Von Ursachen, Wirkungen und Assoziationen

Es gibt Tage, die einen nur verwundert und erstaunt zurücklassen. Gerade in der nach wie vor anhaltenden Pandemielage, in der unser aller Nerven mit gutem Recht über alle Maße strapaziert sind, gelange auch ich häufiger in solche Situationen. Wo ökonomische Existenzen und die Gesundheit der Lieben infrage gestellt sind, ist es menschlich und nur allzu verständlich, dass man einmal ungerecht oder auch wütend wird. In der laufenden Woche allerdings durfte ich einen Fall erleben, den ich so doch zumindest nicht unmittelbar für denkbar gehalten hätte.

Was war geschehen? Aus Frust oder Wut hatte ein Südthüringer Gastronom an einem Haus eine Puppe erhängt. Der Strang wiederum war mit einem Plakat verbunden. Auf ihm zu sehen waren neben meiner Wenigkeit die Bundeskanzlerin sowie andere Politiker nebst des Wortes „Lügenpresse“ etc. Auf einem enthaltenen Foto der Collage trugen die Bundeskanzlerin und zwei ihrer Kollegen Tafeln vor sich, aus denen sich das Wort „Tod“ ergab. Die gesamte Szenerie weckte in mir düstere Erinnerungen. Schon einmal baumelte in Thüringen eine Puppe: von einer Autobahnbrücke in den 1990er Jahren – aufgehängt vom späteren NSU. In einem Kommentar bei Facebook – im Übrigen unter einem Repost mit ganz anderem Bezug (nämlich dem RKI Dashboard) – habe ich mit folgenden Worten versucht, meinem unguten Gefühl Ausdruck zu verleihen:

„[…] Aber in Thüringen sollte man jedenfalls mit >aufgehängten Puppen< vorsichtig sein. Auch die Täter vom NSU haben damals in Jena die gleiche Symbolik benutzt und die Stoffpuppe von einer Brücke über der Autobahn baumeln lassen.“

Dass sich jemand, der lange Jahre mit den Mordtaten des NSU befasst war und überdies seine eigenen beängstigenden Erfahrungen mit ihm gemacht hat, deshalb bei aufgeknüpften Puppen (,die jenseits des Thüringer Falles auch in genau derselben Aufmachung bei Pegida und anderswo vorkamen) an Ungutes erinnert fühlt, kann man möglicherweise nachvollziehen.

In einer Südthüringer Zeitung erschien kurze Zeit später unter der Schlagzeile „Corona und die Nazis“ ein Leitartikel, der sich mit dem Fall des Gastronomen und meiner Positionierung auseinandersetzte. In ihm vertrat der Autor den Standpunkt ich würde als Ministerpräsident ungerechtfertigter Weise die „Nazi-Keule“ schwingen, weil ich angeblich „[…]wenig Lust auf die Auseinandersetzung mit jenen[…]“ hätte, „[…] denen die wirtschaftliche Existenz und die Altersvorsorge flöten geht.“

Überhaupt sei meine Puppen-Assoziation falsch, da die Puppe nicht etwa aufgehängte Politiker etc. zeige, sondern einen Selbstmörder, den die angespannte wirtschaftliche Situation in den Suizid getrieben habe. Diese Deutung verband der Journalist mit dem Ratschlag an mich:

„Statt Nazikeulen zu schwingen, sollten hiesige Politiker in so einen Kreuzzug ziehen- gegen Corona, nicht gegen die Kritiker.“

Der Leitartikler hat zu keinem Zeitpunkt den Versuch unternommen, mit mir über meinen Kommentar ins Gespräch zu kommen, sondern hat ohne jede Rückfrage meinen Text aus dem Kontext gerissen und in der Form entstellt. Da ist die Rede von Waffen, die ungleich verteilt seien, von Nazikeulen und einer wirtschaftlichen Lage, die den Betroffenen in den Suizid zu treiben drohe.

Kreuzzüge, Waffen, Keulen und erzwungene Suizide sind in einer Reihung mit meinem Namen verbunden worden. Jene Verkettung basiert allerdings lediglich auf der Wahrnehmung des Autors zu meinem Kommentar. Ich empfinde diese gewaltgeladene Sprache – zumal in einem Qualitätsmedium – als höchst befremdlich. Auch die freundlich gesagt gewagte Neujustierung von Ursachen und Wirkungen kann ich nicht als akzeptabel bezeichnen. Nicht ich habe vor mein Haus eine erhängte Puppe nebst Plakat drapiert, auf dem neben Verunglimpfungen von Frau Merkel im rechten Spektrum bekannte Begrifflichkeiten wie „Lügenpresse“ abgedruckt waren.

Überdies muss ich feststellen, dass der Autor des Artikels offenbar zweierlei Maß angelegt hat. Denn warum er meine – für ihn offenkundig wenigstens missverständliche – Meinung in sehr scharfer Form attackierte, über die Doppeldeutigkeit der Puppen-Installation allerdings sehr nonchalant mit der Bemerkung hinweg ging, diese sei zwar eher geschmacklos, aber Geschmacksfragen würden in der schwierigen Gegenwart auch nicht zählen, bleibt wohl sein Geheimnis. Und der geneigte Leser fragt sich außerdem, warum kein Wort erwähnt wird von den Schikanen, denen die Sonneberger Feuerwehr ausgesetzt war, die die Puppe abhing. Der Bürgermeister sprach gar von Hetzjagden.

Nun ist es zweifelsohne so, dass die Interpretation einer bestimmten Situation immer von der je spezifischen Sozialisation des Deutenden abhängt. Der Leitartikler urteilt allerdings nach meinem Dafürhalten ohne Maß und Mitte. Wollte er eine ausgewogene Meinungsbildung zulassen, hätte er mindestens die verschiedenen Deutungsmöglichkeiten vor den Lesenden ausbreiten müssen. Nach Maß und Mitte gehört allerdings auch die Installation selbst beurteilt Deshalb muss ich sehr deutlich sagen, dass ein erhängter Puppentorso mit all dem symbolischen Ballast, der in so einer Darstellung schlummert, kaum angemessen ist, wenn man bedenkt, dass der Gastronom selbst die Novemberhilfe erhielt, die für ihn eine pauschale Entschädigung darstellt.

Und ein sehr prinzipieller Einwand sei mir ebenfalls gestattet: Der journalistische Kommentator insinuiert, ich – der unanständig agierende Ministerpräsident – habe einen kleinen Gastwirt in unverschämter Weise verhöhnt. Das Empörungspotenzial seines Beitrages schöpft gewissermaßen vorrangig aus dem aufgebauten Gegensatz zwischen Goliath (Ministerpräsident) und David (Gastronom).

Allerdings – und das scheint mir zentral zu sein – habe ich meinen Kommentar nicht als Ministerpräsident, sondern als Privatperson Bodo Ramelow von meinem explizit privaten Facebook-Account aus getätigt – zu diesem gesamtem Themenkomplex existiert im Übrigen auch ein Urteil des Verwaltungsgerichtes Weimar.

Deshalb gilt: Ja, ich habe eine Puppeninstallation kritisiert und mir als Privatperson etwas erlaubt, was jedem Menschen – egal ob Gastwirt, Journalist etc. – zusteht: eine eigene Meinung.