiedliche, aber umso prägendere Weise.

Zu Landolfs und meiner geteilten Geschichte gehören sodann die Stunden, die wir in Gespräche versunken im Landtag miteinander verbrachten. Ich erinnere mich noch gut an den – beständig in seinem Kaffee rührenden – Landtagskorrespondenten, der hoch interessiert nachfragte, was dieser Abgeordnete, den sie „Mr. Internet“ nannten, mit dem neuen Medium anstellte. Landolf verstand es schon damals meisterhaft, durch pointiertes Nachfragen einer Sache nicht nur für Lesende auf den Grund zu gehen, sondern auch dem Befragten gänzlich neue Perspektiven auf sich selbst und sein eigenes Tun zu eröffnen.

Und wie ich schon der „Der Erste“ und „Der Zweite“ bei mir bestimmte Assoziationen weckten, verbinde ich auch mit seinem dritten Buch, „Der Letzte“, eine besondere Erinnerung. In dem Text – dessen Titel darauf verweist, dass Landolf Scherzer der letzte registrierte Landtagskorrespondent in Erfurt wurde – verglich mich der Literat in seiner so singulären Sprache mit Pinocchio. Und es kam, wie es kommen musste: Ich dachte bei der Geschichte von Pinocchio als Westdeutscher natürlich unmittelbar an die Nase, die jedes Mal ein Stück länger wurde, wenn die kleine Puppe log. Als ich Landolf verärgert auf diesen Vergleich ansprach, erwiderte er etwas ungehalten, dass Pinocchio nicht nur eine lange Nase, sondern auch ein unfassbar fesselndes und faszinierendes Leuchten in den Augen hätte – gerade dann, wenn er wieder etwas im Schilde führte. Genau dieses Attribut habe er mit mir verknüpft. Mit diesem Gedanken konnte ich mich natürlich schnell anfreunden.

Episoden wie die oben geschilderte weisen den Jubilar einmal mehr als einen scharfsinnigen Beobachter aus, der seinen Lesern nie einfach zugänglich sein wollte. Er forderte sie zum Mitdenken auf, allerdings nie in dem Sinne, dass er mit einer gedrechselten und voraussetzungsvollen Sprache von Vornherein bestimmte Lesergruppen ausgeschlossen hätte. Wenn er schrieb, wollte er immer das Publikum an seinem Denkprozess teilhaben lassen oder gar gemeinsam mit ihm neue Horizonte erschließen.

Letzteres – das Erschließen neuer Horizonte – wagte Landolf noch einmal mit seinem Band „Der Rote“, in dem er mich als ersten linken Ministerpräsidenten Deutschlands in meinen ersten Wochen im Amt begleitete.

Das große Wegstück, das Landolf Scherzer und ich miteinander gegangen sind, steht nicht nur für die Verbundenheit zwischen zwei Menschen. Es steht gleichermaßen für einen wichtigen Ausschnitt der Thüringer Landesgeschichte, den wir gemeinsam durchschritten, und ja, manchmal auch durchlitten haben.

Es ist mir daher eine umso größere Freude, dir, lieber Landolf, von Herzen alles Gute für das neue Lebensjahrzehnt zu wünschen. Ich freue mich auf weitere intellektuelle Wanderungen mit dir – egal, ob beim Kochen, beim Schreiben oder beim Denken!